Migration macht mehrheimisch und mehrsprachig (MMMM):
Eine postmigrantische Lesart
von Dr. Nicola Brocca • Artikel im ZMI Magazin 2024, S. 11
Eine der größten Herausforderungen im herkunftssprachlichen Unterricht liegt in der Heterogenität der sprachlichen Kompetenzen der Schüler:innen. Die künstliche Intelligenz (KI) bietet die Möglichkeit einer individualisierten Lernbegleitung.
Wahrscheinlich jede Lehrperson hat dies in den letzten Monaten erlebt: Beinahe über Nacht verbesserten sich die Hausaufgaben einiger Schüler:innen. Beim Korrigieren fiel auf, dass einige der schriftlichen Aufsätze vielleicht nicht sehr originell, aber formal überraschend einwandfrei waren. Bat die Lehrkraft dann im Unterricht darum, die schriftliche Produktion nachzuerzählen, waren die mündlichen Wiedergaben nicht so flüssig, wie man es von der Hausaufgabe erwartet hätte. Was ist der Hintergrund?
Künstliche Intelligenz (KI) hat in den letzten Monaten innerhalb und außerhalb des Klassenzimmers für Aufregung gesorgt, weil sie traditionelle Lernmechanismen in Frage stellt. Statt eine schriftliche Aufgabe selbständig zu erledigen, können Schüler:innen heute ein KI-basiertes Chatbot wie Chat-GPT fragen und das Ergebnis mehr oder weniger wortwörtlich abschreiben oder mit einem Übersetzungstool wie Google-Translate ihre Aussagen übersetzen lassen. Der Weg zur Lösung einer schriftlichen Aufgabe wird in diesem Prozess weniger bis nicht von einer selbständigen kognitiven Arbeit begleitet und der langfristige Lernertrag ist vermutlich begrenzt.
Dies bewog viele Lehrkräfte dazu, ihre Aufgabenstellungen zu überdenken und keine schriftlichen Arbeiten mehr als Hausaufgabe zu vergeben. Die Aktualität von schriftlichen Prüfungen wird auch generell in Frage gestellt. Gerade im herkunftssprachlichen Unterricht (HSU) ist das Niveau der Schüler:innen sehr unterschiedlich und das Lernmaterial daher teilweise nicht passend. Die Beziehung zwischen mündlichen und schriftlichen Kompetenzen stimmt im HSU selten überein. Manchmal besteht das Wissen von HS-Schüler:innen aus sogenannten Kompetenzinseln. Sie besitzen häufig gute rezeptive Fertigkeiten (wie Hörverstehen), aber es hapert an der Sprachproduktion.
Das Unterrichten mit KI könnte gerade im HSU große Vorteile mit sich bringen, denn wenn sie richtig eingesetzt werden, können KI-basierte Chatbots oder Sprachkorrekturprogramme auf den rezeptiven Fertigkeiten aufbauen. Sie können so auch Wissenslücken im Bereich der Sprachproduktion schließen, z. B. mit zusätzlichem Wortschatz, richtiger Aussprache oder durch Korrektur der Schreibweise.
Damit der Einsatz von KI im Unterricht gute Erfolge für die Lernenden mit sich bringt, ist es wichtig, dass der Gebrauch den Schüler:innen und den jeweiligen Lernzielen angepasst wird. Bestehen die Lernziele beispielsweise darin, die mündliche Produktion zu fördern, können die Schüler:innen unter Anleitung der Lehrkraft bestimmte Aufgaben an die KI delegieren. So könnte ein KI-basierter Chatbot den Lernenden zum Beispiel dabei helfen, Vokabular für ein bestimmtes Thema zu sammeln oder Beispiele für einen Dialog in einer gewissen Situation zu erstellen. Auf diese Weise könnten sich die Schüler:innen dann auf das tatsächliche Lernziel, also die mündliche Produktion, konzentrieren.
