Mehrsprachigkeit und jüdisches Leben in Köln
von Petr Frantik • Artikel im ZMI Magazin 2021/22, S. 37
Jüdisches Leben in Köln wurde erstmals im Jahr 321 in einem Dekret Kaiser Konstantins dokumentiert. Dies ist zugleich der älteste schriftliche Beleg für jüdisches Leben nördlich der Alpen. 2021 wurde das Jubiläum „1700 Jahre jüdisches Leben in Köln“ mit zahlreichen Veranstaltungen gewürdigt. Bei der Vielschichtigkeit der Themen zur jüdischen Geschichte und Gegenwart in Köln bleibt zuweilen ein alltäglicher, jedoch gleichwohl bedeutender Aspekt jüdischen Lebens etwas im Hintergrund: die große Sprachenvielfalt und der flexible und kreative Umgang damit. Das ZMI möchte dazu beitragen, insbesondere die gelebte Mehrsprachigkeit jüdischer Menschen als bedeutenden Teil jüdischen Lebens sowie der sprachlichen Heterogenität der Kölner Stadtgesellschaft sichtbar zu machen.
Die folgenden Ausführungen basieren auf einer qualitativen Studie zum Themenfeld „Mehrsprachigkeit und jüdisches Leben in Köln“. In dieser Studie soll die Sprachenvielfalt innerhalb der jüdischen Gemeinden, Gesellschaften und Familien in Köln als Teil der allgemeinen sprachlichen Heterogenität Kölns beleuchtet und dargestellt werden. Das Studiendesign umfasst u. a. Interviews mit acht Menschen, die in Köln leben und sich als dem Judentum zugehörig definieren. In den Interviews wurde thematisiert, welche Sprachen in verschiedenen Kontexten gesprochen werden, wie der Umgang mit Sprachenvielfalt im Alltag abläuft und welche individuelle Bedeutung einzelne Sprachen für die Befragten haben. Dieser Beitrag gibt erste Einblicke in die Ergebnisse der fortlaufenden Studie.
Sprachenvielfalt
Schon während eines ersten Besuchs der Räumlichkeiten oder Internetseiten der Synagogengemeinde oder der Jüdischen Liberalen Gemeinde in Köln sind unmittelbar mehrere Sprachen zu hören und sehen – Deutsch, Hebräisch, Russisch und Englisch sind stets präsent. In den beiden Gemeinden wird für die allgemeine und offizielle mündliche und schriftliche Kommunikation hauptsächlich die deutsche Sprache genutzt; Hebräisch wird als Sprache der Religion insbesondere während der Gottesdienste verwendet. Englisch wiederum hat vor allem als internationale Verkehrssprache eine große Bedeutung in den sprachlich heterogenen Gemeinden, kommt als Familiensprache aber nur vereinzelt vor.
Nach Angaben der Synagogengemeinde Köln sprechen ca. drei Viertel der insgesamt ca. 4.000 Mitglieder Russisch. Daher gibt es viele Freizeitangebote in russischer Sprache, wie beispielsweise den Senior:innenclub „Nash Dom“. Zudem wird das Gemeindeblatt zweisprachig auf Russisch und Deutsch herausgebracht. Weiter sind Sprachen aus dem osteuropäischen Raum vertreten, wie Rumänisch, Polnisch, Ungarisch, Tschechisch, Ukrainisch, Georgisch etc., aber auch vereinzelt Farsi, Türkisch, Aserbaidschanisch, Usbekisch, Spanisch, Italienisch, Französisch und Jiddisch.
In der aus ca. 120 Mitgliedern bestehenden Jüdischen Liberalen Gemeinde Köln sind ebenfalls viele Menschen russischsprachig, aber auch die Sprachen Englisch, Hebräisch, Farsi, Portugiesisch, Französisch, Rumänisch oder Ungarisch wurden als Familiensprachen genannt.
