Bundesverband Russischsprachiger Eltern – vielseitige Unterstützung der Eltern mit Zuwanderungsgeschichte und Mehrsprachigkeit im Fokus
von Dr. Natalia Roesler • Artikel im ZMI Magazin 2023, S. 30
Der Bundesverband russischsprachiger Eltern (BVRE e. V.) wurde im Jahr 2010 in Weimar gegründet und hat seinen Hauptsitz in Köln. Er ist eine bundesweite Dachorganisation gemeinnütziger Vereine von Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, die aus Ländern gekommen sind, in denen Russisch als Erst- oder Zweitsprache gesprochen wird, oder in der Gesellschaft als Lingua franca verbreitet ist. In der Regel sind das Länder der ehemaligen Sowjetunion. Der Verband besteht zurzeit aus 52 Mitgliedern, die in vielen unterschiedlichen sozialen, kulturellen und Bildungsbereichen aktiv sind. Alle Mitgliedsvereine eint dabei das Ziel, gleiche Chancen für alle Eltern, Kinder und Jugendlichen unabhängig vom religiösen und ethnischen Status ihrer Familien zu erreichen. Dafür unterstützt der Verband insbesondere diejenigen russischsprachigen Familien in Deutschland, die sozial eher zu den sozial schwächeren gehören.
Der Bundesverband ist stark in der Community der Migrant*innenorgansiationen und anderer Integrationsakteure vernetzt. So ist der BVRE u.a. Gründungsmitglied von Bundeskonferenz der Migrant*innenorganisationen (BKMO) oder des Bundeselternnetzwerkes der Migrant*innenorganisationen für Bildung und Teilhabe (bbt e.V.).
Zu den vielfältigen Tätigkeitsbereichen des Verbandes gehören die Vertretung der Meinungen und Interessen seiner Mitglieder auf kommunaler, Länder-, Bundes- und internationaler Ebene, Projekte zur politischen oder ökologischen Bildung der Migrant*innen, zur beruflichen Integration der Zuwander*innen, zum Zusammenleben der Generationen und Vieles mehr. Seit dem Anfang der russischen militärischen Aggression gegen die Ukraine am 24.02.2022 engagiert sich der Verband stark in der Ukrainehilfe und unterstützt hiermit seine Ukrainisch sprechenden Mitglieder.
Ein Herzstück der Arbeit des Verbandes ist und bleibt allerdings die Bildungsarbeit für Kinder und Jugendliche sowie das Empowerment ihrer Eltern. Dabei wird der Verband von zwei folgenden Grundsätzen geleitet: Da der Bildungserfolg der Kinder in Deutschland immer noch stark von der Unterstützung durch die Eltern abhängt, wird Elternarbeit als ein wichtiger Baustein zur Verbesserung der Bildungssituation von Kindern verstanden und anerkannt. Der zweite Grundsatz fordert die gleiche Wertschätzung für die Muttersprache der Zuwander*innen als „Sprache des Herzens und der Gefühle“ und die Sprache der Aufnahmegesellschaft als „Sprache der Integration“. Die Förderung des Erhalts eigener Muttersprache und hiermit Förderung der Mehrsprachigkeit ist als ein wichtiger Beitrag zur Bereicherung der deutschen Gesellschaft und ihrer Vielfalt zu verstehen. Dabei soll es keine „besseren“ und „schlechteren“ zweiten und dritten Sprachen geben – die Förderung des Russischen, Türkischen oder Vietnamesischen ist genau so wichtig wie Förderung von Spanisch, Englisch oder Französisch. Die Verbreitung der Mehrsprachigkeit in Familien, Kindergärten und Schulen auf der Basis pädagogisch ausgereifter Konzepte ist in diesem Zusammenhang ein vorrangiges Anliegen des Verbandes.
Dieses Anliegen wird realisiert sowohl in der Tätigkeit der einzelnen Mitglieder vor Ort als auch in den bundesweiten Projekten des Verbandes. So haben fast alle Mitgliedervereine Angebote der bilingualen Bildung in ihrer Struktur: als Jugendzentren, Freizeitschulen, Clubs, Interessensgruppen, Ferienfahrten, Kulturfesten, Workshops etc., in denen Russisch (aber auch Ukrainisch, Tschetschenisch, Aserbaidschanisch etc.) gelernt und gepflegt wird. Im Wesentlichen sind das selbstorganisierte und auch von Eltern finanzierte Angebote der Nachmittags-, Wochenend- und Ferienförderung.
