Zusammenarbeit mit (mehrsprachigen) Familien – Alles eine Frage der Haltung?

Zusammenarbeit mit (mehrsprachigen) Familien – Alles eine Frage der Haltung?

von Prof. Dr. Timm Albers • Artikel im ZMI Magazin 2023, S. 10

Im Jugendamt einer nordrhein-westfälischen Stadt schildert eine Mutter eine Erfahrung, die sie vor einigen Jahren machen musste: „Wir hatten in der Kita meines Sohnes ein Elterncafé. Da konnte man sich super mit anderen Eltern und mit den Erzieherinnen und Erziehern austauschen. Ich selbst spreche türkisch und natürlich gab es auch andere Eltern, die türkisch sprechen konnten. Aber nicht in der Kita! Immer wenn wir türkische Wörter benutzt haben, mussten wir einen Euro in eine Spardose werfen.“ Die Mutter berichtet im Gespräch von ihrer Hilflosigkeit und dem Wunsch, diese Form der Diskriminierung öffentlich zu machen. In der Kommune ist es ihr dadurch gelungen, Impulse für die zukünftige konzeptionelle Ausrichtung einer sprachensensiblen Kindertagesbetreuung anzustoßen. Wie aber kann es gelingen, dass die Zusammenarbeit mit Familien in Bildungseinrichtungen auf Wertschätzung basiert? Wie zeichnet sich professionelles pädagogisches Handeln innerhalb migrationsgesellschaftlich geöffneter Kitas und Schulen aus?

Inklusive Haltung als Voraussetzung professionellen Handelns
Die wachsende – auch sprachliche – Vielfalt in Kindertageseinrichtungen und Schulen rückt in den letzten Jahren vermehrt in den Fokus bildungspolitischer und pädagogischer Maßnahmen. Als Grundlagen für eine gelingende Zusammenarbeit mit mehrsprachigen Familien werden dabei eine wertschätzende Haltung der pädagogischen Bezugspersonen und eine migrationsgesellschaftliche Öffnung der Bildungsinstitutionen gesehen (vgl. Hoeft et al., 2018).
Die Debatte um den Begriff Haltung ist häufig jedoch geprägt von normativen Zuschreibungen und dieser scheint eher als „Containerbegriff“ Verwendung zu finden, dem verschiedene Bedeutungen zugeschrieben werden. Kuhl et al. (2014) fassen den Begriff „professionelle Haltung“ als ein Muster von Einstellungen, Werten und Überzeugungen zusammen, die wie ein innerer Kompass das Urteilen und Handeln beeinflussen. Die professionelle Haltung wird damit als Eigenschaft einer Person verstanden, die von Kontextfaktoren abhängig ist und der professionellen Handlungskompetenz zugeschrieben werden kann. Verschiedene Kompetenzmodelle unterstreichen die Bedeutung von Einstellungen für das alltägliche pädagogische Handeln (vgl. z. B. Fröhlich-Gildhoff et al., 2011). Angenommen wird, dass die Haltung nicht statisch, sondern durch Reflexionsprozesse in Aus-, Fort- und Weiterbildungen veränderbar ist (vgl. Kuhl et al., 2014). Eine inklusive Haltung kann in diesem Verständnis als ein wertebasiertes, menschenrechtlich fundiertes Prinzip verstanden werden, bei dem sämtliche Dimensionen von Heterogenität als Erscheinungsformen von Vielfalt nicht nur akzeptiert, sondern auch als Bereicherung des gemeinschaftlichen Zusammenlebens gesehen werden. Zentral ist dabei, dass diese in ihrer Gleichwertigkeit anerkannt werden (vgl. Hoeft et al., 2018). So wird bei einer inklusiven Haltung im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit auf eine Hierarchisierung von verschiedenen Sprachen verzichtet. Alle Sprachen werden in ihrer identitätsstiftenden Funktion für Kinder und Familien gleichwertig anerkannt. Eine solche inklusive Haltung kann eine Brückenfunktion zwischen Familien und Institutionen einnehmen.
Empirische Erkenntnisse (vgl. z. B. Lunneblad, 2017) lassen sich allerdings dahingehend interpretieren, dass sich die Einstellungen von Pädagog*innen in Bezug auf die Gruppe der Kinder und die Gruppe der Eltern unterscheiden. Während auf der Kinderebene das Kind mit seinen Bedürfnissen und seiner Biografie im Fokus steht, zeigt sich auf der Ebene der Eltern verstärkt die Erwartung, dass diese sich an die institutionellen Rahmenbedingungen anpassen sollen. Die Analyse weiterer Studien zeigt, dass dabei häufig eine Defizitperspektive gegenüber zugewanderten Familien eingenommen wird (vgl. z. B. Sidhu & Taylor, 2016). Mehrsprachigkeit wird demzufolge als Nachteil verstanden, den es durch Sprachförderung in der Umgebungssprache zu kompensieren gelte. Auf der anderen Seite weisen Erkenntnisse aus der Umsetzung der mehrsprachig ausgerichteten Programme „Griffbereit“ und „Rucksack“ darauf hin, dass durch solche Programme Prozesse auf der Ebene der professionellen pädagogischen Haltung und im Hinblick auf die institutionelle Öffnung im Sinne einer Wertschätzung von Mehrsprachigkeit angestoßen werden können (vgl. Albers, 2022).

