ZMI-Umfrage zu Postmigration und Mehrsprachigkeit

ZMI-Umfrage zu Postmigration und Mehrsprachigkeit

von Rahel Thiveßen

Wir leben in einer Gesellschaft, die durch die Erfahrung von Migration und durch Mehrsprachigkeit geprägt ist – in einer postmigrantischen Gesellschaft. Dabei wird der Begriff Postmigration nicht nur innerhalb der Wissenschaft aufgegriffen und diskutiert1, sondern auch von Akteur:innen in Politik und Bildungsinstitutionen, in Ämtern und Behörden, in den Medien und von Privatpersonen verwendet und dabei unterschiedlich gedeutet. Um mehr darüber zu erfahren, was mit dem Begriff Postmigration verbunden wird, welche typischen Merkmale mit einer postmigrantischen Gesellschaft assoziiert werden, welcher Stellenwert dabei der Mehrsprachigkeit zugeschrieben wird und welche Erwartungen und Wünsche in Bezug auf die postmigrantische Gesellschaft bestehen, hat das ZMI im Frühjahr 2024 im regelmäßigen ZMI-Newsletter eine Umfrage durchgeführt, an der sich viele Menschen rege beteiligt haben.

In den Ergebnissen der Umfrage wird deutlich, dass der Begriff Postmigration durch die Befragten nicht einheitlich definiert und unterschiedlich interpretiert wird. So wird Postmigration auf der einen Seite teilweise damit gleichgesetzt, dass „Migration […] zu Ende“2 sei und vereinzelt wird eine „erfolgreiche Integration“ damit assoziiert. Außerdem wird in vielen Rückmeldungen betont, dass die postmigrantische Gesellschaft „eine durch Migration geprägte Gesellschaft“ sei. Auf der anderen Seite wird hervorgehoben, dass Postmigration nicht bedeute, dass Migration vorbei sei. Eine Person formuliert es so:

„Eine postmigrantische Gesellschaft ist m. E. keine Gesellschaft ohne Zuwanderung, sondern eine Gesellschaft, die die Chancen der Vielfalt einer postmigrantischen Gesellschaft sieht und nutzt und zu einem professionellen Umgang mit den Problemen einer Zuwanderungsgesellschaft bereit und in der Lage ist.“

