Suchbewegungen in der Demokratie: Zur Schlüsselrolle der Mehrsprachigkeit
von Andrés Otálvaro & Franz Kaiser • Artikel im ZMI Magazin 2024, S. 17
Die Lebensversicherung jeder Art ist Vielfalt.
Nur sie garantiert das Überleben (Isabel Allende)
Wer kennt sie nicht, die Sage vom Turmbau zu Babel? Die im ‚christlichen Abendland‘ dominante Lesart von Gen 11 lautet in aller Kürze: Die Menschheit ist hochmütig und versucht Gott gleichzukommen, indem sie einen Turm erbaut, der bis zum Himmel reicht. Dieser Selbstüberhöhung bereitet Gott ein gewaltfreies Ende, indem er die Kommunikationsketten der Menschen untereinander mittels Sprachverwirrung durchbricht. Diese Gottesstrafe bringt nicht nur das Turmbauprojekt zum Stillstand, sondern führt zu einer Zerstreuung der Menschheit über den gesamten Erdball.
Ist diese Lesart heute noch haltbar?
Gestützt auf Befunde von Geschichtsforschung und Alt-Orientalistik ist die imperiale Lebensweise Babylons inzwischen robust erforscht. Und dank der Epigraphik wissen wir heute auch, dass sich Imperien schon in jener Zeit einer gezielten Sprachpolitik bedienten, um mittels einer Ein-Sprach-Politik insbesondere unter den unterdrückten Sklavenvölkern hegemoniale Interessen durchzusetzen. Die dominante Lesart von Gen11 erscheint damit als eine mögliche, aber nicht als die historisch zutreffendere. Vielmehr zwingt das heute vorliegende Wissen um den damaligen Kontext dazu, diesen Text anders zu lesen sowie seine jahrhundertealte Rezeptionsgeschichte zu hinterfragen. Denn im Lichte dieser Erkenntnisse drängt sich die Sprachverwirrung nicht als ‚Gottesstrafe‘, sondern genau umgekehrt als die ‚gottgewollte Normalität‘ angesichts der monolingualen Sprachpolitik des babylonischen Imperiums auf: Mehrsprachigkeit befreit von der tyrannischen Herrschaft.
Und was hat diese alttestamentliche Sage hier und jetzt mit uns zu tun?
Sprachen sind für Gesellschaften konstitutiv, da sie nicht nur Kommunikationskanal oder Denkwerkzeug, sondern soziale Praxis par excellence sind. Mit, in und durch Sprachen entsteht erst das, was wir gemeinhin als Gesellschaft bezeichnen. Deshalb sind Sprachen für die Demokratie so wesentlich und deshalb lässt sich im Grundgesetz kein Artikel finden, der die Bevölkerung zwingt, einsprachig zu handeln. Vielmehr finden wir hier und jetzt in Deutschland gesetzliche Vorgaben gegen sprachliche Diskriminierung, d. h. kein Mensch darf aufgrund seiner Sprachen benachteiligt werden. Einsprachigkeit ist nicht nur linguistisch eine Fiktion, sondern für eine Demokratie zutiefst schädlich, da sie der Vielsprachigkeit, d. h. einer polyphonen und mehrperspektivischen Weltdeutung, widerstrebt. Dies ist im deutschen Grundgesetz verfassungsrechtlich verbrieft.
Mehrsprachigkeit in düsteren Zeiten
Es ist indes geboten, zwischen individueller und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit und ebenso zwischen ihrer Genese (territorial, migrationsbedingt, …) und Funktion (ökonomisch, politisch, kulturell, …) in der jeweiligen Gesellschaft zu unterscheiden. Genauso wichtig ist es, das Sprach(en)regime der jeweiligen Gesellschaft in den Blick zu nehmen, um sich bewusst zu werden, welche Sprach(en)politik insgesamt verfolgt wird (vgl. Oeter 2022): Wie geht die Gesellschaft mit Sprach(en)rechten von Minderheiten um? Welche Sprach(en)praktiken verschaffen sich mit welchen Ideologien in der Öffentlichkeit welche Geltung? Welcher Zusammenhang besteht z. B. zwischen einer zunehmenden Sprachverrohung und einer weltweiten Sprachgewalt (Trumpism, Πγτинизм, bolsonarismo, Erdoğanizm, 习近平主义,
Orbanismus, …)? Die gegenwärtige, erdumspannende Zunahme autoritären Denkens manifestiert sich auch in Formen hasserfüllter Rhetorik und linguizistischer Sprachdynamiken, die in den letzten drei Jahrzehnten global salonfähiger wurden. Die Verhaltensmuster von einzelnen wie von Gruppen kommen eben nicht ohne symbolische Ordnungen aus, weswegen ‚unsere‘ Welt nur erfahrbar und gestaltbar wird, wenn wir ihr fortwährend Bedeutung verleihen. Dies ist letztlich nur mit, in und durch Sprachen möglich. In diesem Zusammenhang können multiple Sprachkontakte dazu verhelfen, für die gesellschaftliche Macht von Sprachen zu sensibilisieren, (Sprach-)Grenzen zu überwinden, Gruppenzugehörigkeiten kritisch zu reflektieren.