Diese Sprachenvielfalt steigert sich noch, wenn man berücksichtigt, dass viele jüdische Menschen in Köln in keiner der beiden Gemeinden aktiv sind sowie dass viele der Mitglieder beider Gemeinden regelmäßig mehrere Sprachen sprechen. Die Sprachen der Mitglieder der jüdischen Gemeinden sind nicht statistisch erhoben, es gibt lediglich Daten über die Geburtsorte. Die oben aufgeführten Angaben stützen sich somit auf Schätzungen basierend auf den Geburtsorten und den Einschätzungen einzelner Mitglieder. Die Aufzählungen der Sprachen erheben deshalb auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit, so sprechen beispielsweise viele in der Sowjetunion geborene Personen regelmäßig mehrere Sprachen. Einige Personen gaben in den Interviews an, sogar in sechs bis acht Sprachen zumindest Grundkenntnisse zu besitzen. Eines kann man also auf Basis der vorhandenen Informationen mit Sicherheit über die Sprachen sagen: Es sind viele!
Die hohe sprachliche Heterogenität in jüdischen Familien, Bekanntenkreisen oder Gemeinden wurde von den interviewten Personen einheitlich als positiv bewertet. Kenntnisse in mehreren Sprachen eröffnen ihren Erfahrungen zufolge Möglichkeiten, Gefühle oder Situationen treffend zu beschreiben, z. B. auch durch sprachspezifische Redewendungen. Zudem wurde Mehrsprachigkeit als Ressource gesehen, Zugang zu Menschen aus verschiedenen Sprachgemeinschaften zu erhalten oder auch verschiedene Sprachgemeinschaften in Dialog zu bringen. Es wurde außerdem angenommen, dass Mehrsprachigkeit allgemein zu einer Verbesserung der allgemeinen kognitiven Fähigkeiten und des Verständnisses verschiedener Perspektiven beiträgt. Als weiterer Vorteil wurde gesehen, dass Medien wie Bücher, Filme oder auch Liedtexte in der Originalsprache verstanden werden können. Etwaige Herausforderungen, wie beispielsweise die Frage, in welchen Situationen und Personenkonstellationen welche Sprache gesprochen wird, oder auch das „Switchen“ zwischen verschiedenen Sprachen, wurden als unproblematisch und leicht zu meistern beschrieben.
Zwei der vielen Sprachen, die für jüdisches Leben eine wichtige Bedeutung haben, sollen im Folgenden noch einmal genauer betrachtet werden.
Hebräisch
Hebräisch hat als Sprache der Religionsausübung und der Tora für viele jüdische Menschen eine besondere Bedeutung. Von den interviewten Personen besaßen alle zumindest Grundkenntnisse im Hebräischen und die meisten äußerten das Bedürfnis, ihre Sprachkenntnisse weiter zu pflegen bzw. zu vertiefen. Weiter wurde von einem Großteil der Wunsch geäußert, die Sprache an zukünftige Familiengenerationen weiterzugeben.
Die moderne Form des Hebräischen (im deutschen Sprachgebrauch wird diese zur Unterscheidung vom Althebräischen „Ivrit“ genannt, im Hebräischen bezeichnet „Ivrit“ alle Formen des Hebräischen), ist zudem für aus Israel zugewanderte Kölner:innen eine Herkunftssprache, mit der sie vielschichtige Erinnerungen und Gefühle verbinden. Im Alltag wird sie zum Beispiel noch oft beim Lesen von Nachrichten oder Romanen in der hebräischen Originalausgabe genutzt.
Insgesamt ist Hebräisch für viele jüdische Menschen eine Sprache, mit der sie sich in vielen Kontexten auseinandersetzen und die unterschiedlichste Bedeutungen und Funktionen hat. Für einige ist es eher Herkunftssprache bzw. Familiensprache, für andere Fremdsprache, für wieder andere insbesondere eine religiöse Sprache oder auch eine Sprache, die mit Elementen jüdischer Kultur und Traditionen verwoben ist. Im Kontext dieser vielschichtigen Bedeutungsebenen werden auch häufig Fragen der eigenen Identitätskonstruktion und Zugehörigkeiten thematisiert. Die meisten jüdischen Menschen in Köln sprechen im Alltag vorwiegend andere Sprachen, doch geben viele an, dass Hebräisch ein wichtiger Teil ihres Lebens und ihres Gesamtsprachenrepertoires ist.
