Forschung zu Herkunftssprachen und Herkunftssprachlichem Unterricht in Deutschland: Das Projekt HSU-Interregio

Forschung zu Herkunftssprachen und Herkunftssprachlichem Unterricht in Deutschland: Das Projekt HSU-Interregio

von Dr. Till Woerfel, Prof. Dr. Helena Olfert, Ioanna Lialiou und Dr. Erkan Gürsoy

Hintergrund
Aus der Perspektive der postmigrantischen Gesellschaft ist die sprachliche Vielfalt in Deutschland insbesondere durch die sogenannten Herkunftssprachen wie Arabisch, Russisch, Türkisch und viele andere geprägt. Eines der wichtigsten Instrumente zum Erhalt und Ausbau von sprachlichen Kompetenzen in diesen Sprachen ist der Herkunftssprachliche Unterricht (HSU), der in Deutschland in manchen Bundesländern bereits seit den 1960er Jahren angeboten wird. Zu der Frage, ob ein solches Unterrichtsangebot überhaupt sinnvoll ist, wurden lange Zeit kontroverse Debatten in der Bildungspolitik und Forschung geführt. So findet sich im politischen Diskurs oftmals die Position, dass der HSU nur dann einen Zweck im Bildungssystem erfülle, wenn er zur Aneignung der deutschen Sprache beitrage. Diese Position ist mittlerweile wissenschaftlich revidiert; durch erziehungswissenschaftliche, linguistische und sprachdidaktische Forschung kann argumentiert werden, dass die Förderung der Herkunftssprachen einen eigenständigen Wert hat und somit auch Teil des Bildungsangebots in der postmigrantischen Gesellschaft sein muss. Zudem wird der Begriff „Herkunftssprache“ im Fachdiskurs an sich kritisch diskutiert, da er stark zuschreibend ist und auf eine Herkunft außerhalb von Deutschland verweist – was auf viele Schüler:innen, die diesen Unterricht besuchen, nicht zutrifft. Anknüpfend an diese Kritik wird in Berlin beispielsweise seit kurzem der Begriff „Erstsprachenunterricht“ verwendet. Zugleich werden neuerdings inklusive Modelle eines modernen Sprachunterrichts in Migrationssprachen angeregt, die diese Sprachen den aktuell gängigen Sprachen im schulischen Fremdsprachenkanon gleichsetzen.

Forschung zu Herkunftssprachen und HSU in Deutschland
Solche kontroversen Debatten rund um den HSU wurden in Deutschland lange Zeit nicht auf der Grundlage empirischer Studien geführt. Systematische Beobachtungen des Unterrichts, Messungen der erworbenen Kompetenzen in der Herkunftssprache oder Erhebungen von Perspektiven der teilnehmenden Schüler:innen oder ihrer Eltern wurden kaum durchgeführt. In den letzten Jahren ist jedoch zu beobachten, dass die international etablierte Heritage-Language-Forschung (dt. Herkunftssprachenforschung) auch im deutschsprachigen Raum angekommen ist und zunehmend rezipiert sowie gefördert wird. So hat nicht nur in der empirischen Bildungsforschung die BMBF-Förderrichtlinie „Sprachliche Bildung und Mehrsprachigkeit“ (2013-2022) die Erforschung von Herkunftssprachen und HSU verstärkt angeregt, sondern auch in anderen Disziplinen sind entsprechende Studien entstanden bzw. derzeit in Arbeit. Der Großteil der Forschungsarbeiten befasst sich dabei mit linguistischen Merkmalen von Herkunftssprachen. Auch zu der Rolle von Lehrkräften und den organisatorischen Rahmenbedingungen des Unterrichts ist die Forschungslage bereits recht gut. Wenig bis kaum Studien gibt es hingegen beispielsweise zu den Schüler:innen und ihren Eltern, zum Unterrichtsgeschehen selbst oder zur Verzahnung des HSU mit dem Regelunterricht.
Die vorhandenen und entstehenden Forschungsarbeiten stehen zudem oft unverbunden nebeneinander, da sie in verschiedenen Disziplinen mit unterschiedlichen theoretischen und forschungsmethodischen Perspektiven durchgeführt werden. Häufig kommen Ergebnisse zu HSU nicht in der Bildungspolitik, -administration und -praxis an. Dies mag darin begründet sein, dass es in Deutschland an Vernetzung und interdisziplinärem Austausch fehlt. Ein Vorbild für systematische, gezielte Forschung, Vernetzung und Transfer bietet beispielsweise das National Heritage Language Resource Center in den USA.

