Sprachliche Vielfalt in allen Lebensbereichen unserer Einwanderungsgesellschaft nutzen – gesellschaftlichen Zusammenhalt festigen
von Lorenz Bahr1 und Aslı Sevindim2
Festigung des gesellschaftlichen Zusammenhalts durch Mehrsprachigkeit
Das gegenseitige Verstehen ist der erste Schritt gelungener Kommunikation. Wenn Menschen dieselbe Sprache sprechen, ist die Wahrscheinlichkeit von Missverständnissen geringer. Versteht ein Mensch den anderen sprachlich, steigt auch das Verständnis für die Lage der anderen Person. Dies ist die Grundlage für Empathie und Hilfsbereitschaft.
Trifft ein Mensch, der neu in einem Land ankommt, auf Verständnis, hört oder liest er seine Herkunftssprache, dann fühlt er sich willkommen und verstanden. Das erleichtert die Kooperation und fördert die Zufriedenheit der einwandernden Person. Auf Verwaltung übertragen bedeutet das, dass für Einwandernde ohne Deutschkenntnisse durch mehrsprachige Maßnahmen und Angebote Verwaltungshandeln nachvollziehbar wird. Das wiederum intensiviert das Vertrauen in staatliche Institutionen. Zudem fördert es bei den Menschen, die nach Deutschland kommen und noch kein Deutsch sprechen oder verstehen, das Gefühl, dennoch willkommen zu sein. Dies trägt insgesamt zu einem höheren gesellschaftlichen Zusammenhalt bei.
Unterschiedliche sprachliche Ressourcen und deren praktische Anwendung, insbesondere in staatlichen Institutionen, sollten daher breit gefördert werden. Verwaltungen – speziell Behörden mit viel Kontakt zu Bürger:innen – sind für die Zukunft gut aufgestellt, wenn sie in ihren internen Leitlinien und Dienstvereinbarungen einen lösungsorientierten Umgang mit den mehrsprachigen Ressourcen ihrer Mitarbeiter:innen sowie mit mehrsprachigen Instrumenten festlegen.
Sprachliche Vielfalt ist Teil unserer Lebensrealität und ein absoluter Gewinn für uns alle als Gesellschaft. Je mehr Sprachen wir als Einzelpersonen sprechen, desto mehr Menschen verstehen wir – nicht nur auf der rein sprachlichen Ebene. Andere Menschen, die dieselbe Sprache sprechen, kommen uns näher und wir können mehr über sie selbst erfahren, aber auch über die Länder, in denen die jeweilige Sprache vornehmlich gesprochen wird. Wenn wir eine Sprache lernen, können wir Informationen darin wahrnehmen und recherchieren. Wir eröffnen uns neue Horizonte.
Mit einer neuen Sprache lernen wir mehr über ihre Sprecher:innen und es fällt uns leichter, ihre Haltung oder Meinung zumindest nachzuvollziehen. Dieses Nachempfinden und Hineinversetzen sind grundlegende Bausteine einer offenen, demokratischen, diskriminierungsfreien und diversitätssensiblen Gesellschaft. Ein weiterer Baustein ist die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft. Jedem Menschen, der nach Deutschland kommt, soll möglichst von Anfang an gesellschaftliche Teilhabe und Mitgestaltung ermöglicht werden. Dafür ist eine weitgehend uneingeschränkte sprachliche Verständigung unerlässlich. Selbstverständlich sollen alle Menschen, die einwandern, Deutsch lernen. Aber das ist ein langfristiger Prozess. Noch fehlende Deutschkenntnisse sollten nicht bedeuten, dass man von Informationen oder Angeboten vollständig ausgeschlossen ist. In einer gleichberechtigten, demokratischen Gesellschaft darf es keine Diskriminierung aufgrund von Sprachkenntnissen geben; insbesondere, da es durch Dolmetscher:innen sowie Übersetzer:innen und mithilfe technischer Lösungen generell möglich ist, eine einwandfreie Kommunikation in nahezu allen Lebenslagen sicherzustellen.
Wer seine Mitmenschen versteht und im wahrsten Sinne des Wortes mitreden kann, kann sich beteiligen, also tatsächlich teilhaben. Teilhabe ist eine Grundvoraussetzung für Demokratie, denn Demokratie lebt von reger Beteiligung. Die Förderung sprachlicher Vielfalt geht also mit Demokratieförderung einher und sollte darum Leitlinie aller Demokrat:innen sowie staatlichen Handelns sein.
In Nordrhein-Westfalen sind wir dahingehend auf einem guten Weg, es liegt aber noch eine gewisse Strecke vor uns bis zur sprachlich diskriminierungsfreien und teilhabegerechten Gesellschaft.
