Mehrsprachigkeit und Elternkooperation – moderne Medien, viele Bücher und ein bisschen Mut

Mehrsprachigkeit und Elternkooperation – moderne Medien, viele Bücher und ein bisschen Mut

von Prof. Dr. Ursula Neumann  • Artikel im ZMI Magazin 2023, S. 13

Neulich saß ich in unserer Schülerbücherei, als eine Mutter kam und sich suchend umschaute. Es war die Mutter von Polina, einer neuen Schülerin aus der Ukraine. Sie spricht kein Deutsch. Ich nahm mein Handy und sprach den Satz „Kann ich Ihnen helfen?“ auf die App „SayHi“. Frau B. verstand sofort und antwortete auf Ukrainisch. Das Handy übersetzte mir ihre Antwort: „Ich suche die Jacke meiner Tochter. Hat sie sie vielleicht hier liegen gelassen?“ und ich konnte ihr weiterhelfen. (A., Grundschullehrerin in Hamburg)

So einfach ist es nicht immer, die Hürden der sprachlichen Verständigung im mehrsprachigen Schulalltag zu überwinden. Aber die modernen Medien erschließen neue Möglichkeiten, die vielen Sprachen der Kinder im Schulalltag sichtbar zu machen und für das Lernen zu nutzen. So können wir auf Smartboards im Klassenzimmer verschiedene Schriften anschauen oder die Klänge der Sprachen in den Raum holen. Für die Lehrer*innen ist es nicht mehr von den eigenen Sprachkenntnissen abhängig, ob die Sprachen der Kinder im Unterricht lebendig werden können.
In der Bildungsdebatte spielt die gesellschaftliche Veränderung durch Zuwanderung eine wichtige Rolle. Damit verbunden ist eine wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen mit einer internationalen Familiengeschichte, Fluchterfahrungen und insbesondere lebensweltlicher Mehrsprachigkeit. Mehrsprachigkeit ist das offensichtlichste Merkmal der Diversität der modernen deutschen Gesellschaft. Sie ist inzwischen auch in Deutschland wie in der übergroßen Mehrheit aller Länder auf der Erde gelebte gesellschaftliche Realität – für alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft. Dies stellt neue Herausforderungen an die nationalstaatlichen Bildungssysteme und ihre auf eine einzige Sprache ausgerichteten Traditionen. Dabei geht es nicht nur um die mehrsprachigen Kinder. Auch die Kinder, in deren Familien ausschließlich Deutsch gesprochen wird, erfahren durch die sprachliche Vielfalt neue Lernanreize, die zur Erweiterung ihrer Potenziale, Erfahrungen und Kompetenzen genutzt werden können.
Basis für eine dem angemessene Unterrichts- und Schulgestaltung ist die Akzeptanz dieser Entwicklung – und zwar im Einvernehmen mit den Eltern. Rechtlich ist der staatliche Erziehungsauftrag der Schule dem Erziehungsrecht der Eltern gleichgeordnet. Die gemeinsame Erziehungsaufgabe von Eltern und Schule soll in einem sinnvoll aufeinander bezogenen Zusammenwirken erfüllt werden. Bei der Gestaltung des Bildungs- und Erziehungsprozesses sollte es sich um einen kooperativen und für die Beteiligten transparenten Prozess handeln, der vor allem dann gut gelingt, wenn beide Seiten mit Blick auf das Wohl der Kinder zusammenarbeiten. Allerdings sind sich weder die einsprachig deutschen Eltern sicher, dass für ihre Kinder die Sprachen anderer Kinder nützlich sind, noch besitzen die Eltern mehrsprachiger Kinder das Selbstbewusstsein, ihre Wünsche bezüglich einer mehrsprachigen Bildung ihrer Kinder zu äußern oder gar
durchzusetzen. Die meisten Eltern wünschen den Erhalt ihrer Familiensprachen, sind aber verunsichert, ob ihre Kinder nicht benachteiligt werden, wenn sie z. B. „Muttersprachlichen Unterricht“ (MSU) erhalten sollen (vgl. Lengyel & Neumann 2017). Diese Verunsicherung kann unter anderem darin begründet sein, dass die Informationen zum neuesten Forschungs- und Erfahrungsstand nicht bekannt sind, die aufzeigen, dass eine mehrsprachige schulische Bildung vor allem viele Chancen birgt. Für Eltern ist es wichtig, zu erfahren und zu erleben, dass auch die Schule die Zwei- und Mehrsprachigkeit ihrer Kinder als Potenzial nutzen kann und gleichzeitig die deutsche Sprache im Kontext der Sprachenvielfalt im Unterricht aller Fächer qualitativ hochwertig vermittelt werden kann. Ein Projekt, das auch in Nordrhein-Westfalen erfolgreich läuft, unterstützt das Umdenken: Der Hamburger Bücherkoffer.
