Migration macht mehrheimisch und mehrsprachig (MMMM):
Eine postmigrantische Lesart
von Prof. Dr. Erol Yildiz • Artikel im ZMI Magazin 2024, S. 8
Eine Frage der Perspektive
Nach einem Symposium in Berlin-Kreuzberg trafen wir uns mit einigen Kolleg:innen in einem italienischen Restaurant. Am Eingang wurden wir von einem sonnengebräunten, gut gelaunten Kellner in Empfang genommen, der sich mit „italienischem Temperament“ vorstellte: „Ich bin Sergio und werde euch heute Abend bedienen!“. In den nächsten Stunden ließ er es nicht an Aufmerksamkeit fehlen, war ständig zur Stelle, um nach unseren Wünschen zu fragen und ein paar Worte zu wechseln. Als wir schließlich aufbrachen, begleitete er uns noch zur Tür und sprach mich dabei auf Türkisch an. Auf meine überraschte Nachfrage erwiderte er, „die Türken erkennen sich einfach“ und erzählte, sein eigentlicher Name sei Sercan, doch er habe sich umbenannt, weil er schon seit 15 Jahren in diesem italienischen Restaurant arbeite. „Sergio“ komme bei den Gästen einfach besser an. Er spreche sowieso besser Italienisch als Türkisch. Die anderen Gäste beobachteten uns interessiert, einer sagte anerkennend: „Schau mal, der Italiener kann Türkisch!“
Im öffentlichen Diskurs über Migration und Integration ist seit Jahren eine wie selbstverständlich praktizierte Doppelmoral festzustellen: Phänomene der Mobilität, Individualisierung und Diversität werden von „Einheimischen“ prinzipiell als Zeichen globaler Orientierung gepriesen, im Falle von „Mehrheimischen“ aber eher als Defizit und mit Argwohn betrachtet (vgl. zum Begriff der Mehrheimischen Yildiz/Meixner 2021). In diesem Zusammenhang ist eine hierarchische Konzeption von (sprachlicher) Vielfalt zu erkennen. Während bestimmte Formen der Diversität als vorteilhaft und wünschenswert gelten, werden andere als problematisch wahrgenommen. Migrationsbedingte Praktiken erscheinen dann als Abweichung von der hiesigen „Normalität“. Für Kinder und Jugendliche, die mehrsprachig aufgewachsen sind, gehört das Hin- und Herwechseln zwischen den Sprachen zum Alltag. Obwohl ein solches Code-Switching und andere hybride Sprachpraktiken in postmigrantischen Gesellschaften die Regel sind (vgl. Yildiz 2023), wird hier mit zweierlei Maß gemessen. Während eine „gemischte“ Sprache aus Englisch oder Französisch und Deutsch durchaus als akzeptabel und sogar als Zeichen von Bildung und Weltoffenheit gilt, ist von „doppelter Halbsprachigkeit“ und anderen Mängeln die Rede, sobald beispielsweise Türkisch, Serbisch oder Arabisch in die deutsche Sprache gemischt werden.
Nationalisierung der Welt
Einerseits können wir derzeit weltweite Öffnungen beobachten, die mit der Entnationalisierung bestimmter Räume, Politiken und Subjektivitäten einhergehen; andererseits sind gegenläufige Tendenzen zu beobachten, die Renationalisierung und Abgrenzung vorantreiben und von der Entstehung neuer Nationalismen, Rassismen und Fundamentalismen begleitet werden.
Historisch betrachtet sind bei der Bildung von Nationalstaaten und deren globaler Durchsetzung verschiedene „Vereindeutigungspraktiken“ zum Einsatz gekommen: Bestehende Formen kultureller, sprachlicher und religiöser Pluralität wurden auf diese Weise teilweise geschwächt und unterdrückt, teilweise marginalisiert und unsichtbar gemacht. Mit der Entstehung von Nationalstaaten entstand auch ein kulturelles Homogenisierungsprogramm, das von einem national definierten Geschichtsbild begleitet wurde. Wie beispielsweise Benedict Anderson (1983/1998) herausgearbeitet hat, wurden dabei gemeinsame historische Erinnerungen konstruiert; gleichzeitig wurden andere Erinnerungen, die der nationalen Einheit im Wege standen, diskriminiert und abgewertet. Die Aufgliederung der Welt in Nationalstaaten wurde von Grenzziehungen begleitet, die jeweils eine neue Zugehörigkeitsordnung im Inneren schufen und die sich auch auf sprachlicher Ebene widerspiegeln. Der „monolinguale Habitus“ (Gogolin 2008) hat sich im Laufe der Zeit gegen die alltägliche Mehrsprachigkeit durchgesetzt und vor allem die schulische Bildungsnormalität stark beeinflusst. Mit den Spannungen, die dieser Widerspruch zwischen mehrsprachigen Lebenswelten und der ungebrochenen Gültigkeit des Monolingualismus-Paradigmas hervorbringt, sehen wir uns bis heute in unterschiedlichen Kontexten konfrontiert (vgl. Yildiz 2011).