Nehmen wir an, das Ziel des Unterrichtes ist es, Geburtstagsgrüße auf Türkisch per Sprachnachricht zu versenden. Die Schüler:innen suchen sich einen realen Adressaten aus, dem sie eine Sprachnachricht senden wollen. Wenn sie Zweifel an der Formulierung haben, können sie die KI befragen. Eventuell kann die Lehrkraft anfangs eine Beispielkommunikation mit dem Chatbot vorgeben, wie im folgenden Beispiel:
Einige Lerner:innen würden einen dieser Vorschläge als Grundlage verwenden, um kreativ eine Sprachnachricht zu erstellen, andere wären mit dem Ergebnis noch nicht zufrieden (zu viele Vorschläge, zu unnatürlich, unverständlich). Sie können den Text jedoch ändern, indem sie die Anfrage an den Chatbot anpassen:
Mit dieser Antwort könnten auch Schüler:innen mit basischem Niveau Unterstützung für ihre Aufgabe bekommen und anhand dieses Mustertextes eine Sprachnachricht mit einer anderen Schüler:in üben bzw. aufnehmen und ggf. versenden.
Wenn die Lehrkraft die KI in dieser Art und Weise in den Unterricht einbezieht, kann sie mehr Zeit der Sprachproduktion widmen. In dem Leseverstehen, in der Anpassung und der mündlichen Wiedergabe finden außerdem wichtige kognitive Lernprozesse statt, die die mündlichen Fertigkeiten fördern.
Natürlich kann die KI auch andere Sprachfertigkeiten unterstützen – die schriftliche Produktion zum Beispiel. Dank KI-basierter Übersetzungsprogramme wie DeepL kann die lernende Person selbst geschriebenen Texte orthografisch und grammatikalisch korrigieren. Weitere mündliche Fertigkeiten, wie zum Beispiel die Aussprache, können mit KI-basierter Spracherkennungssoftware unterstützt werden (vgl. Bashori et al. 2022).
Diese Beispiele zeigen die größten Potenziale der KI: die Fähigkeit, ein differenziertes adaptives Feedback zu geben, also eine Korrektur oder Antwort, die auf die Bedürfnisse der einzelnen Lernenden zugeschnitten ist. Persönliches Feedback ist einer der Faktoren, der den Lernerfolg am meisten beeinflusst (vgl. Hattie 2013) und ist in herkunftssprachlichen Kontexten aufgrund der heterogenen Sprachniveaus der Schüler:innen besonders relevant.
Darüber hinaus kann die KI eingesetzt werden, wenn im Unterricht geeignete Materialien in der Zielsprache fehlen – vor allem in selten unterrichteten Sprachen. Oft sind altersgerechte Lernmaterialien nicht auf das Sprachniveau der Schüler:innen abgestimmt, da sie sich an ein muttersprachliches oder fremdsprachliches Publikum richten, nicht aber an ein Publikum in der Herkunftssprache. Was den Schüler:innen häufig fehlt, ist die konkrete Unterstützung im Unterricht oder bei den Hausaufgaben: Wie schreibe ich die Zahlen auf Arabisch, wie erzähle ich auf Griechisch von meinem Wochenende, wie bereite ich mich auf den digitalen Austausch mit albanischen Sprachpartner:innen vor? Bei all diesen Fragen kann die KI helfen – selbst bei wenig gelernten Sprachen.
Die Beispiele haben gezeigt, wie vielfältig und nützlich der Einsatz von KI im HSU gestaltet werden kann. Bei all diesen Aktivitäten sollte die Technologie als Hilfsmittel allerdings für eine zeitlich begrenzte Arbeitsphase eingesetzt werden, da zahlreiche Studien zeigen (vgl. Hillmayr et al. 2017), dass der Einsatz von Technologie besonders effektiv ist, wenn er sich mit Phasen des Offline-Lernens abwechselt.
Durch die angeleitete Integration von KI-Technologie in den HSU erwerben die Schüler:innen Kompetenzen für ihr tägliches Leben, die sie über den Unterricht hinaus mit wichtigen „Skills“ des 21. Jahrhunderts ausstatten: das selbstständige Lernen, die richtige Formulierung von Fragen und die kritische Nutzung von Online-Ressourcen.
Literatur
Hattie, John (2013): Lernen sichtbar machen, Schneider: Hohengehren.
Hillmayr, Delia, Frank Reinhold, Lisa Ziernwald & Kristina Reiss (2017): Digitale Medien im mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht der Sekundarstufe. Einsatzmöglichkeiten, Umsetzung und Wirksamkeit. Paderborn: Waxmann Verlag.
Muzakki, Bashori, Roeland van Hout, Helmer Strik & Catia Cucchiarini (2022): ‘Look, I can speak correctly’: learning vocabulary and pronunciation through websites equipped with automatic speech recognition technology, Computer Assisted Language Learning, DOI: 10.1080/09588221.2022.2080230.