Sprachliche Vielfalt in unserer Gesellschaft
Deutschland ist wie nahezu alle Staaten auf der Welt seit jeher ein mehrsprachiges Land. Es gibt Sprachen und Dialekte, die schon sehr lange hier gesprochen werden (z.B. das Hochdeutsche, die Niederdeutschen Sprachen, die Friesischen Sprachen, die Sorbischen Sprachen) sowie Sprachen, die erst nach und nach durch die Einwanderung ihrer Sprecher:innen nach Deutschland gekommen sind. Dasselbe gilt für Nordrhein-Westfalen: Unser Bundesland ist nicht nur im Hinblick auf die Herkunft der Menschen, die hier leben, vielfältig, sondern auch in Bezug auf die hier gesprochenen Sprachen. Auf den Straßen unserer Städte und Gemeinden hört man Niederrheinisch, Türkisch, Russisch, Westfälisch, Arabisch, Polnisch, Rheinisch, Ukrainisch, Rumänisch und viele weitere Sprachen und Dialekte. Mehr noch, es finden sich Plakate, Werbung, Informationen und Hinweise in unterschiedlichen Sprachen in und an öffentlichen Gebäuden, Einkaufsläden, Kirchen, Moscheen und Synagogen, Arztpraxen, Bildungseinrichtungen, Litfaßsäulen, öffentlichen Verkehrsmitteln und Haltestellen. An Verkaufsautomaten kann man zumeist eine von mehreren Sprachen für die Transaktion auswählen. Wir sind also täglich umgeben von unterschiedlichen Sprachen – Mehrsprachigkeit ist überall. Und sie umfasst alle Sprachen, auch Deutsch.
Diese Sprachen leben, sie werden gesprochen und geschrieben, in ihnen wird gedichtet und gesungen und sie werden von Generation und Generation weitergegeben. Familien in Nordrhein-Westfalen können mit ihren Kindern schon ab der Geburt an diversen mehrsprachigen Spielgruppen und Sprachbildungsangeboten teilnehmen. „griffbereitMINI“ (für Kinder im ersten Lebensjahr), „Griffbereit“ (für Kinder im Alter von 1-3 Jahren), „Rucksack KiTa“ (für Kinder im Alter von 4-6 Jahren) und „Rucksack Schule“ (Grundschulkinder) sind von der Landesregierung über die Kommunalen Integrationszentren geförderte Familienbildungsprogramme mit einem speziellen Fokus auf mehrsprachigen Spracherwerb. Durch diese Programme kommen (Klein-)Kinder aus Familien mit Einwanderungsgeschichte schon sehr früh mit der deutschen Sprache und Kinder ohne Einwanderungsgeschichte mit weiteren Sprachen in Kontakt. Die Programme werden in Kindertageseinrichtungen oder Schulen, in Familienzentren, Familienbildungsstätten und Migrant:in-nenselbstorganisationen durchgeführt. Die Eltern fungieren dabei als Expert:innen für die Erziehung ihrer Kinder sowie für das Erlernen der Familiensprachen. Die Familien werden in den Programmen von speziell ausgebildeten Elternbegleiter:innen angeleitet. „griffbereitMINI“ wird in NRW aktuell in vier Sprachen3 angeboten, die Programme „Griffbereit“ und „Rucksack KiTa“ werden hierzulande in jeweils über 30 Sprachen und Dialekten4 durchgeführt. In den Jahren 2023 und 2024 haben in unserem Bundesland 6.544 Familien mit insgesamt 7.170 Kindern im Vorschulalter an diesen mehrsprachigen Bildungsprogrammen teilgenommen. Diese Familien haben ihre mehrsprachigen Kompetenzen auf- und ausgebaut, indem sie miteinander gespielt, gebastelt und gesungen haben.
Für Grundschüler:innen ist das Landesprogramm „Rucksack Schule“ ein weiteres mehrsprachiges Bildungsangebot. Es unterstützt die durchgängige sprachliche Bildung der Kinder und greift Themenbereiche des Schulunterrichts auf. Das Programm richtet sich an Schüler:innen der ersten bis vierten Jahrgangsstufe, deren Familien sowie die jeweilige Grundschule. In „Rucksack Schule“ werden Unterrichtsinhalte für Kinder und ihre Eltern sprachsensibel in der deutschen Bildungssprache und in den jeweiligen Familiensprachen zeitlich und inhaltlich koordiniert im Rahmen des Klassenunterrichts, des Herkunftssprachlichen Unterrichts (HSU) und der Elterngruppe vermittelt. Dabei kommen Materialien zum Einsatz, die an die Unterrichtsinhalte anknüpfen und Anregungen für Aktivitäten mit den Kindern geben. Auch in diesem Programm unterstützen qualifizierte Elternbegleiter:innen die Familien.
