Mehrsprachige Sprachvorbilder in der postmigrantischen Gesellschaft
von Petr Frantik • Artikel im ZMI Magazin 2024, S. 14
Während meiner Schulzeit vor einigen Dekaden in einem kölsch-migrantischen Melting-Veedel konnte unser Lehrer:innenkollegium auf Englisch packend von Nordirlandreisen erzählen, auf Türkisch Schüler:innenaustausche nach Istanbul organisieren, auf Französisch vehement über Voltaire diskutieren, auf Deutsch Rugby-Regeln erläutern, als Hobby eine Spanisch-AG anbieten und natürlich inbrünstig kölsche Lieder singen. Unsere Lehrer:innen nutzten viele Sprachen und so nutzten wir Schüler:innen unsere noch viel zahlreicheren Sprachen noch viel häufiger. Das war für uns völlig normal. Erst nach meiner Schulzeit ging mir auf, dass dies an vielen anderen Schulen nicht die gelebte Normalität war, sondern wir uns glücklich schätzen konnten.
Allgemeine Überlegungen zum Begriff des Sprachvorbildes
Ausgehend von der obigen persönlichen Retrospektive sollen einige Gedanken darüber entfaltet werden, was der Begriff des Sprachvorbildes in der heutigen, zunehmend mehrsprachigen Gesellschaft allgemein bedeuten könnte. Begegnet einem der Begriff im Bildungskontext, so wird damit häufig ein Individuum gemeint, dass Schüler:innen die deutsche Sprache grammatikalisch richtig und mit perfekter Aussprache vorführt und hierdurch bildungssprachliche Kompetenzen fördert (vgl. beispielsweise Festman 2021). Dies ist ein wichtiger Bildungsauftrag der Schule und es muss selbstverständlich in jedem Lehrer:innenkollegium ausreichend Lehrkräfte geben, die die deutsche Sprache in diesem Sinne vorbildlich vermitteln können. Jedoch kann eine Engführung des Begriffs des Sprachvorbildes auf die deutsche Sprache dazu führen, dass viele weitere sprachliche Ressourcen von Lehrer:innen sowie Schüler:innen unberücksichtigt bleiben und in dieser Begriffsverwendung ein monolingualer Habitus wirkt, der immer noch bewusst oder unbewusst viele schulische Strukturen durchdringt. Es ist daher wichtig, den Begriff des Sprachvorbildes zu erweitern und neu zu denken.
Zum einen sollte man von einem rein monolingualen zu einem mehrsprachigen Verständnis des Sprachvorbildes gelangen. Für alle Schüler:innen kann es für die Ausbildung ihres gesamtsprachlichen Repertoires und ihrer metasprachlichen Kompetenzen vorteilhaft sein, von verschiedenen Lehrkräften mit unterschiedlichen Sprachprofilen unterrichtet zu werden. Zum anderen ist damit eine Erweiterung des Begriffs des Sprachvorbildes von einer einzelnen Lehrkraft auf ein ganzes Kollegium, in dem neben Deutsch auch weitere Sprachen beherrscht werden sollen, verbunden. Ein aus unterschiedlichen Individuen bestehendes Lehrer:innenkollektiv kann nicht nur verschiedene Sprachen vermitteln, sondern darüber hinaus Vorbild sein für einen respektvollen, rücksichtsvollen und kooperativen Umgang zwischen Individuen mit unterschiedlichen sprachlichen Repertoires. Ein solches Verständnis von kollektiven mehrsprachigen Sprachvorbildern impliziert weiter, dass nicht einzelne Lehrer:innen mit einer bestimmten Herkunftssprache primär oder gar ausschließlich als Sprachvorbilder für bestimmte Schüler:innen mit derselben Herkunftssprache fungieren, sondern dass ein Lehrer:innenkollegium, das eine bestimmte Anzahl von Sprachen beherrscht, allen Schüler:innen mit all ihren Sprachen einen gesellschaftlichen Umgang mit sprachlicher Heterogenität vorleben kann. Die Aufgabe, ein mehrsprachig vorbildliches Lehrer:innenkollegium zu bilden, liegt also in der Verantwortung aller Lehrkräfte gleichermaßen, ungeachtet dessen, wie viele und welche Sprachen diese jeweils sprechen, wobei gleichzeitig das individuelle Sprachenprofil und die berufliche Biographie jeder einzelnen Lehrkraft zu achten sind.