Eine vielsprachige Demokratie
Mehrsprachigkeit und Migration sind eng miteinander verknüpft. Da sich Deutschland vor dem Jahr 2000 politisch und soziokulturell nicht als Einwanderungsland verstand, wurde die Mehrsprachigkeit auch nicht als ein Alleinstellungsmerkmal dieses Landes wahrgenommen: „In Deutschland wird Deutsch gesprochen“ lautete der Kanon. Tatsächlich wurde Migration lange Zeit als Ausnahme gesehen (vgl. Plampler 2019, 7-51; Schwenken 2018, 10-36) und damit auch Mehrsprachigkeit als eine Abweichung von der dominierenden (Amts-)Sprache Deutsch empfunden.
In den letzten 20 Jahren hat sich das Panorama von Migration und Mehrsprachigkeit in Deutschland jedoch erheblich gewandelt. Die beiden Realitäten sind nicht mehr wegzudenken. Der Alltag und die Demographie vor allem in deutschen Großstädten sind mittlerweile weitgehend von Migration geprägt und die Trends deuten auf eine zukünftige Gesellschaft der Vielfalt und der Mehrsprachigkeit hin. Offiziellen Statistiken zufolge hat mehr als ein Viertel der Bevölkerung eine Migrationsgeschichte bzw. einen Migrationshintergrund (vgl. Statistisches Bundesamt 2023) und bei jüngeren Generationen ist dieser Anteil noch höher und steigend. Diese rasche und unausweichliche Transformation erfolgt im Kontext des Postmigrationsprozesses (vgl. Foroutan 2018, 15-28; Rupnow 2018, 29-42). In diesem Zusammenhang werden Migration und Mehrsprachigkeit immer mehr zur ‚Normalität‘. Es gibt eine klare Verschiebung von einem elitären Mehrsprachigkeitsverständnis, bei dem nur eine begrenzte Gruppe aufgrund von Förderungen oder eigenen finanziellen Ressourcen Zugang zur globalen Mobilität und einer kosmopolitischen Weltanschauung hat, hin zu einer lebensweltlichen, d. h. für alle Menschen relevanten multilingualen Kommunikation. Dieses Verständnis weist auf eine klare basisdemokratische Sprachkultur hin, die sich jedoch täglich mit vehementen Gegner:innen der offenen Gesellschaft auseinandersetzen muss.
HINTERGRUND: Postmigrantische Suchbewegungen
Die postmigrantische Perspektive auf Deutschland als Einwanderungsgesellschaft impliziert ein lebensweltliches Mehrsprachigkeitsverständnis, das anhand der folgenden Suchbewegungen skizziert werden soll. Suchbewegung in Richtung:
1.) Sprachenvielfalt als ‚Normalität‘ in allen Handlungsfeldern.
Die Bundesregierung erklärte vor 2000 offiziell, Deutschland sei „kein Einwanderungsland“ (Hoesch und Harbig 2019). Erst seit 2005 bezeichnet sie es im Zuwanderungsgesetz als das, was es historisch und demographisch längst ist. In einem staatlich anerkannten Einwanderungsland treffen jeden Tag vielfältige Sprachen aufeinander: Das ist nicht nur real, sondern auch normal. Genauso wie diese Sprachen sind auch die Menschen mit ihren kulturellen Hintergründen, die sie sprachlich erzeugen, real und normal.
2.) Institutionell verankerte Vermittlung bildungssprachlicher Kompetenzen in allen Individualsprachen.