Die bundesweiten Angebote des Verbandes im Bereich Mehrsprachigkeit zielen darauf ab, die einzelnen Aktivitäten des Mitgliedes zu vernetzen, seine Mitarbeiter zu qualifizieren, neue Konzepte der Förderung der Mehrsprachigkeit zu entwickeln, die Eltern über diese Möglichkeiten zu informieren und in ihrem Bildungsauftrag zu stärken, sowie – last but not least – die Lobbyarbeit im Bereich staatlicher Förderung der Mehrsprachigkeit auf kommunaler, landes- und Bundesebene zu betreiben. Denn die Finanzierung der Förderung der Zuwanderermuttersprachen bleibt ein großes Problem. Zwar gibt es in einzelnen Bundesländern Programme dazu (wie z.B. „Europaschulen“ in Berlin), im Wesentlichen müssen allerdings immer noch die Eltern die organisatorische und finanzielle Hauptlast tragen.
Eine zweite große Baustelle ist die Öffnung der Bildungsstrukturen der vorschulischen und schulischen Bildung für die Förderung der Muttersprachlichkeit und die entsprechende Qualifizierung ihres Personals. Denn nach wie vor kommt es vor, dass den migrantischen Eltern in den Kitas oder Schulen gesagt wird, sie sollen „nur Deutsch“ mit ihren Kindern sprechen, obwohl diese Sichtweise längst wissenschaftlich widerlegt ist. Die Projekte des Verbandes haben vielmehr gezeigt, dass die Verbesserung der Sprachkenntnisse in der Muttersprache die Grundlagen für eine Verbesserung der deutschen Sprache legt. Das Selbstbewusstsein zweisprachiger Kinder wird gestärkt, weil sie damit erweiterte Möglichkeiten der sozialen Kommunikation erlangen.
Eines der ersten Vorhaben auf diesem Gebiet war Projekt „Mehrsprachigkeit als Brücke und Ressource zur Integration in Bildung und Beruf“ (2012 – 2015), finanziert aus Mitteln des Europäischen Integrationsfonds. Träger des Projektes war der Verein „Kompetenzzentrum Phoenix für berufliche Integration der Zuwanderer“ – Gründungsmitglied im BVRE. Das Projekt zielte auf die Unterstützung der Kinder in ihrer bilingualen Entwicklung ab und hatte einen bewussteren Umgang mit Sprache im Elternhaus und bei Erzieher*innen bzw. Grundschullehrer*innen, sowie die Qualifizierung von vielen ehrenamtlichen arbeitenden Personen innerhalb von Migrantenorganisationen im Fokus. Es wurden mehrere Workshops durchgeführt u.a. zu Themen: „Mehrsprachigkeit fördern. Konzepte und Methoden für die pädagogische Praxis“, „Mehrsprachigkeit aus der logopädischen Sicht: Das mehrsprachige Kind von 2-7 Jahren “, „Mehrsprachigkeit in der Schule am Beispiel des Schulsystems Nordrhein-Westfalens“, „Bilinguale Kindergartenprogramme – Mehrsprachigkeit nutzen“ oder etwa „Mehrsprachigkeit als Bereicherung für die deutsche Gesellschaft und Chance zur erfolgreichen Integration in Bildung und Beruf“.
Die wichtigsten Themen des Projektes wurden in den folgenden Jahren in mehreren weiteren Vorhaben des Verbandes verfolgt und weiterentwickelt. Zu erwähnen sind hier vor allem das zurzeit laufende Projekt „Strukturelle Stärkung der Elternarbeit und der Elternbildung (STEL, 2020-2022). Das Projekt beabsichtigt, Eltern mit Migrationshintergrund in ihrer Rolle als Erziehende zu unterstützen und sie für die Bildungsbedürfnisse ihrer Kinder zu sensibilisieren. Ein weiteres Projekt „KEBiK – Kompetente Eltern für die Bildung ihrer Kinder“, das vom BVRE in der Partnerrolle zu bbt. eV. umgesetzt wird, hat sich zum Ziel gesetzt, Informationen zum deutschen Bildungssystem mehrsprachig zu vermitteln und auf bereits bestehende Angebote vor Ort aufmerksam zu machen.