Vor diesem Hintergrund sollte die hebrä-ische Sprache verstärkt auch in sprachenübergreifende Bildungsprozesse eingebunden werden. Als ein Beitrag hierzu wird das von der Bezirksregierung herausgegebene und in Kooperation mit dem ZMI erstellte mehrsprachige Arbeitsheft „Sprachstark – Gelebte Mehrsprachigkeit: Zungenbrecher, Lieder, Kinder- und Abzählreime“ um die Sprache Hebräisch erweitert (vgl. S. 44 in diesem Heft).
Jiddisch
Jiddisch als eigenständige Sprache entstand im Hochmittelalter und hat sich über die Jahrhunderte im Kontakt mit vielen weiteren Sprachen entwickelt. Bei Beibehaltung seiner Eigenständigkeit war das Jiddische gleichzeitig in besonderer Weise für Einflüsse aus anderen Sprachen offen und nahm zahlreiche Elemente auf, die aber innerhalb der jiddischen Sprache wieder eine „echte Synthese eingingen“ (Gruschka 2014, S. 25) und einer „inneren Entwicklungsdynamik“ (ebd.) folgten. Jiddisch ist eine unter unterschiedlichen historischen Bedingungen gewachsene Sprache, die großen – auch emotionalen – Reichtum und viele Geschichten in sich trägt.
Viele der interviewten Personen assoziierten mit der Sprache wohlige Gefühle verbunden mit Erinnerungen an Essen und Feiern bei ihren Großeltern. Für einige Befragte spielte Jiddisch auch eine besondere Rolle bei der Bewahrung jüdischer Traditionen in der ehemaligen Sowjetunion, in der sie Repressionen ausgesetzt waren. Oft wird die Sprache gerade von jüngeren interviewten Personen nicht mehr selbst aktiv gesprochen, sondern ist ihnen nur über die Großelterngeneration bekannt. So droht das Jiddische eine nur von älteren Personen und immer seltener gesprochene Sprache zu werden, auch wenn Angebote wie der Club Mameloschen oder auch die Weitergabe von Liedern dieser Entwicklung ein wenig entgegenwirken. „Diese Sprache Jiddisch, die vor dem Zweiten Weltkrieg noch von Millionen gesprochen wurde, wird immer leiser… aber in den Liedern lebt sie weiter. Lieder sind Erinnerungen, sie wurden und werden von Generation zu Generation weitergegeben“ (Gemeindeblatt Nr. 11/2021, S. 51).
Ins Kölsche und auch in viele weitere Sprachen und Dialekte haben zudem einige Jiddismen (die selbst wiederum häufig aus dem Hebräischen stammen) Eingang gefunden, wie zum Beispiel das Wort „Schmusen“, oder auch bei der Feststellung, dass eine bestimmte Person gerade „Stuss“ erzählt, dadurch in einen „Schlamassel“ gerät und es daher höchste Zeit wird, „Tacheles“ zu reden, bevor es richtig „Zoff“ gibt. Diese Wörter haben gerade in der umgangssprachlichen Kommunikation einen ganz speziellen Klang, den man oft nicht durch andere Wörter ersetzen kann. Einige zugewanderte jüdische Menschen berichteten ihrerseits von einem Gefühl der Freude, als sie nach ihrer Einwanderung nach Deutschland einige bekannte jiddische Wörter in der Kölschen Mundart wiedererkannten.