Mehrheimischsein und Mehrsprachigkeit als Normalität in der globalisierten Welt
Dass das Leben mit Diversität, Mehrsprachigkeit und Mehrfachzugehörigkeit keine reine Wunschvorstellung, sondern eine historisch entstandene Realität ist, zeigt das folgende Zitat von Navid Kermani: „Dass Menschen gleichzeitig mit und in verschiedenen Kulturen, Loyalitäten, Identitäten und Sprachen leben können, scheint in Deutschland immer noch Staunen hervorzurufen – dabei ist es kulturgeschichtlich eher die Regel als die Ausnahme.“ (Kermani 2009: 12)
In der globalisierten und durch Mobilität geprägten Welt werden die Lebenswirklichkeiten von Menschen zunehmend diverser, vielschichtiger und mehrdeutiger. Immer weniger Menschen verbringen ihr ganzes Leben an ein und demselben Ort; viele haben über nationale Grenzen hinweg mehrmals ihren Wohnsitz gewechselt. Geografische und mentale Bewegungen gehen dabei Hand in Hand. Dass Mehrfachzugehörigkeiten und Mehrsprachigkeit zur „Normalität“ in einer globalisierten, von Migration geformten Welt gehören, wird durch den Blick auf Alltagserfahrungen und biografische Beispiele erfahrbar: Von der ersten Migrationsgeneration über die „postmigrantischen“ Nachkommen bis hin zu „Alteingesessenen“ – alle sind längst dabei, in einer globalisierten Gesellschaft und inmitten gesellschaftlicher Veränderungen auf individuelle Weise mehrheimisch und mehrsprachig zu werden.
Gerade (post-)migrantische Lebensentwürfe und Alltagspraktiken sind Beispiele dafür, wie globale Bezugspunkte entstehen, wie mehrheimische und weltheimische Zugehörigkeiten zustande kommen und welche Rolle sie für Kinder und Jugendliche in ihrem Alltag spielen. Das folgende biografische Beispiel einer 17-jährigen Schülerin aus Klagenfurt verdeutlicht solche Entwicklungen in besonderer Weise:
„Mein Vater stammt aus Albanien und meine Mutter ist Serbokroatin. Weil mein Vater Verwandte in der Schweiz hat, ist er immer schon viel gereist. Er hat auch dort gearbeitet, schon bevor ich geboren bin. Als ich ein Jahr alt war, sind wir nach Klagenfurt gekommen. Meine Familie ist ziemlich international. Verwandte haben wir fast überall, in der Schweiz, in Bulgarien, in Kroatien, in Italien, in New York. Die eine Tante ist Türkin, die andere ist Bosnierin, die nächste ist Bulgarin. Es ist ein großer Mischmasch, verstreut in der ganzen Welt. […] Viele Leute im Kosovo sind mit mehreren Sprachen aufgewachsen. Wenn ich in meinem Heimatort anfangen würde, Türkisch zu reden, würde man mir auf Türkisch antworten, würde ich Kroatisch reden, würde man mir auf Kroatisch antworten. […]“
Durch solche grenzübergreifenden familiären Netzwerke und deren Nutzung werden neue Fertigkeiten entwickelt und es entsteht soziales und kulturelles Kapital.
Mehrfachzugehörigkeiten und weltumspannende mehrheimische, weltheimische und mehrsprachige Bezüge werden so zu einem komplexen, vielschichtigen und hybriden Phänomen und damit zu einer biographischen Ressource in einer globalisierten Welt. Das Leben zwischen oder in verschiedenen Welten und Sprachen, das konventionell vor allem im Kontext von Migration als „Zerrissenheit“ thematisiert wurde, gewinnt eine biographische Bedeutung für die Beteiligten und wird möglicherweise zu einer passenden Metapher für postmigrantische Gesellschaften. Solche Biographien zeigen die kreativen Möglichkeiten von Lebenskonstruktionen, die durch Migration entstanden sind und heute eine gelebte Normalität im Alltag darstellen und sie verweisen auf Lebenspraktiken, die der Realität der globalisierten Welt nicht hinterherhinken, sondern sie vielmehr voranbringen.
Literatur
Anderson, Benedict (1983/1998). Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Berlin: Ullstein.
Gogolin, Ingrid (2008): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster: Waxmann.
Kermani, Navid (2009): Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime. München: C. H. Beck.
Einwanderungsgesellschaft. Stuttgart: Reclam.
Yildiz, Erol (2023): Postmigrantisch. In: Inken Bartels, Isabella Löhr, Christiane Reinecke, Philipp Schäfer, Laura Stielike (Hg.): Umkämpfte Begriffe der Migration.
Ein Inventar. Bielefeld: Transcript.
Yildiz, Erol / Meixner, Wolfgang (2021): Nach der Heimat. Neue Perspektiven für eine mehrheimische Gesellschaft. Stuttgart: Reclam.
Yildiz, Yasemin (2011): Beyond the Mother Tongue: The Postmonolingual Condition. New York: Fordham University Press.