Interview mit Prof. Dr. Aysun Doğmuş, Professorin für Erziehungswissenschaft im Fachgebiet Lehren und Lernen in der Migrationsgesellschaft

Interview mit Prof. Dr. Aysun Doğmuş, Professorin für Erziehungswissenschaft im Fachgebiet Lehren und Lernen in der Migrationsgesellschaft

Das Gespräch führte die Geschäftsführung des ZMI

Prof. Dr. Aysun Doğmuş ist Professorin für Erziehungswissenschaft und leitet das Fachgebiet Lehren und Lernen in der Migrationsgesellschaft an der TU Berlin. Davor hatte sie die Vertretung der Professur Schultheorie und empirische Schulforschung im Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissenschaften an der Universität Bremen inne. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem auf Professionalisierungsprozessen im Kontext von Migrationsverhältnissen, Rassismus und Intersektionalität. Sie beschäftigt sich mit migrationsgesellschaftlichen Konstellationen und deren Rassismusrelevanz in Bildungskontexten der Schule und der Lehrer:innenbildung. In ihrer Dissertation hat sie zum Thema „Professionalisierung in Migrationsverhältnisse(n) – Eine rassismuskritische Perspektive auf das Referendariat angehender Lehrer:innen“ geforscht. Im Gespräch mit dem ZMI spricht sie über ihre Beweggründe zur Auseinandersetzung mit dieser Thematik, über Macht-Verhältnisse und die Verwobenheit von Rassismus in der Gesellschaft sowie über mögliche Herausforderungen und Stellschrauben, um die Bildungschancen von Kindern zu verbessern.

ZMI: Das diesjährige Jahresschwerpunktthema des ZMI ist „Postmigration und Mehrsprachigkeit im Fokus“. Die Beschäftigung mit dem Begriff „Postmigration“ führt unweigerlich auch zu den Begriffen „Diskriminierung“, „Rassismus“ und „Einwanderungsgesellschaft“ sowie der Frage, wie man die postmigrantische Gesellschaft lebt. Sie haben Ihre Dissertation über „Professionalisierung in Migrationsverhältnisse(n) – Eine rassismuskritische Perspektive auf das Referendariat angehender Lehrer:innen“ geschrieben. Was waren Ihre Beweggründe, sich mit der Thematik zu befassen?
Prof. Dr. Aysun Doğmuş: Ich komme selbst aus der Soziologie und habe in den Erziehungswissenschaften promoviert. Hinzu kommt, dass für mich Rassismus in unserer Gesellschaft auch lebensweltlich ein großes Thema ist. Eine postmigrantische Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der das Sein und Werden unter Bedingungen von Rassismus stattfindet. Neben dem lebensweltlichen Bezug hatte ich den Wunsch, mich wissenschaftlich mit Rassismus auseinanderzusetzen. Arbeiten von Annita Kalpaka, Maisha Auma, Birgit Rommelspacher, Özlem Otyakmaz, Mark Terkessidis (2004: Die Banalität des Rassismus) und auch Paul Mecheril (2003: Prekäre Verhältnisse. Über natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit) haben mich geprägt. Gleichzeitig gab es in dieser Zeit auch die Diskussion um mehr Lehrkräfte mit Migrationshintergrund und ich habe mir die Frage gestellt, wie hier die Migrantisierung von Lehrer:innen und angehenden Lehrer:innen stattfindet. So hat sich für mich herauskristallisiert, dass ich mich vor allen Dingen mit dem Referendariat beschäftigen möchte. Das Referendariat stellt eine enorm wichtige Phase zwischen Studium und Beruf dar. Es ist eine Phase der Distinktion, die darüber entscheidet, wer in den Lehrer:innenberuf Eintritt erhält, und in der angehende Lehrer:innen ein professionelles Selbstverständnis entwickeln. Mein Interesse war: Wie (re-)produziert sich eigentlich Rassismus im Referendariat? Wo gibt es aber auch Irritationen und Widerstandsmomente und wie sind diese eingebettet?