Bündelung und Vernetzung der Herkunftssprachen- und HSU-Forschung im Projekt HSU-Interregio
Einen ersten Vorstoß in Deutschland leistet hier das BMBF-Verbundprojekt HSU-Interregio der Universitäten Duisburg-Essen, Köln und Osnabrück, indem es aktuelle Forschung zu Herkunftssprachen und HSU vernetzt sowie Grundlagen- und Forschungswissen verfügbar macht. Dies geschieht durch eine Veranstaltungsreihe, die eine enge Verknüpfung von Perspektiven, Erkenntnissen und Bedarfen aus Forschung und Unterrichtspraxis ermöglicht. In einer jährlichen Präsenzveranstaltung zu wechselnden thematischen Schwerpunkten stellen ausgewählte und durch das Projekt ideell geförderte Wissenschaftler:innen aus unterschiedlichen Disziplinen ihre Forschungsarbeiten vor. Diese werden dann mit eingeladenen Fachexpert:innen aus der Wissenschaft diskutiert.

Wissenschaft und Praxis im Dialog
Darüber hinaus findet jährlich eine Online-Veranstaltung statt, in der die Wissenschaftler:innen Inhalte ihrer Forschung praxisnah HSU-Lehrkräften und Vertreter:innen der Bildungsadministration in Workshops vorstellen und diese mit Blick auf eine praktische Umsetzung diskutieren. Damit wird sichergestellt, dass die entstehenden Forschungsarbeiten mit Blick auf die Unterrichtspraxis konzipiert werden sowie einen direkten Anwendungsbezug haben und nicht nur impulsgebend innerhalb der jeweiligen Forschungsdisziplin sind. Weiterhin bieten die Online-Treffen einen länderübergreifenden Austausch für Akteur:innen aus Praxis und Administration. In der diesjährigen Online-Veranstaltung kamen 108 Teilnehmer:innen aus insgesamt 13 Bundesländern zusammen. Es wurden aktuelle Entwicklungen in Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland präsentiert. Zudem fanden vier Arbeitsphasen statt, die auf den Forschungsarbeiten von Projektteilnehmer:innen basierten. Diese widmeten sich der Entwicklung von Lehrmaterialien, der Förderung von Schreibkompetenzen, der Weiterentwicklung des HSU sowie der Stärkung professioneller Expertise.

Sichtbarmachung und Wissenschaftskommunikation
Die Projektergebnisse werden in gemeinsamen wissenschaftlichen Publikationen veröffentlicht. Darüber hinaus werden die Aktivitäten des Projekts und seiner Mitglieder kontinuierlich durch Maßnahmen der Wissenschaftskommunikation begleitet. In projekteigenen Social-Media-Kanälen auf Instagram und BlueSky wird über die Aktivitäten des Netzwerks berichtet und über bestehende mehrsprachige Angebote informiert (z. B. über die mehrsprachigen Veedelstouren mit der App BIPARCOURS in Köln oder das Sprachcafé Polnisch in Berlin im Format „Tipp des Monats“, s. Abb. 1). In der regelmäßigen Reihe „Drei Fragen an…“ werden zudem Stimmen von Expert:innen aus der Forschung eingeholt (s. Abb. 2), die auf Social Media Impulse für die Reflexion über Herkunftssprachen und Herkunftssprachlichen Unterricht geben.


Weitere Informationen dazu und zu den einzelnen Projekten sowie Forschungsvorhaben finden Sie hier:

Website des Metavorhabens: 
https://www.sprachebildet.uni-koeln.de
Mehr über das Projekt:
Website: https://bit.ly/hsuinterregio
Instagram: @herkunftssprachen
Blue Sky: @herkunftssprachen.bsky.social