Führt der mehrsprachige Alltag zur Herausbildung hybrider Identitäten? Erkenntnisse aus Deutschrap und deutscher Jugendsprache

Führt der mehrsprachige Alltag zur Herausbildung hybrider Identitäten?
Erkenntnisse aus Deutschrap und deutscher Jugendsprache

von Dr. Aleksej Tikhonov

„Na, was machste heute Abend, Brátan?“ Zufällig hörte ich diesen Satz in einem Pausengespräch zwischen zwei Schülern am Jüdischen Gymnasium Moses Mendelssohn in Berlin, wo ich bis 2017 neben meinem Promotionsstudium in Slawischer Sprachwissenschaft an der Humboldt-Universität als Russischlehrer tätig war. Der Satz mit der Verwendung des russischen Wortes „Bratan“ (dt. Bruder) fiel dabei aus dem Mund eines Schülers, der weder Russischunterricht nahm noch selbst eine von Russisch beeinflusste Migrationsgeschichte hatte. Auffällig war auch die Betonung auf der ersten Silbe, denn in den ostslawischen Sprachen – dem Ukrainischen, Belarusischen1 und Russischen – liegt die Betonung auf der zweiten Silbe. Meine Neugierde über die Herkunft des Begriffs „Bratan“ und meine Nachfrage dazu führten schließlich zur Erklärung des Schülers: „Von Capi. Kennen Sie den?“ Er spielte auf den Rapper Capital Bra an, der auch als „Capi“ bekannt ist.
Davon motiviert befasste ich mich genauer mit den Lyrics von Capital Bra, der die abgekürzte Form von „Bratan“ bereits in seinem Künstlernamen trägt. Diese Episode aus meiner Lehrertätigkeit stellte damit den Beginn meiner Auseinandersetzung mit dem Einfluss slawischer Sprachen im Deutschrap dar und öffnete mir die Augen für dessen vielschichtigen, multilingualen Charakter.

Deutsch, Russisch, Türkisch, Englisch: Nur einige Sprachen des Deutschraps
Durch die Beschäftigung mit dem Einfluss slawischer Sprachen im Deutschrap eröffnete sich mir eine neue Welt. Neben Capital Bra war zu der Zeit Olexesh ein weiterer aufstrebender Rapper mit einer slawischen Migrationsgeschichte. Beide Rapper waren 2017 und 2018 gerade an der Schwelle aus der Unbekanntheit in das große Musikgeschäft. Im Gegensatz zu Rapper:innen, die es innerhalb der diasporaähnlichen Gruppen gab und gibt, richteten sich diese beiden an das deutschsprachige bzw. mehrsprachige Publikum. Die Basissprache ihrer Lyrics war und ist Deutsch, weist jedoch konstant lexikalische Entlehnungen aus ostslawischen und weiteren Sprachen auf: „Ja, der Bratan macht Para im Brennpunkt / Rede nicht, Bratan, du kennst uns“ (Capital Bra – Intro (Blyat) (2017); Herv. d. Verf.). „Bratan“ ist dabei eine der häufigsten Entlehnungen. Das Album, auf dem das Lied erschien, heißt „Блять/Blyat“, was je nach Kontext als Fluchwort („Scheiße“, „Verdammt“) oder als Beleidigung („H**e“; Zensuren hier und im Folgenden d. Verf.) übersetzt werden kann. Dass zu den slawischen Begriffen auch Entlehnungen aus anderen Sprachen hinzukommen, zeigt der türkische Begriff „Para“ (dt. Geld), der in der deutschen Jugendsprache verwendet wird.
Neben den lexikalischen Entlehnungen, die sich an die Regeln der Lautbildung (Phonetik), Rechtschreibung (Orthographie) und Wortbildung (Morphologie) des Deutschen anpassen, verwenden die Rapper aber auch ganze Textpassagen, die vom Russischen dominiert sind und nur einzelne deutschsprachige Aussagen und Entlehnungen aus dem Englischen enthalten:

