Interview mit Prof. Dr. Karim Fereidooni

Interview mit Prof. Dr. Karim Fereidooni

Das Gespräch führte die Geschäftsführung des ZMI • Artikel im ZMI Magazin 2024, S. 6

Prof. Dr. Karim Fereidooni, Professor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum, ist spezialisiert auf die Schwerpunkte Rassismuskritik in pädagogischen Institutionen, Schulforschung und Politische Bildung in der Migrationsgesellschaft und diversitätssensible Lehrer:innenbildung. Im Interview mit dem ZMI gibt er unter anderem einen Einblick in seine Tätigkeit in der Politikberatung und beschreibt, wie die Lehrer:innenbildung sich in den letzten Jahren in Bezug auf Rassismuskritik und Diversitätssensibiliät gewandelt hat und wie das Fach „Sozialwissenschaftliche Bildung“ zur Förderung von Demokratie- und Partizipationsvorstellungen beitragen kann.

ZMI: Sehr geehrter Prof. Dr. Fereidooni, mit Ihren Forschungsschwerpunkten haben Sie einen rassismuskritischen Blick auf. migrationsgesellschaftliche Prozesse. Ihr besonderes Augenmerk gilt dabei einer diversitätssensiblen Lehrer:innenbildung. Inwiefern haben sich Inhalte der Lehrer:innenbildung in den letzten Jahren diesbezüglich geändert? Was müsste darüber hinaus dringend passieren?
Prof. Dr. Fereidooni: Die deutsche Gesellschaft ist im Jahr 2023 meiner Ansicht nach so rassismuskritisch wie noch nie in der bundesdeutschen Geschichte. Das wirkt sich auch auf die Lehrer:innenbildung aus. Viele Menschen engagieren sich in Bezug auf die diversitätssensible und rassimuskritische Gestaltung ihrer Universität. Ich glaube, dass auch das Bewusstsein in Bezug auf die rassismuskritische Ausformulierung von fachspezifischen Inhalten insbesondere bei den Studierenden gestiegen ist. Es sind zudem in den letzten Jahren einige fachdidaktische Bücher zum Thema Rassismuskritik erschienen. Nina Simon und ich haben beispielsweise das Buch „Rassismuskritische Fachdidaktiken“ (Springer VS; Anmerkung der Redaktion) vorgelegt, in dem Expert:innen darstellen, wie Rassismuskritik konkret in unterschiedliche Fächer überführt werden kann. Ich glaube, dass wir da auf einem guten Weg sind. Ich glaube aber auch, dass die Rassismuskritik noch nicht flächendeckend in Deutschland etabliert worden ist und dass Vorbehalte gegenüber der Rassismuskritik gleichzeitig zunehmen. Viele Menschen befürchten, die Rassismuskritik würde zu einer persönlichen Einengung ihrer Freiheiten führen. Im Gegensatz dazu sehe ich die Rassismuskritik als eine Möglichkeit der Erweiterung der Professionskompetenz, denn sie kann dazu beitragen, dass Menschen mehr sehen, als sie vorher wahrgenommen haben. Bei der Rassismuskritik geht es darum, eine Lebensrealität anzuerkennen, die vielleicht nicht die eigene ist – eine rassismusrelevante Realität. Das reicht aber noch nicht aus. Es geht auch um Strukturentwicklung. Wie kann beispielsweise die Universität produktiv damit umgehen, wenn Studierende Rassismuserfahrungen machen? Können wir bei uns an der Universität oder Schule eine Antidiskriminierungsstelle einrichten? Es geht darum, Strukturen zu verändern und letztlich den Kanon, den wir in Universitätsseminaren etablieren oder auch das Curriculum, das wir nutzen, um Unterricht zu gestalten, rassismuskritisch zu durchforsten und Anteile der Rassismuskritik einzufügen. Das sehe ich noch nicht in Gänze. Wir bewegen uns da zwar in die richtige Richtung, doch gleichzeitig sehe ich, dass eine kleine, aber laute Minderheit versucht, sowohl in der Gesellschaft als auch in der Universität und in der Schule rassismusrelevante Dinge salonfähig zu machen – und auch das gehört zu der Diskussion zum Thema Rassismus dazu.
Ich glaube, jede Generation muss Rassismuskritik von Neuem lernen, genauso wie jede Generation demokratische Strukturen von Neuem lernen muss. Bei der Rassismuskritik geht es nicht um Partikularinteressen. Es geht nicht darum, Menschen of Color oder Schwarze Menschen oder geflüchtete Menschen zu bevorteilen, sondern es geht um Menschenrechte. Es geht darum, die Ideale, die im Grundgesetz festgeschrieben sind, mit Leben zu füllen.

