Mehrsprachige Kompetenzen diagnostizieren: Ein innovatives Unterstützungsangebot für Lehrkräfte
von Dr. Christina Winter, Dr. Marco Triulzi, Dr. Erol Hacısalihoğlu und Abdullah Bakkar
„Ich hatte nicht erwartet, dass in der Entwicklung mehrsprachiger Verfahren nur wenige Tests zur Verfügung stehen und hier noch einige Entwicklungsarbeit geleistet werden muss.“
In einer zunehmend diversen Gesellschaft wird die Förderung der sprachlichen und fachlichen Kompetenzen mehrsprachiger Schüler:innen immer wichtiger. Sprachdiagnostik, d. h. die systematische Erfassung vorhandener sprachlicher Fähigkeiten, ist dabei ein zentrales Instrument. Um für den Unterricht notwendige sprachbildende Unterstützungsmaßnahmen abzuleiten, darf Sprachdiagnostik nicht nur die deutsche Sprache erfassen, sondern muss auch die lebensweltliche Mehrsprachigkeit der Schüler:innen berücksichtigen (Gogolin et al. 2023). Dies bedeutet, dass auch die Kompetenz in ihrem gesamtsprachlichen Repertoire einschließlich der Herkunftssprache(n) der Schüler:innen systematisch erfasst werden muss – eine Aufgabe, die bislang oft an fehlenden Instrumenten und unzureichenden Professionalisierungsangeboten für Lehrkräfte scheitert.
Überwindung monolingualer Normen
Traditionelle sprachdiagnostische Verfahren orientieren sich häufig an monolingualen Normen, sind also auf einsprachigen Spracherwerb ausgerichtet, und berücksichtigen selten die sprachliche Vielfalt der Lernenden (Paetsch & Heppt 2023). Mit einem dezidierten Fokus auf Deutsch bzw. Deutsch als Zweitsprache werden die Kompetenzen mehrsprachiger Schüler:innen nicht umfassend erfasst. Derzeit werden vor allem Einstufungen entlang des „Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens“ vorgenommen, die zwar eine wertvolle Orientierung bieten, aber keine differenzierten Aussagen über die gesamten sprachlichen Fähigkeiten der Lernenden ermöglichen. Zwar existieren durchaus einige mehrsprachige Diagnostikinstrumente, jedoch sind diese eher für den Elementar- oder Primarbereich konzipiert, umfassen wenige weitere Sprachen oder erfassen häufig die mündliche Sprachkompetenz (Jeuk & Settinieri 2019). Infolgedessen bedarf es einerseits einer Weiterentwicklung mehrsprachiger Diagnostikinstrumente. Andererseits müssen Lehrkräfte in die Lage versetzt werden, vorhandene Instrumente für ihre Lerngruppen anzupassen.
Besonders Beobachtungsverfahren und Profilanalysen bieten das Potenzial, für andere Sprachen bedingt angepasst zu werden. Sie orientieren sich an individuellen und sachlichen Bezugsnormen und ermöglichen die Feststellung individueller Entwicklungen. Auch Test- und Screeningverfahren sind prinzipiell in weitere Sprachen übertragbar, bedürfen aber einer sorgfältigen Anpassung der Testfragen bzw. -aufgaben. Auch die Überprüfung des Testverfahrens und die Sicherstellung der Vergleichbarkeit müssen entsprechend überarbeitet werden, um verlässliche Aussagen treffen zu können.
Das Unterstützungsangebot zu mehrsprachiger Sprachdiagnostik
Vor diesem Hintergrund wurde 2023 an der Universität zu Köln in Kooperation mit dem ZMI Köln ein innovatives Unterstützungsangebot für Lehrkräfte initiiert. Ziel ist es, die Lehrkräfte zu befähigen, eine umfassende Diagnostik der gesamtsprachlichen Fähigkeiten ihrer Schüler:innen durchzuführen.
