Postmigration als Realität einer modernen Stadtgesellschaft denken
von Prof. Dr. Kemal Bozay
Die Prozesse der Globalisierung, Pluralisierung und Transformation haben in den letzten Jahrzehnten in verschiedenen modernen Gesellschaften tiefgreifende Veränderungen in kultureller, ökonomischer und politischer Hinsicht bewirkt. Wichtige Aspekte dieser Dynamik sind zweifelsohne die Migrations- und Fluchtbewegungen, die maßgeblich zur kulturellen Diversifizierung der westeuropäischen Gesellschaften beigetragen haben. So hatten im Jahr 2021 in Deutschland über 28 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund, was bedeutet, dass ihre familiären Wurzeln und zu großen Teilen auch sozialen Bindungen jenseits des deutschen Nationalstaats liegen (BAMF 2022: 168). In einer Großstadt wie Köln haben sogar 42,4 Prozent aller Einwohner:innen einen Migrationshintergrund (Stadt Köln 2024: o. S.). Dies verdeutlicht nicht nur, dass Migration ein grundlegendes Element der Stadtgesellschaften ist, sondern auch, dass traditionelle nationale Konzepte von Gesellschaften, aber auch klassische kommunale Integrationskonzepte, zunehmend an Aussagekraft verlieren und neue moderne Begriffe, Diskurse und Konzepte erforderlich machen.
Paul Mecheril (2010: 11) fasst die vielfältigen Bedeutungen, die mit dem Begriff „Migration“ in diesem Kontext einhergehen, zusammen:
„Der Ausdruck ‚Migration‘ ist somit allgemeiner als Ausdrücke wie ‚Zuwanderung‘ oder ‚Einwanderung‘ und ermöglicht damit, dass eine Vielfalt gesellschaftlicher Phänomene zum Thema werden kann. Mit dem Ausdruck ‚Migration‘ ist eine allgemeine Perspektive verbunden, mit der Phänomene erfasst werden, die für eine Migrationsgesellschaft kennzeichnend sind, wie beispielsweise: Phänomene der Ein- und Auswanderung sowie die Pendelmigration, Formen regulärer und irregulärer Migration, Vermischung von Sprachen und kulturellen Praktiken als Folge von Wanderungen, Entstehung von Zwischenwelten und Fremdheit, Strukturen und Prozesse alltäglichen Rassismus, Konstruktionen des und der Fremden, Erschaffung neuer Formen von Ethnizität.“
Dies verdeutlicht, dass Migration gegenwärtig nachhaltige kulturelle, politische und soziale Veränderungen hervorruft und eine Neuaushandlung und Anpassung von Zugehörigkeiten, gesellschaftlicher Teilhabe und sozialer Gerechtigkeit erfordert.
Was bedeutet „postmigrantische Gesellschaft“?
Der Begriff „postmigrantisch“ wurde in Deutschland zunächst 2008 durch die Berliner Theater-Intendantin Shermin Langhoff bekannt, die ihr Theater Ballhaus Naunynstraße als „postmigrantisches Theater“ bezeichnete. Langhoff wollte damit die Geschichten und Perspektiven derjenigen in den Vordergrund stellen, „die selbst nicht mehr migriert sind, aber diesen Migrationshintergrund als persönliches Wissen und kollektive Erinnerung mitbringen“ (Langhoff 2011: o. S.).
Im wissenschaftlichen und politischen Diskurs wurde die Bezeichnung „postmigrantische Gesellschaft“ durch die Soziologin Naika Foroutan diskutiert und weiter vertieft. Sie beschreibt damit eine Gesellschaft, in der Migration nicht mehr als Ausnahmezustand oder Übergangsphase betrachtet wird, sondern als ein dauerhaftes und strukturelles Merkmal der Gesellschaft. Das Präfix „post“ bezieht sich dabei auf die gesellschaftlichen Verhandlungsprozesse, die nach der Migration stattfinden (vgl. Foroutan 2019). In einer postmigrantischen Gesellschaft geht es daher nicht mehr um die Frage, wie Migrant:innen integriert werden können, sondern darum, wie sich die gesamte Gesellschaft durch die Migration verändert hat und weiter verändert. Es wird anerkannt, dass Migration nicht nur Menschen mit internationaler Familiengeschichte betrifft, sondern die Stadtgesellschaften insgesamt prägt – kulturell, sozial, politisch und ökonomisch.