Die Wechselbeziehung zwischen gesellschaftlichen und sprachlichen Verhältnissen ergibt sich in Deutschland aus dem „Selbstentwurf des modernen Nationalstaats“ (Maas 2008) und aus dem Ziel, eine „sprachliche[n] Homogenität“ (ebd.) im Dienste der sog. nationalen Identität zu etablieren (vgl. Schneider 2023). In Deutschland tun sich staatliche (Bildungs-)Einrichtungen immer noch schwer, ihren monolingualen Habitus samt kulturalisierender Defizitperspektive abzulegen. Dabei ist wissenschaftlich hinlänglich belegt worden, dass für die Sicherstellung der gesellschaftlichen Teilhabe eine fluide mehrsprachige Kommunikation und v. a. die Beherrschung einer mühsam zu erwerbenden Kulturtechnik, der Schriftsprachlichkeit, zwingend erforderlich ist.
3.) Förderung der Mehrsprachigkeit als Förderung der Menschenwürde.
Für eine Einwanderungsgesellschaft, die sich als eine die Menschenwürde achtende Demokratie versteht, stellt die lebensweltliche Mehrsprachigkeit den zu fördernden Normalfall dar. Konkretisiert wird dies gefördert durch die Schaffung, Etablierung und dauerhafte Pflege von vielfältigen sowie vielschichtigen mehrsprachigen Räumen: Anstelle des Primats einer Einsprachigkeit steht die alltagsrelevante Koexistenz von pluralen Stimmen und multiplen Sprachen. Im heutigen Verständnis der Menschenwürde wird die Frage der Sprachen und der Mehrsprachigkeit auch als eine Frage der Menschenrechte betrachtet und aktiv verteidigt (vgl. Gesellschaft für bedrohte Völker e. V. (GfbV) 2019). Sprachliche Rechte sind untrennbar mit sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Rechten verbunden.
4.) Mehrsprachigkeit als demokratisches Szenario, das (neo-)kolonialen Traditionen widerspricht (vgl. Gülbeyaz 2023) und eine rassismuskritische Demokratie verfolgt.
Im Rahmen der Postmigration wird Mehrsprachigkeit als alltägliche Möglichkeit des Dialogs, des Aushandelns und der Verständigung zwischen Menschen verschiedener Herkunft auf Augenhöhe betrachtet. Dies eröffnet eine neue Perspektive auf die Einwanderungsgesellschaft, in der die herkömmlichen Unterscheidungen zwischen Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte oder -hintergrund in Frage gestellt und sogar aufgelöst werden. Historisch gesehen wurden nicht-hegemoniale Sprachen wie Türkisch oder Arabisch in Anlehnung an das hegemoniale Sprachverständnis im Rahmen der europäischen Nationalstaatsbildung oft als sekundär und defizitär dargestellt. Das Verbot, diese Sprachen auf bestimmten Schulhöfen zu sprechen, stellt ein Negativbeispiel dar (vgl. Purkarthofer und Schroeder 2023). Die Objektivierung des Anderen hat historische Realitäten des ‚Othering‘, des Rassismus und der Grenzregime geschaffen (Castro Varela 2018, 6-14). Aus der postmigrantischen Sichtweise heraus werden die Sprachen der Menschen mit internationaler Familiengeschichte nicht mehr als Defizit oder gar Bedrohung wahrgenommen, sondern als Teil des Alltags, als Kompetenz und Ressource (vgl. Jantz, Mwizerwa und Biank 2018).
5.) Neuausrichtung migrantischer Organisationen, die „unverzichtbar mehrsprachig“ (Otálvaro 2019) sind.
In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die Landschaft der migrantischen Organisationen (MO) in Deutschland tiefgreifend verändert und vielfältiger gestaltet. Es ist daher angemessen, von einer neuen Art von MO zu sprechen, die sich neben den traditionellen staatlichen und zivilgesellschaftlichen (insbesondere wohlfahrtsstaatlichen) Institutionen im Bereich Migration, aber insbesondere der Teilhabe- und Mehrsprachigkeitsförderung, präsentieren und positionieren (vgl. Kosan und Kruse 2023, 101-109). Viele MO sind heute eher säkular, kulturübergreifend und begrüßen nicht ausschließlich bestimmte geschlossene Gemeinschaften, sondern eine Vielzahl von Menschen und Herkünften. Ein herausragendes Beispiel in diesem Zusammenhang ist die bundesweite Rolle der Bundeskonferenz der Migrant:innenorganisationen (BKMO) sowie des Bundesverbands NeMO (Netzwerke von Migrant:innenorganisationen). Beide Organisationen vereinen eine breite Palette lokaler migrantischer Organisationen. MO dienen als polyphone Konvergenzräume für kooperative Zusammenarbeit, Ressourcenteilung und Plurikulturalität, wo Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichten bzw. -hintergrund neue Wurzeln schlagen, ihre Autonomie stärken und neue Selbstorganisationen entwickeln. Sie sind Orte des Empowerments und der Selbstermächtigung. Die Prämisse zur gleichberechtigten Teilhabe, die von neuen MO gefördert wird, lautet: MO und alle Menschen mit Migrationsgeschichte leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Mitgestaltung der demokratischen und solidarischen Einwanderungsgesellschaft.