ZMI: Im Sommersemester 2022 waren Sie als Vertretung der W3 Professur Schultheorie und empirische Schulforschung im Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissenschaften der Universität Bremen tätig. Seit Juni 2023 sind Sie Professorin für Erziehungswissenschaft – Lehren und Lernen in der
Migrationsgesellschaft an der TU Berlin. Viele Lehrstühle befassen sich in Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion um Begriffe wie „Interkulturelle Bildung“ mit der Umbenennung bzw. Neuausrichtung der Lehrstühle. Sehen Sie hier ein Statement der TU Berlin?
Prof. Dr. Aysun Doğmuş: Ja, ich würde sagen, das ist ein Statement der TU Berlin, das sich einreiht in andere Denominationen von Professuren, die vorher „Interkulturelle Erziehung“ oder „Interkulturelle Bildung“ hießen. Es ist auch ein Statement der Kolleg:innen am Institut für Erziehungswissenschaft, denn letztlich wird die Denomination der Professuren von denjenigen entwickelt, die vor Ort sind und eine solche Professur beantragen. Den Begriff
„Migrationsgesellschaft“, der aktuell auch viel verwendet wird, kopple ich gleichzeitig sehr stark an die migrationspädagogische Perspektive. Ausgedrückt ist damit dann nicht nur, dass wir eine Gesellschaft sind, in der viele migrantische Menschen leben oder in der es Einwanderung gibt, sondern Fragen von Fremdheitskonstruktionen, Rassismen, Mehrsprachigkeit und hybriden Identitäten sind dabei mit angesprochen. Die Denomination ist auch ein Statement, weil die Begriffe Lehren und Lernen enthalten sind. Ich verstehe sie in ihrer Verwobenheit: Wie sind Lehrende vielleicht auch Lernende innerhalb ihrer Verantwortung als Lehrende. Durch diese Benennung können Lehr-Lern-Verhältnisse produktiv als Verhältnisse und unter Bedingungen der Migrationsgesellschaft reflektiert werden. Mit der migrationsgesellschaftlichen Perspektive ist stärker als mit der interkulturellen Perspektive die Frage aufgerufen, wie Migration innerhalb der Gesellschaft verhandelt wird. Der in der interkulturellen Perspektive enthaltene Kulturbegriff ist höchst problematisch, wenn er statisch im Sinne einer Identitätsbeschreibung verwendet wird, die nationale Vorstellungen widerspiegelt. Mit der interkulturellen Bildung oder Pädagogik ist außerdem ein anderer Fokus auf Lehr-Lern-Verhältnisse und das Professionsverständnis gesetzt. Auch das Verständnis von Rassismus ist ein anderes. Wenn wir uns frühere Arbeiten der Interkulturellen Pädagogik anschauen, gibt es zwar eine Thematisierung von Diskriminierung, aber diese wird stärker als Diskriminierung des Anderen betrachtet. Damit in Zusammenhang stehende Begriffe wie „Ausländerfeindlichkeit“ und „Fremdenfeindlichkeit“ reproduzieren im Grunde die Konstruktion des Fremden und verkennen die Wirkungsweise von Rassismus. Die Interkulturelle Pädagogik hat der Defizitperspektive der sogenannten Ausländer- oder Assimilationspädagogik eine Positivperspektive gegenübergestellt. Doch Rassismus braucht zunächst keine Positiv- oder Negativbewertung und kann auch dann wirken, wenn ich wohlwollend bin und keine rassistische Motivation vorliegt. Eine Denomination, wie die der TU Berlin in „Lehren und Lernen in der Migrationsgesellschaft“, drückt ein Bewusstsein für diese strukturelle gesellschaftliche Verwobenheit von Rassismus und seine Wirkungsweise aus – und das sehe ich als wichtiges Statement an.