Nicht nur in außerschulischen Bildungsprogrammen wird Mehrsprachigkeit gelebt und gefördert. Schulen selbst leisten einen großen Beitrag zur Kompetenzerweiterung in unterschiedlichen Sprachen und somit zur Mehrsprachigkeit in unserem Land. Die meisten Schüler:innen in Nordrhein-Westfalens Schulen lernen ab der dritten Grundschulklasse Englisch. In weiteren Schuljahren kommen oft Französisch, Spanisch, Italienisch, Russisch, Latein, Chinesisch, Altgriechisch, Griechisch, Hebräisch, Japanisch, Niederländisch oder Türkisch dazu. All diese Sprachen kann man an nordrhein-westfälischen Schulen im Rahmen des sog. Fremdsprachenunterrichts lernen und sogar Zertifikate dafür erwerben. Zudem nehmen über hunderttausend Schüler:innen sowohl an Grundschulen wie auch an weiterführenden Schulen in NRW am Herkunftssprachlichen Unterricht teil, der von der Landesregierung gefördert wird. Im Schuljahr 2023/2024 haben insgesamt 106.708 (2022/2023: 102.340) Schüler:innen den HSU besucht, der in 30 Sprachen angeboten wird 5.
Aber nicht nur Schüler:innen erweitern ihre sprachlichen Kompetenzen. So weist die Volkshochschulstatistik Nordrhein-Westfalen für 2023 aus, dass 345.178 Personen an einem Sprachkurs in einer von über 28 Sprachen an einer Volkshochschule (VHS) teilgenommen haben. Mehrsprachigkeit ist somit kein Merkmal, welches nur Menschen mit Einwanderungsgeschichte aufweisen.
Interkulturelle Öffnung der Verwaltung unter sprachlichen Aspekten
Da Mehrsprachigkeit in unserer Gesellschaft Realität ist und nahezu alle Menschen betrifft, ist es nur folgerichtig, dass sich auch die Landesregierung damit befasst. Im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien für Nordrhein-Westfalen von 2022 sind die Förderung und Nutzung der Potenziale von Mehrsprachigkeit als Ziele formuliert. Darüber hinaus macht die Landesregierung ihr Verständnis von Mehrsprachigkeit als einer Gegebenheit der Einwanderungsgesellschaft in NRW deutlich und spricht sich dafür aus, dass sich Mehrsprachigkeit stärker im Verwaltungshandeln der Landesbehörden niederschlägt. Dies ist gleichzusetzen mit einer interkulturellen Öffnung der Landesverwaltung unter sprachlichen Aspekten.
Nicht nur im Hinblick auf Sprache ist es erforderlich, dass Verwaltung sich auf allen Ebenen – ob in der Kommune, im Land oder im Bund – an die Gesellschaft anpasst. Der Aufbau von interkultureller Kompetenz und Diversitätssensibilität bei den in den jeweiligen Verwaltungseinheiten Beschäftigten ist notwendig für ein auch zukünftig effektives Verwaltungshandeln. Diese Kompetenzen tragen nämlich maßgeblich zum gegenseitigen Verständnis und somit zu einer besseren Verständigung bei. Die Etablierung von Mehrsprachigkeit in der Verwaltung ist zum einen Ausdruck einer gewissen Serviceorientierung gegenüber allen Bürger:innen und Bestandteil einer modernen Willkommenskultur gegenüber Einwandernden, zum anderen wird damit Wertschätzung gegenüber den mehrsprachigen Menschen in unserer Gesellschaft ausgedrückt. Ganz konkret kann die interkulturelle Öffnung der Verwaltung unter sprachlichen Aspekten so aussehen, dass Mitarbeiter:innen einer Verwaltung ihre mehrsprachigen Ressourcen im dienstlichen Kontext nutzen, um Kommunikation zu ermöglichen. Außerdem können Informationen und Formulare sowohl auf Deutsch wie auch in anderen Sprachen zur Verfügung gestellt werden. Verwaltungen können professionelle Dolmetscher:innen einstellen, die die Kommunikation in den Institutionen unterstützen.