Die Stadtgesellschaft als Spiegel der postmigrantischen Realität
Stadtgesellschaften bieten Orte und Räume, an denen sich die Diversität der postmigrantischen Gesellschaft besonders deutlich zeigt. Sie sind zugleich Begegnungsorte für Menschen mit unterschiedlichen Geschichten, unterschiedlicher Herkunft, kulturellen Prägungen und Religionen und bieten Raum für ein vielfältiges Miteinander. In diesen Räumen wird die postmigrantische Realität besonders spürbar, da hier die Vielfalt der Gesellschaft im Alltag erlebt und gelebt wird. Gleichzeitig müssen die von Diversität und Heterogenität geprägten Stadtgesellschaften auch soziale, ökonomische und demografische Differenzen ausbalancieren. In einer diversitätssensiblen Stadtgesellschaft sollte daher Vielfalt als Ressource betrachtet werden, um die darin liegenden Potenziale zu erkennen, zu fördern und zu aktivieren.
Ein wichtiger Aspekt hierbei ist die Stadtentwicklung. Sie beeinflusst die Art und Weise, wie Städte geplant und gestaltet werden. Stadtplanung muss heute mehr denn je die Bedürfnisse einer diversen Bevölkerung berücksichtigen. Das betrifft nicht nur die Schaffung von Wohnraum, sondern auch die Gestaltung öffentlicher Räume, die für alle Menschen einladend, zugänglich und nutzbar sind. Eine diversitätssensible Stadtentwicklung achtet darauf, dass öffentliche Plätze Orte des Austauschs und der Begegnung sind, an denen sich alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft oder sozialen Stellung wohlfühlen können. Solche Räume fördern nicht nur das Zusammenleben, sondern auch das Verständnis und die Akzeptanz zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen.
Impulse für ein diversitätssensibles Konzept der postmigrantischen Stadtgesellschaft
- Die Realität der diversen und heterogenen Stadtgesellschaften zeigt, dass herkömmliche städtische Integrationskonzepte, die oft auf der Annahme basieren, dass es eine homogene Mehrheitsgesellschaft gäbe, in die sich sogenannte Minderheiten zu integrieren hätten, veraltet sind und zu kurz greifen.
- Migrationsprozesse bilden dem Konzept der postmigrantischen Gesellschaft nach eine dauerhafte Realität: Menschen mit und ohne internationale Familiengeschichte gehören gleichermaßen zur Stadtgesellschaft. Anders als traditionelle Integrationsansätze setzt dieses Konzept auf die Anerkennung und Förderung der Partizipation aller Menschen, unabhängig von ihrer Herkunftsgeschichte und der kulturellen und religiösen Prägung.
- Moderne diversitätssensible Konzepte der postmigrantischen Gesellschaft sind rassismus- und diskriminierungskritisch. Sie hinterfragen und dekonstruieren bestehende Machtstrukturen und Privilegien, die oft zu systematischen Benachteiligungen und Diskriminierungen führen.
- Ein weiteres wichtiges Element der postmigrantischen Gesellschaft ist die Förderung einer diversitätssensiblen Identitätspolitik, die nicht auf Exklusion, Abwertung oder Polarisierung setzt, sondern auf Dialog und Austausch. So besitzen in Stadtgesellschaften junge Menschen mit internationaler Familiengeschichte oft hybride Identitäten und wachsen mehrsprachig auf, wobei sie vielfältige kulturelle Perspektiven und Erfahrungen vereinen (vgl. Foroutan 2013).
- In einer diversitätssensiblen postmigrantischen Stadtgesellschaft sollte auch die Erinnerungskultur und -arbeit umfassend weitergedacht und neugestaltet werden. Es ist notwendig, Erinnerungsorte zu schaffen, die die vielfältigen Migrationsbewegungen und die damit verbundenen Geschichten sichtbar machen und würdigen.