ZMI: Demokratie- und Partizipationsvorstellungen von Schüler:innen werden mit zunehmender Globalisierung immer wichtiger. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Wanderungsbewegungen Gesellschaft verändern. Wie können Schüler:innen auf diese gesamtgesellschaftlichen Prozesse vorbereitet und dahingehend sensibilisiert werden?
Prof. Dr. Fereidooni: Nun, ich glaube, dass Demokratie- und Partizipationsvorstellungen von Schüler:innen in Deutschland heutzutage ganz besonders wichtig sind, weil es Menschen und Organisationen gibt, die gezielt gegen diese demokratischen Strukturen in unserer Gesellschaft arbeiten. Deswegen ist es von enormer Bedeutung, jungen Menschen – egal woher sie kommen – ein Bewusstsein für Demokratie- und Partizipationsvorstellungen in der Schule zu vermitteln. Dafür müssen aber bestimmte Voraussetzungen gegeben sein:
Das Fach sozialwissenschaftliche Bildung wird an Gymnasien zu 50% fachfremd unterrichtet, an Hauptschulen zu 80%. Da würde ich erstmal ansetzen. Ich würde außerdem die Stundenanzahl für dieses Fach höherschrauben. Die Schüler:innen gehen in die Schule, um demokratische Strukturen zu erlernen. Das können sie nur, wenn erstens grundständig ausgebildete Lehrkräfte vor ihnen stehen und zweitens, wenn sie auch den zeitlichen Horizont haben, sich zu erproben.
Ich habe mich gemeinsam mit meiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Nora Pösl in einem Drittmittelprojekt, gefördert von der Stiftung Mercator, in den letzten zwei Jahren mit Demokratie- und Partizipationsvorstellungen von geflüchteten Schüler:innen sowie nicht geflüchteten Schüler:innen mit und ohne Migrationshintergrund beschäftigt. Warum haben wir das gemacht? Hintergrund war, dass ich bei Lehrkräftefortbildungen oder Schulleitungsfortbildungen häufig erfahren habe, dass Schulleitungen und Lehrkräfte geflüchteten Schüler:innen ihre Demokratiekompetenzen per se absprechen. Das war für uns der Stein des Anstoßes, eine quantitative Forschung durchzuführen. Wir haben mehr als 500 Schüler:innen befragt und konnten feststellen, dass geflüchtete Schüler:innen sogar positivere Bezugspunkte in Hinblick auf die Regierungsform der Demokratie und auch in Bezug auf das Grundgesetz besitzen als nicht geflüchtete Schüler:innen mit und ohne Migrationshintergrund.
Ich glaube, wir müssen uns außerdem ein Stück weit ehrlich machen in Bezug auf demokratische Strukturen. Auch in demokratischen Ländern wird um demokratische Rechte gerungen. Ich würde mir wünschen, dass Lehrkräfte geflüchteten Schüler:innen daher nicht sagen, „Das hier ist bei uns so, ihr müsst euch anpassen.“ Pädagogisch wertvoller wäre es, auf eigene Kämpfe zu rekurrieren. Wie kam es beispielsweise, dass in einer Demokratie jahrzehntelang um die Rechte der queeren und trans*-Community gerungen wurde und noch wird? Ich glaube, diese Darstellungsweise eigener Kämpfe in Bezug auf die eigene Gesellschaft kann konkret dazu führen, dass Menschen, die aus Ländern kommen, in denen queer- oder trans*-Feindlichkeit staatlich propagiert wird, ein Gefühl dafür bekommen, dass auch in Deutschland – in einer demokratisch strukturierten Gesellschaft – das für diese Menschen ein langer Kampf war.
Ich plädiere dafür, nicht mit dem „Vorschlaghammer“ Demokratie- und Partizipationsvorstellungen den Menschen „einzutrichtern“, sondern diese mit Hilfe von Beispielen und in einer sensiblen und selbstkritischen Art und Weise zu vermitteln. Das Fach sozialwissenschaftliche Bildung kann dazu entscheidend beitragen – aber wie gesagt vor dem Hintergrund der bereits skizzierten Forderungen.