Reflexionen über mehrsprachige Sprachvorbilder im Programm „ILF – Internationale Lehrkräfte fördern“
Im Folgenden soll ein Einblick in die Perspektiven von internationalen Lehrkräften gegeben werden, die am Landesprogramm „ILF – Internationale Lehrkräfte fördern“ am Standort Köln teilnehmen. Das zweijährige Programm ist eine Anschlussmöglichkeit für Absolvent:innen des Programms „Lehrkräfte Plus“ (vgl. Netzwerk Lehrkräfte Plus Nordrhein-Westfalen 2023) und unterstützt neu zugewanderte Lehrkräfte beim Wiedereinstieg in den Beruf (vgl. zu ILF Köln: Cardaci & Sarrazin 2020). Ein besonderes Anliegen von ILF liegt darin, die mehrsprachigen Ressourcen der internationalen Lehrkräfte wertzuschätzen und sie dabei zu unterstützen, diese in Prozesse einer mehrsprachigen und sprachsensiblen Unterrichts- und Schulentwicklung mit einzubeziehen. Dabei ist der Ansatz des Programms, nicht lediglich Kenntnisse zu vermitteln, sondern gemeinsam mit den Teilnehmenden verschiedene theoretische Konzepte und didaktische Ansätze rund um Mehrsprachigkeit zu diskutieren, weiterzuentwickeln und für konkrete Praxissituationen nutzbar zu machen.
Ein zentraler Diskussionsstrang bezieht sich dabei auf das eigene Verständnis als Fachlehrkraft und welche Rolle die Mehrsprachigkeit hierbei spielt. Genauer formuliert besteht hier ein Spannungsfeld zwischen einer Zuschreibung von außen, die internationale Lehrkräfte auf eine sprachliche (und interkulturelle) Vermittlungsrolle reduziert, einerseits und einer Wertschätzung sowie selbstbestimmten Einbeziehung ihrer mehrsprachigen Kompetenzen als zusätzliche Ressource andererseits. Viele der internationalen Lehrkräfte haben die Erfahrung gemacht, dass Kategorisierungen wie „geflüchtet“ und „neu zugewandert“ oft mit Rollenzuschreibungen einhergehen, die ihre Kompetenzen als hochprofessionelle Fachlehrkraft in den Hintergrund geraten lassen und dadurch diskriminierend wirken können. Ähnlich wird auch zuweilen eine unverhältnismäßig große Herausstellung ihrer Mehrsprachigkeit empfunden. Daher betonen viele der internationalen Lehrkräfte, dass sie in erster Linie als Fachlehrer:innen wahrgenommen werden wollen (vgl. hierzu auch Proyer et al. 2022, S. 12).
Gleichzeitig wünschen sich viele Programmteilnehmende, dass ihre individuellen mehrsprachigen Kompetenzen als Zusatz zu ihrer Fachlichkeit wertgeschätzt werden und sie diese selbstbestimmt und kreativ einbringen können (vgl. hierzu auch den Evaluationsreport des ERASMUS+-Projekts R/EQUAL, Frantik et al. 2021, S. 19). Insgesamt ist daher wichtig, dass Lehrer:innenkollegien den Grundsatz der differenzfreundlichen und zuschreibungsreflexiven bzw. diskriminierungskritischen Schule (vgl. Heinemann & Mercheril 2018) auch auf sich selbst anwenden, d. h. ein Umfeld schaffen, in dem der Gebrauch aller Sprachen gewünscht ist, ohne Individuen fremdbestimmt in eine kulturalisierende Rolle zu drängen.
Sprachbildung als Querschnittsaufgabe
Als zusätzliche Facette in diesem Spannungsfeld kommt hinzu, dass Sprachbildung als Querschnittsaufgabe gesehen werden sollte, die Teil des Aufgabenprofils aller Lehrkräfte aller Fächer ist (vgl. Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2022). Zudem tragen alle Lehrkräfte gerade in der heutigen Zeit eine Verantwortung, sich mit ihrer individuellen Lehrer:innenpersönlichkeit für eine demokratische, heterogenitätssensible und inklusive Gesellschaft einzusetzen, und hierzu gehört auch die Wertschätzung und Einbindung der Mehrsprachigkeit (vgl. Panagiotopoulou 2018). Innerhalb von Teamstrukturen, in denen sich jedes Individuum gleichberechtigt für diese Werte einbringt, können und wollen internationale Lehrkräfte jede Schule bereichern.