ZMI: Sie beschäftigen sich mit professionellem pädagogischen Handeln und sind seit einem Jahr als Professorin an der TU Berlin in diesem Kontext tätig. Wo sehen Sie die großen Herausforderungen und Stellschrauben, um die Bildungschancen von Kindern zu verbessern?
Prof. Dr. Aysun Doğmuş: Eine Problematik, die ich sehe, ist die Individualisierung von Professionalisierung, bspw., wenn Professionalisierung mit dem Erwerb vorab definierter Kompetenzen verknüpft wird. Ich verstehe Professionalisierung hingegen auch als soziale Praxis, die eingebunden ist in gesellschaftliche Situiertheiten, in gesellschaftliche Verhältnisse und in die Institution Schule. Es kann beispielsweise sein, dass ich als Lehrkraft eine mehrsprachige Orientierung habe, diese aber in der Schule gar nicht umsetzen kann, weil die Rahmenbedingungen dort nicht darauf ausgerichtet sind. Daher ist es sehr wichtig, sich die Strukturen und die Routinen der Schule anzuschauen. Die Individualisierung betrifft auch den Umgang mit und die Einordnung von Leistung. Zwar ist mit den PISA-Erhebungen ein eklatanter Unterschied in Bezug auf Bildungs- oder Schulabschlüsse und auch bei der Leistungsbewertung zu erkennen, die Gefahr ist jedoch, dass wir Leistung naturalisieren und als eine Eigenschaft von Schüler:innen bearbeiten. Meiner Ansicht nach ist Leistung jedoch etwas, das in der Passung zu den Schulbedingungen entsteht, durch Schule also kreiert wird. Ich kann zwar sagen: „Ich kann Mathe gut. Ich habe in Mathe eine Eins.“, aber was ist mit der Person, die in Mathe eine Fünf hat? Bedeutet das, dass sie nicht gut in Mathe ist oder bedeutet es vielleicht, dass die Aufgabenstellung oder das Verhältnis mit der Lehrperson diese Note produziert hat? Dieses Problem der Naturalisierung der Dinge kann auch auftauchen, wenn wir uns eigentlich für Bildungsgerechtigkeit für migrantische Schüler:innen einsetzen. Hinzukommt, dass Schule nicht nur ein Ort ist, an dem gelernt und Leistung erbracht wird, sondern auch ein Ort, an dem wir werden und an dem Selbstbildungsprozesse passieren. Werde ich zum Beispiel als „klug“ adressiert, werde ich als „Frau“ oder „Mädchen“ mit typischen Eigenschaften adressiert, werde ich als migrantisch adressiert und in welcher Form? Häufig wird von „Heterogenität in der Schule“ gesprochen und damit assoziiert, dass die Gesellschaft vielfältig ist und diese Vielfalt dann in die Schule kommt. Aber die Schule produziert oder reproduziert selbst auch Heterogenität, präziser: Differenzen. Schüler:innen lernen zuweilen in der Schule erst, dass sie einen „Migrationshintergrund haben“ und was das bedeutet. Sie werden entsprechend adressiert und erfahren, ob sie anerkannt sind oder nicht. Was wir uns klar machen müssen ist: Schule ist darauf ausgelegt, soziale Ungleichheit zu (re-)produzieren und Schule ist ein Ort, an dem selektiert wird. Schule ist darauf ausgelegt, weil sie eine Institution für die Gesellschaft und auch für die nationale Gesellschaft ist. Daher ist es wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, wie und nach welchen Kriterien Schule soziale Ungleichheit moderiert und wie in diesem Kontext Rassismen wirken, wenn wir Bildungschancen wirklich verbessern wollen.

ZMI: In Ihren Beiträgen in Sammelbänden, Zeitschriften, Onlineformaten und Rezensionen gehen Sie an einigen Stellen auf die Machtverhältnisse in der Sozialen Arbeit und im Bildungsbereich ein. Wie schätzen Sie diesen Diskurs in der Hochschule und gesamtgesellschaftlich ein?
Prof. Dr. Aysun Doğmuş: Wichtig in diesem Kontext ist, dass es nicht vorrangig darum geht, welche Personen die Macht haben und Entscheidungen treffen, sondern ich würde von Macht-Verhältnissen sprechen. Diese sind strukturell verankert und produzieren bestimmte Normen, zum Beispiel die Norm des Deutschsprechens, die Norm des „idealen“ Körpers, die Norm der „idealen“ weißen deutschen Bürgerin. Über diese Normen entscheiden sich Positionen und damit die Deutungshoheit über eine Situation – auch an der Universität. Machtverhältnisse sind dann besonders stabil, wenn die Dinge nicht in Frage gestellt werden, wenn es bestimmte Normalitäten gibt, die ganz selbstverständlich sind und die wir nicht hinterfragen. In dem Moment, in dem eine Infragestellung beginnt, entsteht zumindest ein Ringen darum. In der Gesamtschau der Universitäten würde ich sagen, dass es diese Diskurse gibt. Zwar bleiben die Verhältnisse oft trotzdem stabil, aber es gibt Momente des Widerstands, der Impulse, die gesetzt werden. An bestimmten Stellen sind sie vielleicht erfolgreicher als an anderen und auch wenn sie erfolgreich sind, ist der Erfolg nicht eindeutig. Zusammenfassend würde ich sagen: Ja, es gibt die Auseinandersetzungen mit Machtverhältnissen, aber nicht überall und wenn es sie gibt, sind sie nicht einfach und noch keine Normalität. Es gibt noch viel zu tun.