ZMI: Sie beraten die Bundesregierung (Kabinett Scholz I) zur Erarbeitung der Gesamtstrategie „Gemeinsam für Demokratie und gegen Extremismus – Strategie der Bundesregierung für eine starke, wehrhafte Demokratie und eine offene und vielfältige Gesellschaft“, sowie das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat im Unabhängigen Expert:innenkreis Muslimfeindlichkeit. Welche Erfahrungen machen Sie und haben Sie gemacht während Ihrer Beratungstätigkeit? Welche Hürden und Chancen birgt eine wissenschaftliche Begleitung bei der Erstellung einer Gesamtstrategie im politischen und gesellschaftlichen Rahmen aus Ihrer Sicht?
Prof. Dr. Fereidooni: Die erste Lehre der letzten vier Jahre war es, dass man sich als Wissenschaftler:in nicht zu ernst nimmt, dass man nicht glaubt, man fährt nach Berlin oder nach Düsseldorf mit einer Liste und die Politiker:innen begrüßen einen und sagen: „Wir wissen nichts, Sie wissen alles. Wir setzen alles um, was Sie fordern“. So funktioniert Politikberatung nicht, denn am Ende entscheiden immer die demokratisch gewählten Volksvertreter:innen. Ich mache dennoch gerne Politikberatung, weil ich glaube, dass das neben meiner Lehre und Forschung an der Universität auch ein Vehikel sein kann, um die Gesellschaft demokratisch zu gestalten. Ich glaube, dass wir Wissenschaftler:innen uns stärker in gesellschaftliche Diskurse einbringen sollten, denn Menschen, die daran arbeiten, unsere Gesellschaft undemokratisch zu gestalten, bringen sich gesellschaftlich ein. Was ich gelernt habe war, dass sich die politische Logik fundamental unterscheidet von der wissenschaftlichen Logik. Politiker:innen haben einen schwierigeren Job, denn sie haben nicht nur drei Probleme so wie ich: Rassismuskritik, diversitätssensible Lehrer:innenbildung und politische Bildung in der Migrationsgesellschaft. Politiker:innen haben tausend unterschiedliche Probleme. Und ich muss nicht wiedergewählt werden. Politiker:innen müssen auf ihre Wähler:innen, ihre Partei und auf ihre Koalitionspartner:innen achten. Ich habe ein Verständnis entwickelt für die Schwierigkeit der Arbeit von Politiker:innen sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene.
Es wird auch durch die Politikberatung deutlich, dass in Bezug auf Rassismuskritik unterschiedliche Logiken und unterschiedliche Verfahrensweisen existieren, wie man das angeht. Wir haben sehr gute Studien, die Zahlen liegen auf dem Tisch. Wir haben kein Erkenntnisdefizit, wir haben ein Umsetzungsdefizit. Wir haben zum Beispiel drei Jahre zum Thema antimuslimischer Rassismus gearbeitet. Herr Seehofer hat uns berufen, Frau Faeser hat den Bericht („Muslimfeindlichkeit. Eine deutsche Bilanz“; Anmerkung der Redaktion) in Empfang genommen. Es liegen jetzt 400 Seiten vor, die auch kostenlos auf der Website des Bundesinnenministeriums downgeloadet werden können, in denen wir unterschiedliche konkrete Maßnahmen vorgestellt haben. Das heißt, wenn Frau Faeser oder eine andere Innenministerin oder ein anderer Innenminister handeln möchte, dann könnte sie das ab morgen tun. Die Schwierigkeit besteht darin, dass nicht alle Umsetzungsvorschläge für die Politiker:innen mit den Parteipräferenzen oder den persönlichen Präferenzen in Einklang zu bringen sind. Letztlich entscheiden die Politiker:innen, was umgesetzt wird. Wir als Politikberater:innen können einfach nur Hilfestellung bieten – und das mache ich trotz allem gerne.

ZMI: Vielen Dank, Herr Prof. Dr. Fereidooni.