„Привет мои друзья, я родился в Украине, / Сейчас мне 25, я живу в Германии, / Это мой первый Album, / Это всё, что я научилься в этой жизне, / „Вот это да“ или „ну это да!“ / Мне похуй – слушай. / […] Но все люди знают, просыпают утром, кто не знает, / В душ бля и чай через голову и всё хуярит, / […] ты прыгаешь как заяц, / Вот в начале, чё ты паришь,/ Erster Track auf Russisch mach ich, / Deep, hör den Slawenrap, er geht mir durch den Kopf, / И мне хуй на ментов, ich kenn‘ kein‘ Stopp. / Чё за шок, слушай мой звонок, / Мой восток, брат, я такой банкрот“ (Olexesh – Nu pagadi (2014); Herv. d. Verf.)
Innerhalb der 15 Zeilen switcht Olexesh sieben Mal zwischen Deutsch und Russisch und das manchmal innerhalb einer Zeile und bringt zudem an einer Stelle den englischen Begriff „Deep“ ein: „Hallo meine Freunde, ich wurde in der Ukraine geboren, / Jetzt bin ich 25, ich lebe in Deutschland, / Das ist mein erstes Russisch Album Deutsch / Das ist alles, was ich in diesem Leben gelernt habe, / „Das ist was“ oder „Nun ja!“ / Es ist mir scheißegal – hör zu. / […] Aber alle Menschen wissen es, sie stehen morgens zu spät auf, wer kennt das nicht, / In die verdammte Dusche und der Tee ballert durch den Kopf, / […], du springst wie ein Hase, / Es ist der Anfang, mach keinen Stress, Russisch / Erster Track auf Russisch mach ich, Deutsch / Deep, Englisch hör den Slawenrap, er geht mir durch den Kopf, Deutsch / Und die Bullen sind mir scheißegal, Russisch ich kenn‘ kein‘ Stopp. Deutsch / Was für ein Schock, höre auf meinen Klingelton, / Mein Osten, Bruder, ich bin so bankrott Russisch“

Sprachwissenschaftlicher Blick auf multilinguale Lyrics und hybride Identitäten im Deutschrap
Die Beispiele veranschaulichen eindrucksvoll, wie Mehrsprachigkeit in den Lyrics des Deutschraps zum Einsatz kommt. Doch stellt sich die Frage, ob diese Sprachpraxis gesellschaftliche Relevanz hat oder eine Randerscheinung darstellt. Eine mögliche Antwort liefern die Streamingzahlen der Künstler. Auf Spotify, der weltweit am häufigsten genutzten Streamingplattform für Musik (Hogan 2016, Zhang 2023), erreicht Olexesh rund 2,7 Millionen Hörer:innen pro Monat (Spotify 2024a), während Capital Bra etwa 3,2 Millionen monatliche Hörer:innen verzeichnet (Spotify 2024b). Doch es sind nicht nur die Streamingzahlen, die den Erfolg und damit die Relevanz belegen. Nach 13 Nummer-1-Hits in Deutschland, Österreich und der Schweiz innerhalb von 12 Monaten wurde Capital Bra 2018 bis 2019 zum erfolgreichsten Musiker Deutschlands im 21. Jahrhundert (Skrobala 2019, Wille 2021). Geboren in Russland, aufgewachsen in der Ukraine sowie in Deutschland und mit ukrainischer Staatsbürgerschaft verkörpert Capital Bra die diverse Popkultur Deutschlands und eine transnationale Familiengeschichte, womit er zu einer Identifikationsfigur für seine Hörer:innen wird.
Um sich den multilingualen Lyrics und der Frage nach hybriden Identitäten im Deutschrap auf sprachwissenschaftlicher Ebene zu nähern und konkrete wissenschaftlich fundierte Aussagen treffen zu können, bieten sich Methoden der Korpuslinguistik an. Dabei werden große Textsammlungen systematisch und sowohl qualitativ als auch quantitativ untersucht. Der Vergleich der Lyrics von Deutschrapper:innen mit Russisch (Olexesh, Capital Bra) und Polnisch (Schwesta Ewa, Krime) als Herkunftssprachen brachte diverse Erkenntnisse: Monolinguale Texte mit ca. 2 % bis 5 % und bilinguale Texte mit ca. 11 % bis 21 % sind eher die Ausnahme. Die Regel sind mit ca. 37 % bis 80 % der Lyrics Texte in vier oder mehr Sprachen (Tikhonov 2020). Zudem zeigte sich, dass Olexesh der einzige unter den vier Rapper:innen ist, der Englisch öfter als seine slawische Herkunftssprache verwendet. Da er sich selbst mehrmals als „Eminem von Deutschland“ bezeichnete, überrascht dies weniger. Beachtenswert ist jedoch, dass Schwesta Ewa, Capital Bra und Krime in ihren Lyrics öfter Türkisch als Englisch verwenden – in rund 50 % bis 60 % ihrer Lyrics findet sich Türkisch. Auf der anderen Seite zeigte sich auch, dass vor allem die deutsch-ostslawischen Rapper Olexesh und Capital Bra innerhalb ihrer Lyrics häufig zu konkreten Beschreibungen ihrer Identitätsmodelle greifen und sich selbst gleichzeitig als „Ukrainer“, „Russe“, „Azzlack“ (Kurzform für „Asozialer Kan*ke“), „Berliner“, „Frankfurter“ oder als „Russki Kan*k“ bezeichnen. Im Zusammenspiel mit den multilingualen Lyrics ergeben sich somit Identitätsentwürfe, die abseits fester nationaler und sprachlicher Kategorien existieren und zurecht als hybride Identitätsmodelle beschrieben werden können (ebd.).
In einem umfassenden slawischen Kontext, bei dem auch die Rapper:innen Ćelo, Haze und Haiyti mit einer südslawischen Herkunftssprache berücksichtigt wurden, brachte eine stylometrische Analyse überraschende Ergebnisse. Dabei wurden die Texte mit sprachstatistischen Mitteln in Hinblick auf ihre stilistische Distanz zueinander untersucht. Der jeweilige Stil der Texte wurde zudem in Bezug zu biographischen und sprachlichen Daten der Rapper:innen gesetzt und es zeigte sich, dass die Herkunftssprachen der Rapper:innen einen geringen Einfluss auf den Sprachstil der Lyrics haben. Den stärksten Einfluss hat der Sozialisierungsort bzw. die -region. So ließen sich die Lyrics in drei Kategorien unterteilen: Das norddeutsche, das südwestdeutsche und das Berliner Kontinuum (Tikhonov 2023). Der Befund zeigt damit deutlich, dass die Lyrics der Rapper:innen nicht als Lyrics russischer, ukrainischer, polnischer, bosnischer oder kroatischer Rapper:innen verstanden werden können, sondern ein fester Bestandteil urbaner deutscher Varietäten, wie dem Kiez-Deutschen (Wiese 2012), sind.

