Mehrsprachige Erziehung in Familien

Mehrsprachige Erziehung in Familien

von Dr. Yasemin Uçan • Artikel im ZMI Magazin 2023, S. 15

Enes Güngör: […] Ansätze machen wir zwar, aber jetzt haben wir überwiegend Türkisch gesprochen, weil das halt unsere Muttersprache ist, haben wir jetzt nur Türkisch gesprochen. Das versteht er auch, er versteht alles. […] Und beim Deutsch ist das jetzt so, wenn ein Kind jetzt im Kindergarten ist oder in der Schule ist, dass er dann nicht blöd dasteht, dass er dann Löcher in die Luft guckt. Deswegen versuchen wir jetzt langsam beizubringen, zum Beispiel „Wie heißt du?“ oder „Wie geht es dir?“ oder „Hallo“. Das, was er auf Türkisch kann, dann halt auch im Deutschen auch versteht. […] Deswegen versuchen wir jetzt so langsam, ihn darauf vorzubereiten. Und hoffen natürlich, dass er es da dann weiterlernt.

In diesem Interviewausschnitt spricht der Vater Enes Güngör über die mehrsprachige Erziehung seines zweijährigen Sohnes. Er berichtet dabei, dass zunächst eine Sprachpraxis in türkischer Sprache verfolgt wurde. Mit dem bevorstehenden Eintritt des Kindes in die Kita wird die familiäre Sprachpraxis um die deutsche Sprache erweitert. Diese Erweiterung soll eine erste Vorbereitung auf die deutschsprachige Kita sein und den Deutscherwerb des Kindes unterstützen. In der Kita wiederum sollen, so die Erwartung des Vaters, die Deutschkenntnisse weiter ausgebaut werden. Deutlich wird an diesem Interviewausschnitt zum einen eine Flexibilität in der (Um-)Gestaltung der familiären Sprachpraxis, die sich an der Lebensphase des Kindes sowie an den Erziehungszielen der Eltern orientiert. Zum anderen wird deutlich, dass Eltern sich differenzierte Gedanken über den frühkindlichen Mehrsprachenerwerb machen und diesen – auch mit Blick auf die Einrichtungen der Frühpädagogik – bewusst planen.

Familiäre Erziehung zur Mehrsprachigkeit – Komplex, divers und translingual
Eine migrationsbedingte familiäre Mehrsprachigkeit wird in öffentlichen Debatten häufig defizitorientiert betrachtet und als Bildungsrisiko markiert, sodass das Potenzial sprachlicher Erziehungs- und Bildungsprozesse von Eltern im Kontext von Migration von Seiten der Bildungsinstitutionen nicht erkannt und berücksichtigt wird.
Im Rahmen meiner Studie zu Erziehungsvorstellungen von Eltern aus der Türkei zur frühkindlichen Mehrsprachigkeit (Uçan 2022) konnte festgehalten werden, dass die Mehrsprachigkeit des Kindes ein wichtiges Erziehungsziel von Eltern ist. Den nicht-deutschen Familiensprachen werden von Eltern vielfältige Bedeutungen zugewiesen, unter anderem zur Aufrechterhaltung familiärer Beziehungen oder zur Vermittlung einer familiären Geschichte und Kultur.
Um das Erziehungsziel der Mehrsprachigkeit zu erreichen, setzen sich Eltern mit komplexen Planungs- und Reflexionsprozessen auseinander: Sie machen sich unter anderem Gedanken über die familiären sprachlichen Ressourcen, darüber wie sie die verschiedenen Familiensprachen in Partnerschaft und Familie aufteilen und welche Bücher vorgelesen oder welche Medien genutzt werden sollen. Es wird deutlich, dass Eltern viel sprachliche Erziehungsarbeit für das Erziehungsziel der Mehrsprachigkeit aufwenden. Sie gestalten dabei beispielsweise ihren Familienalltag entsprechend (um) und treffen innerhalb der Familie und mit Institutionen Absprachen zur sprachlichen Erziehung ihrer Kinder. Dabei investieren sie Zeit, Energie und finanzielle Ressourcen, um das sprachliche Umfeld für den frühkindlichen Mehrsprachenerwerb sicherzustellen.
Ferner ist festzuhalten, dass familiäre Mehrsprachigkeit äußerst divers und translingual ist: Während einige Familien zunächst eine Sprachpraxis in einer (nicht-deutschen) Familiensprache verfolgen, entscheiden sich andere Familien für den gleichzeitigen Gebrauch mehrerer Sprachen mit dem Kind von Anfang an. Je nach Kind oder Lebensphase wird innerhalb der Familien auch flexibel zwischen ein- und mehrsprachiger Sprachpraxis gewechselt. (Pauschale) Empfehlungen, wie z. B. Zuhause ‚nur‘ Türkisch und draußen ‚nur‘ Deutsch zu sprechen, werden der Realität mehrsprachiger Familien nicht gerecht. Die Verwendung verschiedener Sprachen, auch gleichzeitig, ist für viele Familien Teil ihres Alltags. Werfen wir nun einen Blick auf die Angebote in den
Interkulturellen Zentren der Stadt Köln. Die Angebote werden je nach Zielgruppe (Vorschulkinder, Kinder und Jugendliche, erwachsene Lernende und Angebote für Senior:innen) konzipiert und finden sowohl in der Woche als auch am Wochenende statt.