Spannend innerhalb der Umfrageergebnisse ist, dass auch der Begriff Postmigration selbst teilweise kritisch reflektiert wird und außerdem eine Abgrenzung von anderen Begriffen, wie beispielsweise „postkolonialistisch“ vorgenommen wird. Hier wird deutlich gemacht, dass „postmigrantisch“ nicht fehlinterpretiert werden dürfe. Es bedeute nicht, „dass es nicht mehr zu freiwilligen oder unfreiwilligen Wanderungsbewegungen kommt.“ Innerhalb der Umfrage wird zudem auf „Folgen, die aufgrund der Herkunft bzw. Migration entstanden sind“, hingewiesen und formuliert, „[d]ass nicht nur Bildung, Erziehung und Beschäftigung, sondern auch die medizinische Versorgung/Pflege immer mitgedacht wird“ (zum Thema diversitätssensible Altenhilfe und -pflege siehe auch den Beitrag „Guter Lebensabend NRW“ auf Seite 38 dieses Magazins). Zudem werden innerhalb der Antworten auch konkrete Aspekte als typisch für die postmigrantische Gesellschaft genannt, wie beispielsweise „Lebensmittelmärkte mit internationalem Angebot für den täglichen Bedarf“. Ebenso wird in den Antworten auf zeitliche Dimensionen Bezug genommen und Postmigration als „etwas, das aus der Vergangenheit kommt, aber weiterhin auf mich einwirkt“ und als „aktuelle Situation in Deutschland“ beschrieben. Eine mit Postmigration verbundene „Suche nach Orientierung“ sowie die „Überwindung von vielen Schwierigkeiten“ werden dabei ebenso benannt, wie die selbstverständliche Akzeptanz der „vielfältigen Familiengeschichten aller Mitglieder der Gesellschaft“ und das Erkennen des „Mehrwert[s] derselben für die gesamte Gesellschaft“. Begriffe wie „multikulturell“ und „Migration“ werden in vielen der Antworten reflektiert und dabei teils in Zusammenhang mit konkreten damit verknüpften Haltungen gebracht. Dabei wird die postmigrantische Gesellschaft auf der einen Seite als „offene multikulturelle Gesellschaft“ beschrieben und auf der andere Seite eine „Normalisierung der Migration und Überwindung der Mentalität ‚Wir und die Anderen‘“ mit Postmigration assoziiert. Ebenfalls werden unterschiedliche Perspektiven in Bezug auf „Integration“ deutlich. So wird an einer Stelle betont: „Integrationsprozesse rücken in den Vordergrund“. Gleichzeitig werden in einer anderen Antwort „Nachfahren von Zugewanderten“ benannt und formuliert: „Herkunft ist nicht so wichtig“. Auch die Begriffe „Vielfalt“ und „Individualität“ werden häufig aufgegriffen und zueinander in Bezug gesetzt, beispielsweise in der Formulierung „Mannigfaltigkeit, also Vereinzelung und Individualisierung in einer Vielheit“. Solche scheinbaren Ambivalenzen finden sich innerhalb der Antworten häufig. So werden beispielsweise als typische Merkmale der Postmigration „Chancen durch Vielfalt, aber auch Tendenz zur gesellschaftlichen Spaltung“, „Vielfalt, Konfrontation, Rassismus“ oder „im weitesten Sinne Verschiedenheit in einer mehr oder weniger ähnlichen Mehrheit“ formuliert. „Diversität, kulturelle Offenheit und Akzeptanz“ aber auch „Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Milieus auf unterschiedlichen Ebenen“ werden ebenfalls mit dem Begriff Postmigration verknüpft. Besonders deutlich wird, dass auch die Mehrsprachigkeit als typisches Merkmal einer postmigrantischen Gesellschaft genannt wird.
Welcher Stellenwert Mehrsprachigkeit in der postmigrantischen Gesellschaft zugeschrieben wird, unterscheidet sich allerdings innerhalb der Antworten je nachdem, welche Bedeutung mit Postmigration verknüpft wird. Befragte, die unter Postmigration verstehen, dass „Migration […] zu Ende“ sei, geben auch teilweise an, dass in der postmigrantischen Gesellschaft Mehrsprachigkeit „keinen Stellenwert“ habe, „da die Migration ja vorbei“ sei. Der überwiegende Teil der Antworten betont allerdings einen „hohen Stellenwert“ oder sogar „sehr hohen Stellenwert“ von Mehrsprachigkeit in der postmigrantischen Gesellschaft. So formuliert eine Person:

„Die Sprachen aus der Familiengeschichte bewahren, pflegen, achten, ist genauso wichtig, wie die Fotos/Videos der Vergangenheit zu sammeln.“