Seit 2016 finanziert die Landesregierung Nordrhein-Westfalens die Laiensprachmittlerpools bei den Kommunalen Integrationszentren (KI). Die in den Laiensprachmittlerpools tätigen Ehrenamtlichen sind mehrsprachig und unterstützen Eingewanderte, die nur wenig oder keine Deutschkenntnisse haben, bei der Kommunikation mit öffentlichen Einrichtungen, Beratungsstellen und Behörden in niedrigschwelligen Gesprächen ohne Rechtsfolgen. Die ehrenamtlichen Sprachmittler:innen können von Mitarbeitenden der Verwaltung für einzelne Einsätze angefordert werden. Die Kommunalen Integrationszentren qualifizieren und begleiten die in der Sprachmittlung tätigen Ehrenamtlichen und koordinieren deren Einsätze. Laiensprachmittlerpools gibt es bei 49 der insgesamt 54 Kommunalen Integrationszentren in Nordrhein-Westfalen. Sie umfassen Sprecher:innen von 128 verschiedenen Sprachen und Dialekten. Diejenigen KI, die keinen Laiensprachmittlerpool betreiben, bieten andere Sprachmittlungsangebote an.
Auch die Nutzung entsprechender Hard- oder Softwarelösungen zum Dolmetschen oder die Inanspruchnahme von Telefon- oder Video-Dolmetschdiensten ist in Verwaltungen möglich und wird dort teilweise schon praktiziert.
Die Mehrsprachigkeit einer Verwaltung stellt den Status des Deutschen als Amtssprache nicht infrage. Alle beschriebenen Maßnahmen dienen dazu, Kommunikation auf Deutsch zu ergänzen – nicht dazu, sie zu unterbinden. Deutschsprechen gehört selbstverständlich zum Leben in Deutschland dazu, aber Deutschlernen beansprucht Zeit. Da aber Einwandernde schon zu Beginn ihres Aufenthalts in Deutschland, auch in NRW, viele Verwaltungsakte bei unterschiedlichen Behörden ausführen müssen, wie z. B. die Anmeldung eines Wohnsitzes, die Unterzeichnung eines Arbeitsvertrags oder ggf. eine Kita- oder Schulanmeldung, ist es ihnen oft nicht möglich, dies alles bereits auf Deutsch zu bewältigen. Um die Verwaltungsprozesse zu beschleunigen und den Einwandernden deren Verständnis zu erleichtern, ist der Einsatz mehrsprachiger Ressourcen in der Verwaltung notwendig. Um diese Notwendigkeit symbolisch zum Ausdruck zu bringen, hat die nordrhein-westfälische Landesregierung das Motto „MehrSprachig in die Zukunft“ eingeführt und flankiert seine Nutzung mit diesem Logo:
Nordrhein-Westfalen ist vielfältig – auch sprachlich. Diese Vielfalt sehen wir als eine große Stärke an, die uns auf dem Weg zu einer sprachlich gleichberechtigten, demokratischen und zusammenhaltenden Gesellschaft begleitet.
1 Lorenz Bahr ist Staatssekretär im Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen.
2 Aslı Sevindim ist Leiterin der Integrationsabteilung im Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen.
3 griffbereitMini: Arabisch (Hocharabisch), Französisch, Deutsch, Türkisch
4 Griffbereit: Afrikaans, Ägyptisch-Arabisch, Albanisch, Algerisch-Arabisch, Arabisch (Hocharabisch), Aserbaidschanisch, Berberisch/Berbisch, Bosnisch, Bulgarisch, Dari, Deutsch, Englisch, Fante, Farsi, Französisch, Griechisch, Hindi, Italienisch, Kroatisch, Kurmandschi (Nordkurdisch), Marokkanisch-Arabisch, Panjabi, Persisch, Polnisch, Portugiesisch, Romanes, Rumänisch, Russisch, Serbisch, Somali, Südkurdisch, Swahili, Syrisch-Arabisch, Tigrinya, Tschechisch, Tunesisch-Arabisch, Türkisch, Ukrainisch, Ungarisch
Rucksack KiTa: Afrikaans, Ägyptisch-Arabisch, Albanisch, Algerisch-Arabisch, Arabisch (Hocharabisch), Berberisch, Bosnisch, Bulgarisch, Dari, Deutsch, Englisch, Farsi, Französisch, Hindi, Italienisch, Kurmandschi (Nordkurdisch), Panjabi, Persisch, Polnisch, Portugiesisch, Rumänisch, Russisch, Serbisch, Singhalesisch, Somali, Sorani (Zentralkurdisch), Spanisch, Südkurdisch, Syrisch-Arabisch, Tigrinya, Türkisch, Ukrainisch
5 HSU: Albanisch, Arabisch, Aramäisch, Bosnisch, Bulgarisch, Chinesisch, Farsi/Dari, Französisch, Griechisch, Italienisch, Japanisch, Koreanisch, Kroatisch, Kurdisch, Kurmanci, Mazedonisch, Niederländisch, Polnisch, Portugiesisch, Romanes, Rumänisch, Russisch, Serbisch, Sorani, Spanisch, Thai, Türkisch, Ukrainisch, Ungarisch und Zazaisch