ZMI: Seit 2024 sind Sie Mitglied im Fachbereich ADAS – Anlaufstelle Diskriminierungsschutz an Schule. Der Antidiskriminierungsbericht über die Beratungsstellen des Bundes hat aufgezeigt, dass die Beratungszahlen im Vergleich zum letzten Jahr um 22 % gestiegen sind und vorrangiges Thema das Phänomen Rassismus war. Wie sind diesbezüglich Ihre Erfahrungswerte? Welche Diskriminierungsbereiche sind im Fokus und wo sehen Sie hier besonderen Handlungsbedarf?
Prof. Dr. Aysun Doğmuş: Dass die Beratungszahlen gestiegen sind, kann festgehalten werden. Ich würde aber gleichzeitig zu bedenken geben, was das genau aussagt. Es könnte der Eindruck entstehen, dass Rassismus stärker geworden ist als vor 10 Jahren. Da würde ich sagen: Achtung. Möglicherweise gab es ihn auch vorher, aber keine oder zu wenige Beratungsstellen. Trotzdem würde ich sagen, dass gerade in so verdichteten Zeiten, wie wir sie im letzten Jahr erleben, bestimmt auch rassistische „Vorfälle“ steigen. Ebenso können wir sehen, dass Beratungsstellen sich etablieren. Es ist ein großer Schritt, eine Beratungsstelle aufzusuchen, der mit unterschiedlichen Abwägungen zusammenhängt. Es kann sehr anspruchsvoll und herausfordernd sein, sich über Rassismus zu „beschweren“ im Sinne einer Problematisierung von Rassismus. Als Eltern etwas zu problematisieren, was Kinder in Schule erfahren, ist grundsätzlich nicht einfach und wenn dann noch so etwas wie Rassismus dazu kommt, kann es besonders schwierig werden. Die Frage, die sich dann stellt, ist: Was wäre notwendig, um diese Prozesse in Schule auch einleiten zu können? Gibt es Routinen der Schule, um Rassismus zu thematisieren? Gibt es einen Sprechort, an dem es möglich ist, erst einmal darüber zu sprechen, ohne dass das Wie thematisiert werden muss, ohne dass es um die Empörung der Person gehen muss, die sich angegriffen fühlt und sagt: „Ich bin doch nicht rassistisch“. Das nimmt meines Erachtens viel mehr Raum in Schulen ein, als der eigentliche Tatbestand und das finde ich äußerst schwierig.

ZMI: Sie haben bereits einiges über das ZMI gehört und gelesen. Dass drei so große Institutionen – die Stadt Köln, die Bezirksregierung Köln und die Universität zu Köln – kooperieren, um für Mehrsprachigkeit zu sensibilisieren und auch Integration in der Gesamtgesellschaft zu erreichen, ist einzigartig. Wie sehen Sie diese Kooperation?
Prof. Dr. Aysun Doğmuş: Ich finde das sehr bemerkenswert. Besonders die Kooperation mit der Universität finde ich sehr gut. Es gibt teilweise die Narrative, dass Universität abstrakt und praxisfern sei. Mir persönlich, als Forscherin und als Person, die hauptsächlich mit Lehramtsstudierenden arbeitet, ist es ein großes Anliegen, mit diesem Narrativ zu brechen. Daher finde ich es toll, dass Sie dialogisch arbeiten können, die Universität von Ihnen lernt und Sie etwas von der Universität mitnehmen können. Die große Leistung ist dann auch, die komplexen Inhalte zu übersetzen: In Angebote und Projekte, in Beratung von Institutionen und Eltern. Ihre Arbeit schätze ich daher als unglaublich wichtig ein. Darin spiegelt sich ein kritisches Bewusstsein im Sinne von Kritik als wichtigem Element der Rassismuskritik ebenso wider wie ein Bewusstsein über die Involviertheit in Verhältnisse. Und es stellt sich ja die Frage: Wie können wir mit dieser Involviertheit diese Verhältnisse verändern? Daher finde ich Ihre Kooperation großartig! So kann auch die Universität viel von Ihnen lernen und Sie können wissenschaftliches Wissen, theoretisches Wissen und Ihr Erfahrungswissen übersetzen, um verschiedene Akteursgruppen beraten und auch begleiten zu können.

ZMI: Dankeschön! Vielen Dank!