Hervorgehoben wird auch die Bedeutung von Mehrsprachigkeit für „die Stärkung des sozio-kulturellen Verständnisses“. „Mehrsprachigkeit eröffnet den eigenen Horizont, da [sie] den Zugang zu Denkweisen gibt“, beschreibt es eine befragte Person. Sie sei in einer postmigrantischen Gesellschaft „anerkannter individueller und gesellschaftlicher Vorteil“, formuliert es eine andere. Dabei wird neben der Wichtigkeit von Mehrsprachigkeit auch ihre „Normalität“ innerhalb der postmigrantischen Gesellschaft vielfach beschrieben: „Mehrsprachigkeit ist Realität“, „Norm, nicht Abweichung“, „eine Selbstverständlichkeit“ und „im besten Fall eine Alltäglichkeit“. Gleichzeitig wird in einer Antwort kritisch angemerkt: Mehrsprachigkeit „sollte einen hohen Stellenwert haben, dem ist aber nicht so“. Die Verbindung zwischen Postmigration und Mehrsprachigkeit wird in den Antworten vielfach dargestellt. So beschreibt eine Person: „Beide Realitäten gehören zusammen. Ohne Mehrsprachigkeit keine Postmigration und ohne Postmigration keine Normalisierung der Mehrsprachigkeit.“
Die abschließende Frage bezieht sich auf Zukunftsperspektiven und Wünsche für die postmigrantische Gesellschaft. Benannt werden dazu Begriffe wie „Kommunikation“ und „Offenheit“, „Akzeptanz“ und „Toleranz“. Gleichzeitig wird auch hier der mit dem Begriff Postmigration verbundene Diskurs in einzelnen Antworten kritisch reflektiert. Dabei wird der Wunsch geäußert, „ein entspanntes, weniger auf Konflikt über die Meinungsführerschaft ausgerichtetes Diskursklima in der Wissenschaft und [in der] mit den angesprochenen Fragen befassten Praxis“ zu erreichen. Die Wünsche derjenigen Personen, die den Begriff Postmigration im Rahmen der Umfrage zur Beschreibung der Lebensrealität nutzen, gehen dabei in eine ähnliche Richtung. So formuliert eine Person: „Ich wünsche mir mehr Dialog, mehr Austausch, mehr Miteinander, mehr gegenseitiges Verständnis, mehr Gemeinsamkeiten“. Eine andere wünscht sich „mehr Offenheit, miteinander in Kontakt treten ohne Scheuklappen, Angst und stereotype Vorstellungen“. Vielfach wird außerdem eine Verbindung zu „Migration“ hergestellt und teilweise vermutet, dass diese „noch zunehmen wird“. „Keine Erschwernis weiterer Migration“ wird in Hinblick auf Zukunftsperspektiven und Wünsche formuliert. Die Erwartung oder der Wunsch, dass „Begriffe wie Migrationshintergrund verschwinden und von wertschätzenden Begriffen ersetzt werden“, wird ebenfalls geäußert. Neben „mehr Normalität im Umgang mit Vielfalt“ und dem Abbau von „stereotypen Vorstellungen“ werden Wünsche nach „mehr Begegnung, mehr Aufklärung, mehr Geld für integrative Projekte“ oder „mehr Raum hinsichtlich der kulturellen Bereicherung in der öffentlichen Berichterstattung“ geäußert.
Mit Blick auf die Zukunft der postmigrantischen Gesellschaft wird innerhalb der Umfrageergebnisse ein Spannungsfeld zwischen „Konflikten“ und der „Hoffnung, dass sie friedlich und vielfältig gelöst werden“ erkennbar und auch Sorgen werden deutlich. „Die Zukunft aller offenen und pluralen Gesellschaften der Welt ist die Postmigration. Die Feinde der Demokratie gefährden das Miteinander in dieser faktenbasierten Zukunft“, formuliert es eine befragte Person und gibt direkt im Anschluss eine Aufforderung mit auf den Weg, an welchen Stellen angesetzt werden kann: „Bildung, Humanismus und strukturelle Transformation sind erforderlich.“ Überwiegend sehen die von uns Befragten der Zukunft der Postmigration zuversichtlich entgegen. So führt beispielsweise eine Person aus:

„Ich sehe die Zukunft der postmigrantischen Gesellschaft grundsätzlich optimistisch, weil wir über genügend Wissen und Können verfügen, um eine solche Gesellschaft solidarisch zu gestalten, und über viel bürgerschaftliches Engagement, um diese Entwicklung weiter zu unterstützen und gegenläufigen (nationalistischen) Tendenzen entgegenzuwirken. Ich wünsche mir, dass auch die postmigrantischen Gesellschaften demokratische, weltoffene und entwicklungsfähige Gesellschaften bleiben werden.“

Die Ergebnisse unserer Umfrage machen deutlich, dass eine Auseinandersetzung mit der postmigrantischen Lebensrealität und ihrer Zukunft derzeit stattfindet. Sie weisen darauf hin, dass die damit verbundenen Begrifflichkeiten reflektiert und Bedeutungen teils neu ausgehandelt werden. Und sie zeigen, dass eines dabei besonderen Wert hat: Der gegenseitige Austausch.

Wir bedanken uns – auch in diesem Sinne – ganz herzlich bei allen Personen, die an der Umfrage teilgenommenen haben und uns und unseren Leser:innen so einen wertvollen Einblick in ihre Gedanken zu Postmigration und Mehrsprachigkeit gewährt haben.


1 u. a.: Naika Foroutan (2010): Neue Deutsche, Postmigranten und Bindungs-Identitäten. Wer gehört zum neuen Deutschland? In: Bundeszentrale für politische Bildung (2024). online abrufbar unter: https://www.bpb.de/die-bpb/ueber-uns/service/impressum/; Naika Foroutan (2019): Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie. transcript Verlag: Bielefeld.

2 Die Zitate entstammen den Antworten aus der Umfrage. Rechtschreibfehler wurden dabei korrigiert und die Grammatik wurde teilweise durch die Autor:in an den Satzbau angepasst.