Mehrsprachige Programme als Brücke zu den Familien
Die in Nordrhein-Westfalen flächendeckend verbreiteten Programme „Griffbereit“ und „Rucksack“ verknüpfen den Ansatz mehrsprachiger Bildung mit einem Konzept diversitätsbewusster Zusammenarbeit mit Familien. Sie stärken somit die Bildungs- und Erziehungspartnerschaft zwischen Familien und Institutionen. Die „Griffbereit“-Gruppe ist eine mehrsprachige Eltern-Kind-Gruppe, die sich einmal wöchentlich trifft und in der alle Sprachen, welche die Familien mitbringen, parallel und gleichberechtigt neben dem Deutschen gefördert werden. Anhand von konkreten Spielvorschlägen führen Eltern Aktivitäten mit ihren Kindern durch, die von eigens dafür qualifizierten Elternbegleiter*innen angeleitet werden, in Deutsch und in der/den anderen Sprache(n). „Rucksack“ wird hingegen mehrdimensional durchgeführt: Hier treffen sich Eltern ebenfalls wöchentlich und für die Dauer von mindestens einem Jahr mit dem*der Elternbegleiter*in, um über verschiedene Themen rund um Erziehung und Bildung zu sprechen und gemeinsam Aktivitäten auszuprobieren und durchzuführen. Diese können die Eltern dann zu Hause mit ihren Kindern in den Familiensprachen wiederholen. Parallel zu der Arbeit in der Elterngruppe führen die pädagogischen Fachkräfte in der Kita oder Schule ebenfalls inhaltlich abgestimmte Aktivitäten durch, welche die Sprachbildung im Deutschen sowie die Pflege der Mehrsprachigkeit zum Ziel haben. Die Elternbegleiter*innen sind im Optimalfall mehrsprachige Eltern und/oder mehrsprachige professionelle Fachkräfte.
Die Ziele der Programme umfassen die allgemeine, alltagsintegrierte sprachliche Bildung und die Förderung der kindlichen Entwicklung. Eltern werden dabei als Expert*innen für die Erziehung ihrer Kinder und den Erwerb der Herkunfts- bzw. Familiensprachen angesprochen. Parallel werden die Kinder in der deutschen Sprache gefördert. Die Programme verfolgen neben der Sprachförderung das Ziel, Familien früh an das Bildungssystem heranzuführen. Auf diese Weise können sie die Bildungsinstitution (selbst) erleben und mitgestalten. Mit den Programmen „Griffbereit“ und „Rucksack“ soll den Forderungen nach einer wertschätzenden Haltung gegenüber mehrsprachigen Familien auf der einen Seite und den institutionellen Weiterentwicklungsprozessen auf der anderen Seite entsprochen werden.
Innerhalb der bundesweiten Verbreitung der Programme werden regelmäßig Befragungen durchgeführt, die sich unter anderem auf die Zusammenarbeit mit Familien und die Qualifizierung beziehen (vgl. Albers, 2022). Als wichtigste Themenbereiche innerhalb der Angebote für Elternbegleiter*innen und pädagogische Fachkräfte werden dabei Mehrsprachigkeit und Sprachbildung herausgestellt. Für eine gelingende Zusammenarbeit mit Familien nehmen die Elternbegleiter*innen eine zentrale Rolle ein. Die Partizipation von Familien baue nach Einschätzung der Befragten Zugangshürden deutlich ab. Nachfragen zur mehrsprachigen Erziehung können in der direkten Interaktion geklärt werden. Fotos und Bildmaterial von Gruppenstunden innerhalb einer Kommune bzw. einer Kita nehmen Eltern die Angst vor der Institution, vermitteln einen Einblick in die Gruppenatmosphäre und signalisieren, dass (sprachliche) Vielfalt ausdrücklich erwünscht ist.