Literaturauswahl
Bundesinstitut für Berufsbildung. 2021. „Datenreport, A12 Jugendliche mit Migrationshintergrund und junge Geflüchtete“. https://www.bibb.de/datenreport/de/2021/140530.php (zuletzt zugegriffen am 12.12.2023).
Castro Varela, Maria do Mar. 2018. “Migrant oder der ungezähmte Mann? Zur Kontinuität kolonialer Zuschreibungen“. In Projekt-Dokumentation. Irgendwie Hier! Flucht-Migration-Männlichkeiten. LAG Jungenarbeit NRW: 6-14.
Faroutan, Naika. 2018. „Die postmigrantische Perspektive: Aushandlungsprozesse in pluralen Gesellschaften“. In Postmigrantische Visionen. Erfahrungen – Ideen – Reflexionen, herausgegeben von Marc Hill und Erol Yildis, 15-28. Bielefeld: Transcript Verlag.
Gesellschaft für bedrohte Völker e.V. (GfbV). 2019. Sprache: ein Menschenrecht. Wie Indigene ihre bedrohten Sprachen verteidigen. Menschenreport Nr. 87. In: https://www.gfbv.de/fileadmin/redaktion/Reporte_Memoranden/2019/GfbV__Sprachenreport_finale_Version_Web.pdf (zuletzt zugegriffen am 25.10.2023).
Gülbeyaz, Esin Işıl. 2023. „Mehrsprachigkeit dekolonisieren – Sprachpolitik, mehrsprachige Bildung und soziale Gerechtigkeit“. Rat für Migration – Debatte. In: https://rat-fuer-migration.de/2023/10/17/mehrsprachigkeit-dekolonisieren-sprachpolitik-mehrsprachige-bildung-und-soziale-gerechtigkeit/ (zuletzt zugegriffen am 25.10.2023).
Koşan Ümit und Wilfried Kruse. 2023. „Migrantische Organisationen im Wandel: einige Hinweise“. In Engagementstrategien und Engagementpolitik, herausgegeben von Ansgar Klein, Rainer Sprengel und Johanna Neuling, 101-109. Jahrbuch Engagementpolitik 2023. Frankfurt/M: Wochenschauverlag.
Otálvaro, Andrés. 2019. „Mehrsprachigkeit ist für die Einwanderungsgesellschaft unverzichtbar“. In eNewsletter Wegweiser Bürgergesellschaft 07/ 2019. https://www.buergergesellschaft.de/fileadmin/pdf/gastbeitrag_otalvaro_190717.pdf (zuletzt zugegriffen am 25.10.2023).
Plampler, Jan. 2019. Das Neue Wir. Warum Migration dazu gehört. Eine andere Geschichte der Deutschen. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag.
Purkarthofer, Judith; Schroeder Christian. 2023. „Sprachen nach Bedarf statt Deutsch nach Vorschrift: Ein Plädoyer für einen pragmatischen Umgang mit Mehrsprachigkeit.“ Rat für Migration – Debatte. In: https://rat-fuer-migration.de/2023/07/03/sprachen-nach-bedarf-statt-deutsch-nach-vorschrift-ein-plaedoyer-fuer-einen-pragmatischen-umgang-mit-mehrsprachigkeit/ (zuletzt zugegriffen am 25.10.2023).
Rupnow, Dirk. 2018. „Wann war »die Post-Migration«? Denken über Zeiten und Grenzen.“ In Postmigrantische Visionen. Erfahrungen – Ideen – Reflexionen, herausgegeben von Marc Hill und Erol Yildis, 29-42. Bielefeld: Transcript Verlag.
Schneider Britta. 2023. „Zum Ende sprachlicher Gewissheit in digitaler Gesellschaft“. Rat für Migration – Debatte. In: https://rat-fuer-migration.de/2023/07/20/zum-ende-sprachlicher-gewissheit-in-digitaler-gesellschaft/ (zuletzt zugegriffen am 25.10.2023).
Statistisches Bundesamt 2023. „Mikrozensus – Bevölkerung nach Migrationshintergrund, Erstergebnisse 2022“. In: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Publikationen/Downloads-Migration/statistischer-bericht-migrationshintergrund-erst-2010220227005.html (zuletzt zugegriffen am 25.10.2023).