Von den Lyrics in die Jugendsprache und zurück?
Um diese Befunde zur Mehrsprachigkeit der Lyrics in Bezug auf ihre Relevanz für den alltäglichen (Jugend-)Sprachgebrauch zu untersuchen, bedarf es weiterer Daten, die idealerweise authentisch sind. Authentisch wäre in diesem Fall: nicht-lyrisch bzw. nicht-künstlerisch, von relativ jungen Menschen spontan produziert, aus der gleichen Zeit und in einem vergleichbaren Umfang. Dazu bieten YouTube-Kommentare die ideale Datenquelle, denn alle Voraussetzungen werden erfüllt und die Geburtsjahre der Kommentierenden beginnen nach Kaplan (2020) bei 1997 (ebd.). Die Kommentare unter den Videos der neun populärsten Deutschrapper:innen mit einer slawischen Herkunftssprache (Olexesh, Capital Bra, Kalazh 44, Badmómzjay, Katja Krasavice, Schwesta Ewa, RIN, Haze, Toni der Assi) dienen hierzu als Validierungskorpus. Die ersten Pilotexperimente zeigen, dass allein die slawische Wortwurzel <brat-> hohe Frequenzen aufweist. Bei knapp 255.000 untersuchten Wortformen aus den Kommentaren waren 1.238 Ergebnisse abgeleitet von <brat->. Relativ betrachtet wären es bei einer Korpusgröße von 1 Million Wörtern 4.246,95 Treffer, d. h. 0,42 % des Gesamtkorpus. Besonders spannend für die sprachwissenschaftliche Forschung ist hier der höchst kreative Umgang mit der morphologischen Produktivität. Während es von dem englischen Wort „Brother“ neun Ableitungen gibt und beim deutschen Wort „Bruder“ 14 Ableitungen vorhanden sind, kommt das slawische Pendant „Bratan“ auf mindestens 46 Ableitungen, darunter „bratastisch“, „bratisch“, „Bratina“, „Bratino“ und „Bratischkas“ (Tikhonov 2024). Ein umfassender Vergleich mit den Kommentaren unter den Videos der drei aktuell populärsten Deutschrapper ohne slawische Herkunftssprache (Luciano, RAF Camora, Apache 207) steht noch aus, die ersten Suchanfragen machen aber dieselbe Tendenz deutlich: Auch innerhalb der Kommentare unter den Videos dieser Rapper werden Begriffe verwendet und abgeleitet, die aus den slawischen Sprachen stammen.
Zu der Frage, wie die Entlehnungen den Deutschrap-Kosmos verlassen und in die allgemeine Jugendsprache gelangen, dient ein erster Entwurf eines Modells, das die Entlehnungsprozesse veranschaulicht:
Das Modell stellt dar, dass sprachliche Neologismen innerhalb des Raps eingeführt und dann durch das Publikum, vorrangig Personen der Gen Z (Geburtsjahre 1995 bis 2010), genutzt und durch neue sprachliche Ausdrücke ergänzt werden. Diese neuen Begriffe finden wiederum eine Verwendung im Rap und werden zugleich fester Bestandteil der Jugendsprache. Nach dem dritten Schritt des Modells folgen sicherlich auch weitere Schritte der Entlehnung und der Kodifizierung, wie das Beispiel „Babo“ (dt. Vater, Boss, Chef) aus dem Zazaischen zeigt, das in der Jugendsprache als Synonym für „Boss“ oder „Chef:in“ verwendet wurde und teilweise noch wird. Dabei gibt es auch hiervon mittlerweile Ableitungen, wie die Verwendung von „baba“ anstelle des Adverbs „sehr“ oder als Adjektiv anstelle von „gut“, „cool“ etc. Bekannt wurde der Begriff im deutschsprachigen Raum durch die Lyrics des Offenbacher Rappers Haftbefehl, 2013 wurde er zum Jugendwort des Jahres gewählt. Es ist demnach nicht unwahrscheinlich, dass auch „Bratan“ einen Duden- und Langenscheidt-Eintrag bekommt. In der Zwischenzeit wirken aber die Entlehnungen auch ohne eine solche Kodifizierung weiter. Sie werden mündlich und schriftlich weitergegeben und sorgen für mehr Sichtbarkeit, Teilhabe und letztendlich Emanzipation gerade derjenigen Sprachen, die gesellschaftlich immer noch als weniger prestigeträchtig angesehen werden, aber dennoch – nicht nur mit Blick auf die Sprecher:innenzahl in Deutschland, Österreich und der Schweiz – sozial, politisch und wirtschaftlich wichtig sind.