Auf Basis dieser Reflexionsprozesse werden im ILF-Programm konkrete Möglichkeiten einer mehrsprachigkeitsdidaktischen Weiterentwicklung von Unterricht diskutiert, um im Idealfall möglichst alle Schüler:innen mit ihrem jeweiligen gesamtsprachlichen Repertoire in die zuweilen sehr unterschiedlichen schulischen Praxisfelder mit einbeziehen zu können. Neben ihren mehrsprachigen Kompetenzen können neu zugewanderte Lehrkräfte oft auf eigene Erfahrungen beim Erlernen der deutschen Sprache zurückgreifen und haben meist eine besondere Empathie und ein besonderes Wissen über die Herausforderungen, die neu zugewanderten Schüler:innen im deutschen Schulsystem begegnen, was sie zur Weiterentwicklung einer sprachsensiblen Gestaltung von Unterricht einbringen können.
Der Fachtag „Sprachsensible Unterrichtsgestaltung: mehrsprachigkeitsorientiert, multimodal, zukunftsorientiert“
Ein weiteres Anliegen des ILF-Programms ist es, den oben umrissenen programminternen Dialog zu Mehrsprachigkeit in einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu überführen und den internationalen Lehrkräften Möglichkeiten zu eröffnen, ihre vielschichtigen individuellen Perspektiven im Bildungsdiskurs hörbar und damit auch in ihrer Heterogenität sichtbar zu machen. Zu diesem Zweck konzipierte und organisierte ILF Köln gemeinsam mit dem Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache einen Fachtag zu Themen der sprachsensiblen und somit auch mehrsprachigkeitsorientierten Unterrichtsgestaltung. Der Fachtag hatte zum Ziel, Teilnehmende des ILF-Programms sowie Alumni des Weiterbildungsstudiums Deutsch als Zweitsprache des Mercator-Instituts zusammenzuführen und einen gewinnbringenden Austausch zwischen Lehrkräften mit unterschiedlichen Bildungs-, Lehr- und Sprachbiographien zu ermöglichen. Am Austausch teilgenommen haben zudem einige geladene Mitarbeiter:innen der Universität zu Köln sowie der Bezirksregierung Köln.
Aufbauend auf einem Impulsvortrag von Dr. Erkan Gürsoy (Universität Duisburg-Essen) mit dem Titel „Auf dem Weg zu einer lerner:innenorientierten Unterrichtsgestaltung: 3 Dimensionen sprachsensibler Didaktik“ wurden in drei parallel stattfindenden Workshops drei Facetten sprachsensiblen Unterrichts fokussiert. Ein Workshop zum Thema „Mehrsprachigkeitsorientierung im Fachunterricht“ wurde vom ZMI – Zentrum für Mehrsprachigkeit und Integration (Rosella Benati und Abdullah Bakkar) angeboten. Mitarbeitende des Mercator-Instituts boten die weiteren Workshops zu den Themen „Potenziale digitaler Tools im sprachsensiblen Fachunterricht“ (Janna Gutenberg und Cedric Lawida) sowie „Binnendifferenzierung im Kontext sprachsensibler Unterrichtsgestaltung“ (Mathias Fehn) an. In dieser Workshop-phase hatten die Teilnehmenden die Gelegenheit, im gemeinsamen Austausch und auf Basis ihrer unterschiedlichen individuellen Erfahrungshorizonte ideale Wunschvorstellungen für sprachsensiblen und somit auch mehrsprachigkeitsorientierten Unterricht zu entwickeln. Dabei wurden sie ermutigt, ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen und ohne jegliche Denkbarrieren auch auf den ersten Blick ungewöhnliche oder scheinbar unrealistische Ideen zu durchdenken.
In der Abschlussphase wurden gemischte Gruppen aus Teilnehmenden aller drei Workshops gebildet, in denen sie ihre Ergebnisse zusammenführten und hieraus konkrete Schritte für die jeweils eigene sprachsensible Unterrichtspraxis und Schulentwicklung ableiteten.
Bei der nachfolgenden Evaluation wurde besonders die Zusammenführung der Zielgruppen als sehr gewinnbringend bewertet und zukünftige Gelegenheiten zum gemeinsamen Austausch zur Vertiefung einzelner Aspekte des komplexen Themengebiets als sinnvoll und wünschenswert angesehen.
