Interview mit Agnes Heuvelmann – Referatsleiterin für das Referat 623 – Kommunale Integrationszentren und Integration durch Bildung
Artikel im ZMI Magazin 2023, S. 8
Sehr geehrte Frau Heuvelmann, Sie sind lange Referatsleiterin für das Referat 623 – Kommunale Integrationszentren und Integration durch Bildung. Ihr Ministerium fördert seit Jahren das Thema Mehrsprachigkeit durch unterschiedliche Projekte, Kampagnen und Bildungskonzepte. Ist die Bildungslandschaft Ihrer Meinung nach ausreichend für das Thema sensibilisiert? Was könnte diesbezüglich noch initiiert werden?
Agnes Heuvelmann: Das ist richtig, in den Jahren, in denen ich im Integrationsministerium tätig bin, habe ich bereits einige Landesregierungen erlebt und ich kann sagen, dass für sie alle das Thema Förderung der Mehrsprachigkeit wichtig war. Natürlich gibt es Unterschiede, zum Beispiel verschiedene Akzente und Herangehensweisen zu dem Thema. im Grunde ist aber allen über die Parteigrenzen hinaus klar, dass Mehrsprachigkeit eine sehr wichtige Ressource ist. Darum wurde die Förderung der Mehrsprachigkeit auch ins Teilhabe- und Integrationsgesetz Nordrhein-Westfalens aufgenommen, als dieses zum 1. Januar 2022 neu aufgesetzt wurde. Die in diesem Jahr gewählte neue Landesregierung hat die Förderung der Mehrsprachigkeit zudem gleich mehrfach in ihrem Koalitionsvertrag verankert. Das ist natürlich ein richtig starkes Signal und zugleich ein großer Arbeitsauftrag an uns.
Aus meiner Sicht passiert im Bereich Mehrsprachigkeit und Bildung schon recht viel: Es gibt zum Beispiel Angebote, die Familien aufzeigen, wie sie alle ihre Familiensprachen im Umgang mit den Kindern anwenden und stärken können. Pädagogische Fachkräfte können spezielle Schulungen zum Thema Mehrsprachigkeit besuchen und immer mehr Bildungseinrichtungen beziehen die verschiedenen Sprachen der Kinder und Familien in ihren Alltag ein. Mehrsprachigkeit als ganzheitlicher und gemeinsamer Bildungsauftrag ist auch im KiBiz, dem Kinderbildungsgesetz in NRW, festgeschrieben. Natürlich ist da immer noch Luft nach oben. Mir ist aber wichtig, dass Mehrsprachigkeit nicht nur im Kontext von Bildung gesehen wird. Mehrsprachigkeit hat ja noch viel mehr Facetten: Sie ist ein Wirtschaftsfaktor, sie ist für die Wissenschaft unerlässlich und auch für die Verwaltung spielt sie eine große Rolle. In Krisensituationen wird uns das immer wieder besonders aufgezeigt, beispielsweise, wenn viele Menschen wegen eines Krieges zu uns kommen oder eine Pandemie die bisher vertrauten Kommunikationswege, z.B. die persönliche Beratung erschwert. Dann sehen wir, wie wichtig z. B. niedrigschwellige ehrenamtliche Sprachmittlung, also das mündliche Übertragen in der Übersetzungsarbeit ist. Über die Kommunalen Integrationszentren fördern wir diese ehrenamtliche Sprachmittlung schon seit Jahren in ganz Nordrhein-Westfalen. Denn nur, wenn man sich versteht, ist gesellschaftliche Teilhabe möglich. Ich wünsche mir, dass Mehrsprachigkeit als etwas Alltägliches anerkannt wird, weil ja nahezu alle Menschen mehrsprachig sind. Wir müssen nicht unterscheiden, wie oder in welchem Kontext wir eine Sprache lernen, ob in der Familie oder in den Bildungseinrichtungen, im sozialen Umfeld, im Beruf etc. Das ist unwichtig. Wichtig ist, dass wir uns verstehen und verstehen, wie wertvoll es ist, mehr als eine Sprache zu kennen. Jede Sprache kann neue Brücken bauen und Verständigung möglich machen. Kommunikation wird einfach, wenn man jemanden in „ihrer“ oder „seiner“ Sprache anspricht. Das müssen wir uns unbedingt zunutze machen. Hier sehe ich noch viel Handlungsbedarf, insbesondere auch in der Verwaltung.
Das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes NRW stärkt die Zusammenarbeit von Familien und Bildungseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen durch unterschiedliche Projekte und Programme. Wie schätzen Sie den Erfolg dieser Aktivitäten ein? Welche Herausforderungen ergeben sich in der Umsetzung?
Agnes Heuvelmann: Es ist uns ein ganz besonderes Anliegen, jeder Familie gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Das ist ein sehr wichtiger Schritt in der Integration. Darum müssen alle Familien, unabhängig von ihrer Herkunft oder den Sprachkenntnissen, gute Zugänge zu allen Bildungsinstitutionen erhalten. Dazu gehört es auch, dass sie frühzeitig Informationen bekommen, um gemeinsam mit ihren Kindern wichtige Entscheidung für deren Lebensweg zu treffen und mit den Institutionen Partnerschaften aufzubauen. Obwohl nahezu ein Drittel der Bevölkerung in Nordrhein-Westfalen eine internationale Familiengeschichte hat, spiegelt sich das beispielsweise nur wenig in Mitbestimmungsorganen öffentlicher Institutionen wider. Uns als Integrationsministerium ist es wichtig, das zu ändern. Dafür haben wir mit unterschiedlichen Partnern wie den Kommunalen Integrationszentren, Migrant:innenselbstorganisationen sowie Stiftungen und weiteren Kooperationspartnern wie dem Elternnetzwerk NRW spezielle Projekte und Konzepte ins Leben gerufen. Diese sprechen gezielt zugwanderte Familien an und informieren sie über die Mitwirkungsmöglichkeiten in Bildungseinrichtungen. Das stärkt die Selbstwirksamkeit der Familien und fördert eine gute Zusammenarbeit zwischen den Familien und den Institutionen und regt dadurch auch dazu an, gemeinsam diskriminierungskritische Bildungsansätze weiterzuentwickeln.