Literatur
Hogan, Molly. „Upstream Effects of the Streaming Revolution: A Look into the Law and Economics of a Spotify-Dominated Music Industry.” Colorado Technology Law Journal 14 (2016): 131.
Kaplan, Elaine Bell. „The Millennial/Gen Z Leftists Are Emerging: Are Sociologists Ready for Them?” Sociological Perspectives 63, no. 3 (June 1, 2020): 408–27.
https://doi.org/10.1177/0731121420915868.
Skrobala, Jurek. „Hip-Hopper Capital Bra hat in Deutschland mehr Charterfolge als die Beatles – wie kann das sein?” stern.de, August 17, 2019. https://www.stern.de/neon/feierabend/musik-literatur/capital-bra-hat-in-deutschland-riesenerfolg–wie-kann-das-sein–8848692.html.
Spotify. Das Musikerprofil von Olexesh. Zugriff am 08.10.2024, (2024a). https://open.spotify.com/intl-de/artist/2Z9KL8Zmqx5Sg3cd7Fldhl?si=S04KhvNLQHK9o_xjqrdusw
Spotify. Das Musikerprofil von Capital Bra. Zugriff am 08.10.2024, (2024b). https://open.spotify.com/intl-de/artist/4WZGDpNwrC0vNQyl9QzF7d?si=rfK_hUujQJ2v4w-UIPrUoA
Tikhonov, Aleksej. Multilingualism and identity in German Rap lyrics in the 21st century: Research on artists with Polish and Russian background. In: Gröndahl, S. & Dulić, T. (ed.): Multiethnica, Uppsala 2020.
Tikhonov, Aleksej. Multilingual practices of East & South Slavonic German rappers and the political aspects of their lyrics. In: Languages, Texts and Society: Political Crisis & Change. University of Nottingham, Nottingham 2023.
Tikhonov, Aleksej. Die slawischen Sprachen im Deutschrap: Ein fester Bestandteil der Jugendsprache oder “nur” ein popkulturelles Phänomen? In: Herkunftssprachlicher Unterricht (HSU) Interregio Fellowship (Postersession). Universität Duisburg-Essen, 2024.
Wiese, Heike. Kiezdeutsch Ein neuer Dialekt entsteht. 1. Auflage 2012. München: Verlag C.H.BECK Literatur – Sachbuch, Wissenschaft, 2012.
Wille, Robin. „Millionenumsätze mit Pizza, Eistee und Adidas: So macht Rapper Capital Bra neben der Musik Geschäfte.” Business Insider, 2021. https://www.businessinsider.de/wirtschaft/millionenumsaetze-mit-pizza-eistee-und-adidas-so-macht-rapper-capital-bra-neben-der-musik-geschaefte-e/.
Zhang, Wanqing. “Why Is Spotify One of the Most Successful Media Companies, and How Will It Thrive in the Future?” Interdisciplinary Humanities and Communication Studies 1, no. 4 (2023). https://doi.org/10.61173/qktv6r59.