Das Angebot zielt darauf ab, die sprachwissenschaftlichen Grundkenntnisse der Lehrkräfte zu erweitern, ihre sprachdiagnostischen Kompetenzen im Hinblick auf die individuellen Voraussetzungen der Schüler:innen zu steigern sowie ihr Bewusstsein für Mehrsprachigkeit zu schärfen. Dabei werden die Prinzipien des forschenden Lernens angewandt, indem Lehrkräfte selbstständig und wissenschaftlich begleitet sprachdiagnostische Methoden anwenden und Problemlösungskompetenzen entwickeln. Die Lehrkräfte nehmen nicht nur theoretisches Wissen auf, sondern wenden dieses direkt im eigenen Unterrichtsalltag an und reflektieren es anschließend in der Seminargruppe. Das Seminar umfasst vier Monate und besteht aus vier Selbstlernphasen (insgesamt 16 Stunden) sowie aus fünf Präsenzterminen (insgesamt 20 Stunden) und beinhaltet eine Einführung, E-Learning-Einheiten zu sprachlichen und sprachdiagnostischen Grundlagen sowie Präsenzveranstaltungen im Flipped-Classroom-Format. Dabei erarbeiten die Teilnehmenden theoretische Inhalte selbstständig im Voraus, um sie in den Präsenzveranstaltungen in handlungsorientierten Gruppenarbeiten praktisch zu erproben und zu diskutieren. Im ersten Durchgang nahmen 16 Grundschullehrkräfte teil, darunter Deutschlehrkräfte sowie Lehrkräfte für Italienisch als Herkunftssprache und Türkisch als Herkunftssprache. Begleitet von Online-Beratungsterminen reflektierten sie ihre Erfahrungen bei der Erprobung verschiedener Instrumente in ihren Lerngruppen. Der Wechsel von Input-, Anwendungs- und Reflexionsphasen förderte eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Thema.
Eine positive Bilanz
Die Fortbildung war sehr bereichernd.
Ich habe neue sprachdiagnostische Verfahren erlernt und
werde sie in meinem Unterricht einsetzen.“
Die Bilanz des Unterstützungsangebots ist durchweg positiv. Die Lehrkräfte zeigten großes Engagement und erprobten in ihren Klassen verschiedene Diagnostikinstrumente, die sie kritisch auf die jeweilige Herkunftssprache anzupassen versuchten. Besonders fruchtbar war die Diskussion in der mehrsprachigen Seminargruppe. Hier wurden z. B. unterschiedliche sprachliche Strukturen und Besonderheiten verglichen, was die Sprachbewusstheit sowohl der Teilnehmenden als auch der Seminarleitung erhöhte. Durch die intensive Auseinandersetzung und den kontinuierlichen Austausch konnten die Teilnehmenden ihre diagnostische Kompetenz weiterentwickeln und gemeinsam kreative Lösungen für spezifische Herausforderungen erproben. Insbesondere die Teilnahme in Teams derselben Schulen wurde als positiv erachtet. Es wurde jedoch deutlich, dass es weiteren Professionalisierungs- und Austauschbedarf gibt, mehr Zeit für die Planung und Umsetzung mehrsprachiger Diagnostik im Unterricht benötigt wird und sich Lehrkräfte weitere Fortbildungsmöglichkeiten wünschen. Insgesamt leistete der Workshop einen wertvollen Beitrag zur Professionalisierung der Lehrkräfte im Bereich der Sprachdiagnostik. Das Unterstützungsangebot gibt damit auch einen wichtigen Impuls für die Weiterentwicklung der Sprachdiagnostik unter Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit. Derzeit wird an einer Fortsetzung und Weiterentwicklung dieses Angebotes gearbeitet.
Literatur:
Gogolin, I., Krüger-Potratz, M., Redder, A. & Roth, H.-J. (2023). Sprache, Mehrsprachigkeit und Bildung – Kontinuitäten und Diskontinuitäten.
In M. Becker-Mrotzek, I. Gogolin, H.-J. Roth & P. Stanat (Hrsg.), Grundlagen der sprachlichen Bildung (S. 27–51). Waxmann. DOI: 10.25656/01:28183
Jeuk, S. & Settinieri, J. (Hrsg.) (2019). Sprachdiagnostik Deutsch als Zweitsprache: Ein Handbuch. De Gruyter Mouton.
DOI: https://doi.org/10.1515/9783110418712
Paetsch, J. & Heppt, B. (2023). Sprachdiagnostik. In M. Becker-Mrotzek, I. Gogolin, H.-J. Roth & P. Stanat (Hrsg.),
Grundlagen der sprachlichen Bildung (S. 119–135). Waxmann. DOI: 10.25656/01:28183