Bücher sind das Medium, wenn Kinder in die Schule kommen. Sie sind gespannt darauf, lesen zu lernen. Sie wollen sich die Welt der Geschichten erschließen, eintauchen in fremde Welten, in Bilder und Schrift. Sicher kennen heute die meisten Kinder Bilderbücher schon aus der Kita, aber nun sind sie Schulkinder und sollen selber lernen, die Schrift zu entziffern und die Bücher zu lesen. Doch die Chancen der Kinder auf den Erwerb von Bildung sind ungerecht verteilt: Das gesicherte Forschungsergebnis, dass der Bestand an Büchern im Elternhaus voraussagt, welchen Schulerfolg die Kinder haben werden, gilt auch in Deutschland mehr denn je. Die pädagogische Konsequenz: Machen wir den Kindern die Bücher zugänglich, lassen wir Bücherkoffer aus der Schule in die Familien rollen.
Das Credo von Coach@school, der Gruppe, die das Projekt trägt:
„Unsere Mission: Lesen gibt mir eine Chance – mit Vielfalt“.
Kinder aus einem sozio-ökonomisch schlechter gestelltem Umfeld unterstützen wir beim Erwerb von Lesemotivation und Lesekompetenz in Kitas, Grundschulen und anderen Lernorten. Dabei binden wir alle am Bildungsprozess der Kinder Beteiligten ein – Familien, Fachpersonal und Institutionen. (aus der Beschreibung auf der Website https://www.coachatschool.org/konzept-des-hamburg-buecherkoffers/)
Im ersten und zweiten Schuljahr darf jedes Kind eine Woche lang den Koffer ausleihen. Darin sind mindestens zwölf mehrsprachige, interkulturelle und inklusive Kinderbücher in bis zu 50 Sprachen. Die bunten Bücherkoffer rollen in jedes Zuhause und verbinden so Bildungseinrichtung und Elternhaus miteinander: Die Bücher werden in Familien, Schulen und Kitas gelesen und erkundet. Ein Begleitprogramm für die Zusammenarbeit von Lehrkräften und Eltern unterstützt die Wirkung des Bücherkoffers. Das pädagogische Personal wird dabei unterstützt, auf mehrsprachige Kinder einzugehen und die Sprachkompetenzen wertzuschätzen.
Die Evaluation hat es gezeigt: Am häufigsten betonten die Eltern, dass sie es toll fanden, dass die Bücher in so vielen verschiedenen Sprachen vorhanden waren und sie auch ihre eigene Muttersprache wiedergefunden haben. Auch Eltern, die Deutsch als Muttersprache sprechen, bemerkten hier, dass sie es spannend fanden, die anderen Sprachen kennenzulernen. Sie betonen insbesondere, dass sie durch die Mehrsprachigkeit der Bücher in der Lage waren, die Geschichten selbst zu verstehen und ihren Kindern dementsprechend zu erklären. Neben der Mehrsprachigkeit gefiel den Eltern sowohl inhaltlich als auch in der Zusammenstellung die Auswahl sehr gut: „Dass manche Bücher mit Humor und Sinn das Leben beschreiben.“ Die Wissenschaftlerinnen betonen, dass der Bücherkoffer sowohl zum gemeinsamen als auch zum alleinigen Lesen genutzt werde. Eltern, die eine andere Muttersprache als Deutsch sprechen, lesen im Schnitt zu 38 % „manchmal“ und sogar zu 34% „oft“ bis „sehr oft“ in ihrer Muttersprache Geschichten aus dem Bücherkoffer vor. Damit ist eines der zentralen Projektziele, die Honorierung der Mehrsprachigkeit, erreicht. (Evaluationsbericht 2019, S. 19)
Mehrsprachigkeit kann eine Chance sein – kein Nachteil und kein Hindernis. Dafür sind etwas Mut, moderne Medien, Lust am Lesen und Entdecken notwendig – und viele Bücher in vielen Sprachen.

Literatur
Bainski, Christiane und Ursula Neumann (2021): Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule in der Migrationsgesellschaft. In: de Boer, Heike, Daniela Merklinger (Hrsg.): Grundschule im Kontext von Flucht und Migration. Stuttgart, Kohlhammer, S. 105–120
Coach@school: https://www.coachatschool.org/konzept-des-hamburg-buecherkoffers/
Evaluation des Hamburger Bücherkoffer 2018 bis 2019, durchgeführt von Dr. Sabrina Bonanati und Nicole Gruchel, Universität Paderborn 2019 (mimeo)
Daschner, Peter (2017): Flüchtlingskinder an deutschen Schulen – Die besondere Problemlage seit 2017. In: Killus, Dagmar, Klaus-Jürgen Tillmann (Hrsg.): Eltern beurteilen Schule – Entwicklungen und Herausforderungen. Münster, Waxmann, S. 83–98
Lengyel, Drorit und Ursula Neumann (2017): Herkunftssprachlicher Unterricht in Hamburg. Eine Studie zur Bedeutung des herkunftssprachlichen Unterrichts aus Elternsicht (HUBE). In: Die deutsche Schule, 109. Jg., Heft 3, 2017, S. 273 – 282