Fazit
Die mehrsprachigen Programme „Griffbereit“ und „Rucksack“ sind in der Praxis bewährt und gehen mit positiven Effekten für die Kinder und die Zusammenarbeit mit Familien einher. Sie erreichen die Zielgruppe und sind in hohem Maße bei Familien akzeptiert. Die flexible Struktur erleichtert die Umsetzung entsprechend den individuellen lokalen Bedingungen. Durch die Qualitätsstandards ist bei der Übertragung der Programme gleichzeitig gewährleistet, dass sich die Wirkungen sowohl im Hinblick auf eine inklusive pädagogische Haltung der pädagogischen Bezugspersonen als auch auf die institutionelle Öffnung entfalten können. Somit kann durch solche Programme eine auf Wertschätzung basierende Zusammenarbeit mit Familien gelingen.

Literaturangaben
Albers, T. (2022). Bundestransfer der Programme Griffbereit und Rucksack KiTa. Wissenschaftliche Begleitung. Unveröffentlichter Abschlussbericht.
Fröhlich-Gildhoff, K.; Nentwig-Gesemann, I.; Pietsch, S. (2011). Kompetenzorientierung in der Qualifizierung frühpädagogischer Fachkräfte. Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte. WiFF Expertise, Band 19. München.
Hoeft, M.; Abendroth, S.; Piossek, A.-M. & Albers, T. (2018). Einstellungsmuster pädagogischer Kräfte zum Thema Integration von Kindern mit Fluchterfahrung in eine Kindertageseinrichtung. Zeitschrift Frühe Bildung, 7 (4), 191–198. Hogrefe Verlag.
Kuhl, J.; Schwer, C.; Solzbacher, C. (2014). Professionelle pädagogische Haltung: Versuch einer Definition des Begriffes und ausgewählte Konsequenzen für Haltung. In C. Schwer & C. Solzbacher (Hrsg.), Professionelle pädagogische Haltung. Historische, theoretische und empirische Zugänge zu einem viel strapazierten Begriff (S. 107–120). Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.
Lunneblad, J. (2017). Integration of refugee children and their families in the swedish preschool: Strategies, objectives and standards. European Early Childhood Education Research Journal, 25 (3), 359–369. Zugriff am 29.08.2022. Verfügbar unter http://dx.doi.org/10.1080/1350293X.2017.1308162.
Sidhu, R. & Taylor, S. (2016). Educational provision for refugee youth in Australia. Left to chance? Journal of Sociology, 43 (3), 283–300. https://doi.org/10.1177/1440783307080107.
Tietze, W.; Becker-Stoll, F.; Bensel, J.; Eckhardt, A.; Haug-Schnabel, G.; Kalicki, B.; Keller, H. & Leyendecker, B. (Hrsg.) (2013). Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit (NUBBEK). Weimar: Das Netz.