Familiäre Mehrsprachigkeit – Nicht nur Landessprachen
Eine familiäre Mehrsprachigkeit zeichnet sich darüber hinaus nicht nur durch die Landessprachen der Herkunfts- und Ankunftskontexte aus. Auch sogenannte ‚Minderheitensprachen‘, wie z. B. Kurdisch, können in den Familien gesprochen werden, sodass eine familiäre Dreisprachigkeit vorhanden ist. Der Gebrauch vieler sogenannter ‚Minderheitensprachen‘ war eine Zeitlang verboten und es sind auch heute wenige (Kinder-)Bücher oder weitere Medien in diesen vorhanden. Eltern zeigen allerdings kreative Strategien zum Ausgleich, indem sie z. B. türkisch- oder deutschsprachige Bücher verwenden und diese beim Vorlesen ins Kurdische übersetzen, sodass sich sprach- und varietätenübergreifende Praktiken des Vorlesens und Erzählens festhalten lassen. Da die Bedingungen des Erwerbs und der Weitergabe dieser Sprachen sehr prekär sind, machen sich viele Eltern auch große Sorgen über das Aussterben der Sprachen.

Spannungen und Schwierigkeiten in der familiären Erziehung zur Mehrsprachigkeit
Eine frühkindliche Erziehung zur Mehrsprachigkeit geht somit auch mit Spannungen und Schwierigkeiten einher. Einige Eltern innerhalb der Studie sehen sich damit konfrontiert, dass das Kind mit dem Eintritt in die Kita die nicht-deutschen Familiensprachen nicht mehr spricht oder sprechen möchte. Dies wird von Eltern zum Teil als sehr belastend erlebt. Häufig setzen sie sich daraufhin erneut mit der familiären Sprachpraxis auseinander und gestalten diese um (z. B. durch vermehrtes Vorlesen, dem Ansehen von Videos oder durch Türkeibesuche), um das Kind für den Gebrauch der Sprachen zu motivieren. Seitens der Kita ist oftmals keine Unterstützung vorhanden, sodass die einsprachige Ausrichtung der Kita im Gegensatz zur familiären Mehrsprachigkeit steht. Ob das Kind eine aktive Mehrsprachigkeit ausbildet, ist dann allein von den Familien abhängig. Dies setzt Eltern häufig unter Druck.

Impulse für die Praxis der Frühpädagogik im Umgang mit familiärer Mehrsprachigkeit
Trotz der hohen Bedeutung der kindlichen Mehrsprachigkeit für Familien zeichnen sich Institutionen der Frühpädagogik überwiegend durch einsprachige Bildungsangebote aus (vgl. Lengyel 2018). In der pädagogischen Praxis wird eine migrationsbedingte Mehrsprachigkeit häufig abgewertet und normiert, indem Kinder z. B. dazu aufgefordert werden, Deutsch (statt ihrer weiteren Familiensprachen) zu sprechen (vgl. z. B. Winter 2022).
Mit meiner Studie zu den Perspektiven von mehrsprachigen Eltern konnten die vielfältigen Vorstellungen und damit einhergehenden Planungen für eine frühkindliche Erziehung zur Mehrsprachigkeit aufgezeigt werden. In der Zusammenarbeit mit Eltern sollten die hohe Reflexionsleistung sowie die (oftmals unsichtbare) Erziehungsarbeit der Eltern somit stärker anerkannt und wertgeschätzt werden.
Die vielfältigen mehrsprachigen und sprachübergreifenden Erfahrungen der Kinder bleiben aufgrund der einsprachigen Ausrichtung der Kita meist unberücksichtigt – beispielsweise in Hinblick auf Vorlese- und Erzählpraktiken. Sprachpädagogische Ansätze für eine mehrsprachige Lese- und Schreibfähigkeit (vgl. dazu z. B. Montanari & Panagiotopoulou 2019) können dazu beitragen, diese Erfahrungen der Kinder in die frühpädagogische Praxis systematisch zu integrieren.

Literatur
Lengyel, D. (2018). Sprachbildung. In I. Gogolin, V. B. Georgi, M. Krüger-Potratz, D. Lengyel & U. Sandfuchs (Hrsg.), Handbuch Interkulturelle Pädagogik (S. 469–473). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.
Montanari, E. & Panagiotopoulou, A. (2019). Mehrsprachigkeit und Bildung in Kitas und Schulen. Tübingen: Narr Francke Attempto.
Uçan, Y. (2022). Erziehungsziel Mehrsprachigkeit – Eine qualitative Studie zu Erziehung und Elternschaft im Kontext von Migration. Wiesbaden: Springer VS.
Winter, C. (2022). Mehrsprachigkeit im Spannungsfeld zwischen sprachlicher Ermächtigung und Othering – Eine ethnografische Studie im Elementarbereich. Wiesbaden: Springer VS.