Sind weitere Projekte und Programme zum Thema Familienkooperation geplant?
Agnes Heuvelmann: Momentan arbeiten wir daran, das angesprochene Modellprojekt zur Partizipation von Familien „Eltern mischen mit“ an mehr Standorten dauerhaft umzusetzen. Denn der Bedarf dafür ist groß und besteht überall. Zudem wird mit „griffbereitMINI“, einem mehrsprachigen Programm für das wichtige erste Lebensjahr, das Angebot der durchgängigen Sprachbildung und Begleitung von Familien in NRW noch ausgeweitet.
Worauf sollten Bildungsakteur:innen achten, wenn sie ein Konzept zur Einbindung der mehrsprachigen Familien an ihrer Institution entwickeln und implementieren wollen?
Agnes Heuvelmann: Wie gesagt, Mehrsprachigkeit ist nicht auf Bildungsinstitutionen beschränkt. Jede Institution tut gut daran, sich eine Strategie zur Mehrsprachigkeit zu überlegen, um insbesondere zugewanderte Menschen gut zu erreichen. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass nicht über die Menschen gesprochen wird, sondern mit ihnen. Am besten bewähren sich Konzepte, die gemeinsam mit mehrsprachigen Personen entwickelt werden, weil diese die jeweiligen Bedarfe gut einschätzen können. Außerdem sind das Sichtbarmachen und Hörbarmachen ganz wichtige Punkte. Wenn am Eingang einer Behörde oder Kita „willkommen“ in „meiner“ Sprache steht, dann ist das ein ganz starkes Signal für mich. Es ist wie ein emotionaler Türöffner. Die Frage, wie und ob Ansprache, Informationsvermittlung und Angebote dann weiterhin mehrsprachig gestaltet werden, ist spannend und auch herausfordernd. Zudem ist es sehr wichtig, mehrsprachigen Menschen gegenüber nicht belehrend aufzutreten und keine Bewertung der verschiedenen Sprachen vorzunehmen. Natürlich müssen zugwanderte Menschen Deutsch lernen. Dafür müssen sie ihre Familiensprachen aber nicht aufgeben. Das ist die grundlegende Haltung, um ein Mehrsprachigkeitskonzept für eine Institution zu entwerfen.
Die vergangenen Jahre bargen viele Herausforderungen, insbesondere aufgrund von Pandemiesituation und Fluchtbewegung. Inwiefern trugen und tragen Netzwerke und Kooperationsgemeinschaften, wie zum Beispiel das ZMI, zu einer gelungenen Eingliederung neuzugewanderter Familien bei?
Agnes Heuvelmann: Netzwerke sind für alle Menschen sehr wichtig, denn wir sind soziale Wesen. Im Kontext der Migration spielen sie aber noch eine stärkere Rolle. Man ist mehr auf Unterstützung angewiesen, wenn man sich an einem neuen Ort orientieren und ganz essenzielle Fragen zu Wohnung, Kita- oder Schulplatz, Arbeit und Sprachkenntnissen klären und miteinander vereinbaren muss. Dabei spielen Einrichtungen, die schon viel Erfahrung in der Beratung zugewanderter Menschen und Familien haben und die deren Bedarfe gut kennen, natürlich eine zentrale Rolle. Und ich kann sagen, dass diese Einrichtungen sehr agil sind. Die Corona-Pandemie und der Zuzug Zuflucht suchender Menschen aufgrund der Kriege in Syrien oder der Ukraine passierten ohne lange Vorankündigung. Plötzlich mussten wir mit den neuen Gegebenheiten umgehen und da haben die Netzwerke ihre große Stärke gezeigt. Sehr schnell gab es in ganz NRW viele unterschiedliche und kreative Lösungen, wie die Hausaufgabenhilfe in sozialen Medien oder Quarantäneinformationen per Lautsprecherwagen. Ich bin sehr froh darüber, dass durchweg in allen Institutionen, die wir als Integrationsinfrastruktur bezeichnen, der Wille so groß ist, den neuzugwanderten Menschen zu helfen.
Das ZMI spielt hierbei eine bedeutende Rolle, denn hier arbeiten Akteur:innen mit einem gemeinsamen Ziel, aber mit unterschiedlichen Rollen und fachlichen Expertisen zusammen. Das Ziel ist die Förderung von Mehrsprachigkeit. Das ZMI betrachtet Mehrsprachigkeit aus den unterschiedlichen Perspektiven von Bildung und Integration. Dabei bezieht es sowohl die Landes- als auch die kommunale Ebene in seine Arbeit ein. Zudem bildet das Institut eine Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis. So schafft es das ZMI gesamte Bildungswege in den Blick zu nehmen und liefert uns in der Landesverwaltung wichtige Impulse für die Mehrsprachigkeitsförderung.
Frau Heuvelmann, vielen Dank für das Gespräch