Fazit
In einer mehrsprachigen Gesellschaft ist es notwendig, dass Lehrer:innenkollegien das Vorleben von Mehrsprachigkeit als gemeinsame Aufgabe begreifen und dadurch für die Schüler:innen mehrsprachige Sprachvorbilder werden. Im Rahmen einer inklusiven, differenzfreundlichen und zuschreibungsreflexiven Schulkultur sollte jeder Lehrkraft ermöglicht werden, ihre individuellen sprachlichen Ressourcen möglichst selbstbestimmt einzubringen. Hierbei kann die heterogene Gruppe der internationalen Lehrkräfte durch das gezielte Einbringen ihrer mehrsprachigen Ressourcen zur Förderung einer offenen Haltung gegenüber Mehrsprachigkeit und somit auch der Wertschätzung aller Sprachen aller Schüler:innen beitragen. Über den konkreten Schulkontext hinaus sollten Gelegenheiten geschaffen werden, internationale Lehrkräfte mit ihren vielschichtigen Perspektiven und Lehr-erfahrungen als Diskurspartner:innen in fachwissenschaftliche und bildungspolitische Debatten mit einzubeziehen. Fachtage wie der oben dargestellte, bei denen Akteur:innen aus Schulpraxis, Wissenschaft und Bildungsadministration zusammenkommen, können hierzu einen wichtigen Beitrag leisten.
Das Vorleben einer mehrsprachigen Schulkultur auf Basis gegenseitigen Respekts und der Fähigkeit, mit Mehrsprachigkeit in alltäglichen Situationen offen, konstruktiv und rücksichtsvoll umzugehen, kann sich dann auch in die Gesellschaft weitertragen und den gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu Mehrsprachigkeit bereichern und stärken. Wichtig bleibt dabei, dass die internationalen Lehrkräfte weder von Kolleg:innen noch von Schüler:innen als die mehrsprachigen Lehrkräfte für die mehrsprachigen Schüler:innen kategorisiert werden, was eine problematische Binarität auf beiden Ebenen erzeugen würde, sondern primär als Fachlehrkräfte, die zusätzlich mehrsprachige Kompetenzen mitbringen und gemeinsam mit allen anderen Kolleg:innen die Verantwortung für eine vielseitige Sprachförderung aller Schüler:innen als Querschnittsaufgabe in den Schulen tragen.
Literatur
Cardaci, C. & Sarrazin, D. (2020): ILF Köln – Internationale Lehrkräfte fördern. In: ZMI Magazin 2020 – Mehrsprachigkeit und Übergänge im Bildungssystem, S. 30-31. https://zmi-koeln.de/wp-content/uploads/2021/02/zmi_magazin_2020_web.pdf
Festman, J. (2021): Sprachvorbild sein – das Wichtigste in Kürze und konkret. In: Festman, J. (Hrsg.): Deutsch lehren und lernen – diversitätssensible Vermittlung und Förderung. Münster/New York: Waxmann, S. 28-32.
Frantik, P., Terhart H., Kansteiner, K., Krieg, S., Bakkar, A., Dam, E., Heideker, H., Obermayr, T., Proyer, M., Käck, A., Mickwitz, L., Bengtsson, A., Linné, T., Malm, S. & Bodström, H. (2021): IO5 – Evaluation Report of the Participatory Approach in R/EQUAL and the Partner Programmes. https://www.hf.uni-koeln.de/immigrated-and-refugee-teachers-requal//files/2021/04/IO5_REQUAL-Evaluation-Report.pdf
Heinemann, A. M. B. & Mecheril, P. (2018): (Schulische) Bildung, normative Referenzen und reflexive Professionalität. In: Dirim, I. & Mecheril, P. (Hrsg.): Heterogenität, Sprache(n), Bildung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt (utb.), 247-271.
Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.) (2022): Pädagogische Orientierung zur sprachlichen Bildung – Sprachbildung für ein- und mehrsprachige Kinder und Jugendliche in der Primarstufe und Sekundarstufe I in NRW. Düsseldorf. https://msb.xn--broschren-v9a.nrw/paedagogische-orientierung-zur-sprachlichen-bildung
Netzwerk Lehrkräfte Plus Nordrhein-Westfalen (Hrsg.) (2023): Lehrkräfte Plus. Universitäre Qualifizierungsprogramme für internationale Lehrkräfte mit und ohne Fluchterfahrung in NRW. Konzepte – Analysen – Erfahrungen, S. 44-55. https://lehrkraefteplus-nrw.de/wp-content/uploads/Publikation-Lehrkraefte-Plus-NRW_31.03.23_final.pdf
Panagiotopoulou, J. A. (2018): Inklusion und Mehrsprachigkeit: Translanguaging in Kitas und Schulen. In: ZMI Magazin 2018 – 10 Jahre ZMI, S. 11-13. https://zmi-koeln.de/wp-content/uploads/2019/01/ZMI-LAY1_2018_web.pdf
Proyer, M., Pellech, C., Obermayr, T., Kremsner, G. & Schmölz, A. (2022): ‘First and foremost, we are teachers, not refugees’: Requalification measures for internationally trained teachers affected by forced migration. European Educational Research Journal, 21(2), S. 278-292. https://doi.org/10.1177/1474904121989473