Diversitätssensible postmigrantische Stadtgesellschaft als Herausforderung
Die Entwicklung einer diversitätssensiblen postmigrantischen Stadtgesellschaft erfordert zweifelsohne ein grundlegendes Umdenken, das weit über traditionelle Integrationsansätze hinausgeht und die gesamte Stadtgesellschaft in ihrer Vielfalt neu denkt und gestaltet. Dieses Umdenken bedeutet auch, dass Städte ihre Rolle als Orte des Zusammenlebens und der Begegnung neu definieren und verorten müssen. Hierbei geht es nicht nur darum, Diversität zu tolerieren oder zu akzeptieren, sondern aktiv und proaktiv Räume zu schaffen, in denen alle Menschen, unabhängig von ihrem kulturellen, religiösen, ökonomischen oder sozialen Hintergrund, ihre Potenziale entfalten und am städtischen Leben teilnehmen können. Um dieses Ziel zu erreichen, ist ein enges Zusammenwirken zwischen Stadtstrukturen, Kommunalpolitik und zivilgesellschaftlichen Akteuren erforderlich. Stadtverwaltungen müssen diversitätssensible Maßnahmen in ihre Planungen und Entscheidungsprozesse integrieren, während die Kommunalpolitik sich dafür einsetzen sollte, dass die Belange aller Bevölkerungsgruppen gleichermaßen berücksichtigt werden. Zivilgesellschaftliche Akteure, darunter Wohlfahrtsverbände, gemeinnützige Vereine, Migrant:innenselbstorganisationen, Initiativen und postmigrantische Bewegungen wie neue deutsche organisationen1, spielen eine Schlüsselrolle, indem sie als Brückenbauer:innen zwischen verschiedenen Adressat:innengruppen fungieren, Aufklärungsarbeit leisten und Räume für den Austausch innerhalb der postmigrantischen Gesellschaft öffnen.
1 Das postmigrantische Netzwerk neue deutsche organisationen (ndo) ist ein bundesweiter Zusammenschluss, der über 200 Vereine, Organisationen und Projekte umfasst. ndo vereint Nachkommen von Arbeitsmigrant:innen, Geflüchteten, Sintizze, Rom*nja, afrodiasporische Menschen sowie jüdische, muslimische und andere gesellschaftlich engagierte Gruppen. Viele Mitglieder identifizieren sich als Personen of Color (PoC), Schwarze Menschen oder Bindestrich-Deutsche. Das Netzwerk versteht sich als Teil einer postmigrantischen Bewegung, die sich gegen Rassismus einsetzt und für ein inklusives Deutschland engagiert (vgl. https://www.neue-deutsche-organisationen.de/).
Quellen:
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF] (2022). Migrationsbericht der Bundesregierung 2021, www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/Migrationsberichte/migrationsbericht-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=10.http://dx.doi.org/10.5771/9783748911784-127-1 [zuletzt abgerufen: 02.09.2024].
Foroutan, Naika (2019). Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie. Bielefeld: transcript.
Foroutan, Naika (2013). Hybride Identitäten. Normalisierung, Konfliktfaktor und Ressource in postmigrantischen Gesellschaften. In H. U. Brinkmann & H.-H. Uslucan (Hrsg.), Dabeisein und dazugehören: Integration in Deutschland (S. 85–99). Wiesbaden: Springer VS.
Langhoff, Shermin (2011). Die Herkunft spielt keine Rolle – „Postmigrantisches“ Theater im Ballhaus Naunynstraße, Bundeszentrale für politische Bildung, 10. März 2011, https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/60135/die-herkunft-spielt-keine-rolle-postmigrantisches-theater-im-ballhaus-naunynstrasse/?p=all [zuletzt abgerufen: 30.08.2024].
Mecheril, Paul u. a. (2010). Migrationspädagogik. Weinheim & Basel: Beltz.
Stadt Köln (2024). Bevölkerung in Köln 2023, 17.04.2024, https://www.stadt-koeln.de/politik-und-verwaltung/presse/mitteilungen/26657/index.html#:~:text=Einen%20Migrationshintergrund%20hatten%2042%2C4,(20%2C9%20Prozent).&text=Im%20Jahr%202023%20gab%20es,Jahren%20(2022%3A%209.811)
[zuletzt abgerufen: 02.09.2024].