Gemeinsames Menschsein – ein Blick auf Postmigration aus Achtsamkeitssicht

Gemeinsames Menschsein – ein Blick auf Postmigration aus Achtsamkeitssicht

von Tatini Petra Schmidt

Tatini Petra Schmidt ist Beraterin und Coachin für „Emotionale Weisheit und Kulturwandel in Unternehmen“. Dabei arbeitet sie unter anderem mit Methoden aus der Achtsamkeits- und Mitgefühlsforschung. Ihre Arbeit ist geprägt von einer wertschätzenden und offenen Grundhaltung, in der sich neue Wege des Miteinander Arbeitens und Seins eröffnen können. Im Beitrag wirft sie einen Blick auf Postmigration aus Achtsamkeitssicht und beschreibt aus dieser besonderen Perspektive heraus die Auseinandersetzung mit Postmigration als heilsamen gesellschaftlichen Prozess der Entwicklung von Verbundenheit.

Im Hier und Jetzt sein
Die Reflexion darüber, wie beim Blick auf eine postmigrantische Gesellschaft Kategorisierungen vorgenommen werden, wie auch ich selbst lange Zeit in Einordnungen von „Migrant:innen“ und „Nicht-Migrant:innen“, „Deutschsprachigen“ und „Nichtdeutschsprachigen“ dachte, brachte mich zum Nachdenken. Diese gedanklichen Grenzziehungen schienen mir nicht der Realität der postmigrantischen Gesellschaft zu entsprechen. Dies brachte mich dazu, nach Möglichkeiten zu suchen, um mich dem Thema Postmigration auf andere Weise zu nähern.
Ein möglicher Zugang zur Auseinandersetzung mit der postmigrantischen Gesellschaft findet sich durch die Methode der Achtsamkeit. Achtsamkeit beinhaltet, mich mit allen Sinnen im Hier und Jetzt zu befinden – auch auf der mentalen Ebene – und gleichzeitig zu beginnen, die Erinnerungen aus der Vergangenheit, das Erleben in der Gegenwart und die Potenziale aus der Zukunft wahrzunehmen. All diese Informationen nehmen Einfluss auf mein gegenwärtiges Erleben. Durch die Übung der Achtsamkeit wird mein Geist offen und meine Perspektive auf „miteinander Menschsein“ weitet sich: Auch ich lebe inmitten der postmigrantischen Gesellschaft und bin Teil von ihr.
Während der Achtsamkeitsübung tauchen auch Erinnerungen an meine Zeit als Krankenschwester in den 80er Jahren auf und an meine Kolleg:innen, die in den 70er Jahren aus Korea nach Deutschland migrierten. Während dieser Erinnerung wird mir bewusst, dass ich erneut in Kategorien denke – „WIR schätzen SIE als Kolleginnen“ und „SIE sind ja Teil von UNS geworden“ – und ich frage mich: Was geschieht gerade in meinem Geist?
Ich halte inne, spüre meine Atmung, werde aufmerksam für den gegenwärtigen Moment und beginne zu erkennen, wie ich mich als getrennt erlebt und verhalten habe.

Aspekte von Achtsamkeit
Victor Frankl, österreichischer Psychiater und Neurologe, verst. 1997, ist bekannt für das Zitat: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“
Die obige Abbildung veranschaulicht, wie dies auf die Auseinandersetzung mit Kategorisierungen im Kontext Postmigration übertragen werden kann:

Zwei relevante Aspekte der Achtsamkeit sind nun bereits deutlich geworden:

  • Im Hier und Jetzt sein.
  • Innehalten und aufmerksam werden, Raum lassen zwischen einer Begebenheit und der eigenen Reaktion.

Ein dritter Aspekt ist das „Nicht-Bewerten“. Dabei geht es darum, das Wahrgenommene und Erlebte nicht zu bewerten im Sinne einer Überbewertung, Ab- oder Entwertung, sondern zunächst einmal zu bemerken, was ist: Ich werde neugierig gegenüber allem, was ich im Augenblick wahrnehmen und erfahren kann mit einer Haltung von „Das ist ja interessant“, wenn etwas Unerwartetes oder Ungewohntes geschieht.

Bemerken, was ist – erinnern, was heilsam ist
Auf das „Bemerken was ist“ kann dann ein „Erinnern, was heilsam ist“ folgen. Die Methode der Achtsamkeit basiert auf der Annahme, dass Menschen von Geburt an den tiefen Wunsch haben, glücklich und frei von Leid zu sein und in Verbundenheit zu leben. Ein Gedanke kommt mir dazu in den Sinn: Vom Weltall aus gesehen auf die Erde blickend sehen wir keine Ländergrenzen.
Ich verstehe nun die Arbeit mit Postmigration als heilsamen gesellschaftlichen Prozess der Entwicklung von Verbundenheit und als Einladung zu einer Auseinandersetzung mit den eigenen Automatismen, insbesondere dort, wo ich trenne – durch meine Rede, meine Gedanken oder durch meine Überzeugungen. Heilsam ist, diese selbst verursachten mental-emotionalen Trennungen achtsam zu bemerken und sanft zu erkunden, was mich verunsichert und mir Angst macht an dem, was ich zunächst als „anders“ wahrnehme. Heilsam ist, dann die Verbundenheit zu suchen und meine Werte auf das gemeinsame Menschsein auszurichten, in den Dialog zu gehen und auch in der Mehrsprachigkeit die Gemeinsamkeit zu finden.