Doch bei der Thematisierung solcher Wortverwendungen wird schnell deutlich, dass der eigene Sprachgebrauch auch stets kritisch hinterfragt werden muss. Wörter haben ein historisch entstandenes Assoziationsfeld und dies muss bei ins Deutsche oder Kölsche übernommenen jiddischen Wörtern stets beachtet werden (vgl. Steinke 2020, S. 9). Ein Wort wie „Mauscheln“ mag unbedacht verwendet werden, doch bei näherer Betrachtung erweist es sich als eine von jenen „Vokabeln, denen der Antisemitismus richtiggehend eingeschrieben ist. Wörter, die auch Menschen, die besten Willens sind und die sich bemühen, von Jüdinnen und Juden zu sprechen, ohne antisemitische Vorurteile zu bedienen, vor Fragen stellen“ (ebd., S. 13). Beim Gebrauch dieses Wortes besteht die Gefahr, das diskriminierende und gefährliche antisemitische Stereotyp einer geheimen Vetternwirtschaft jüdischer Menschen (vgl. ebd., S. 28 f.) – wenn auch unbeabsichtigt – zu reproduzieren. So bleiben bei der Beschäftigung mit dem Thema Sprache (antisemitismus-)kritische Reflexionen und eine Sensibilität gegenüber den eigenen Sprachverwendungen unverzichtbar.
Ausblick
Gesamtgesellschaftlich ist eine wichtige interkulturelle Bildungsaufgabe, die Vielschichtigkeit und Heterogenität jüdischen Lebens und jüdischer Perspektiven differenziert darzustellen, um eindimensionale Sichtweisen aufzubrechen, ethnisierende und kulturalisierende Zuschreibungen zu vermeiden und diskriminierend wirkende Stereotype zu dekonstruieren. Gleichzeitig müssen die unterschiedlichen individuellen Bezüge jüdischer Menschen zu religiösen oder kulturellen Praktiken als Teil individueller Identitätskonstruktionen anerkannt werden. Das Themenfeld „Mehrsprachigkeit und jüdisches Leben in Köln“ bietet in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, in differenzierter Weise die Heterogenität von Lebenspraktiken sowie deren Einbindung in gesamtgesellschaftliche Prozesse deutlich zu machen. Zugleich bietet das Thema Anknüpfungspunkte für gesamtgesellschaftliche Diskurse und Reflexionen über die Verbundenheit und Wechselbeziehungen verschiedener Sprachen und Sprachpraxen innerhalb der heterogenen Kölner Stadtgesellschaft.
Der selbstverständlich gelebte, kreative und flexible Umgang mit Mehrsprachigkeit in vielen jüdischen Familien, Bekanntenkreisen oder Gemeinden zeigt auf, was für eine wertvolle Ressource Mehrsprachigkeit sowohl für einzelne Individuen als auch für Gesellschaften allgemein ist und kann Impulse für den generellen Umgang mit Mehrsprachigkeit geben. Hierbei lässt ein Blick in die Geschichte jüdischen Lebens in Köln vermuten, dass schon früh eine offene und pragmatische Haltung gegenüber Sprachen eingenommen wurde, die an moderne Ansätze wie z. B. den des Translanguaging erinnert. So wurden bereits im Mittelalter Texte „in einem mundartlich geprägten Deutsch verfasst, das auch Einsprengsel des Jiddischen aufweist, jedoch mit hebräischen Buchstaben geschrieben, die wiederum um Vokalzeichen ergänzt wurden“ (Grübel & Honnen 2014, S. 13).
Bei der Beschäftigung mit dem Themenfeld „Mehrsprachigkeit und jüdisches Leben in Köln“ gibt es also in Geschichte und Gegenwart noch viel zu entdecken und zu lernen. Ein großer Dank gilt all den Menschen, die in Interviews und persönlichen Gesprächen wertvolle Einblicke in ihren alltäglichen Sprachgebrauch gaben. Auch in Zukunft bleibt es von Bedeutung, die gemeinsamen Gespräche über das Erleben und Leben von Mehrsprachigkeit fortzusetzen und zu vertiefen.
Literatur
Bezirksregierung Köln: „Sprachstark – Gelebte Mehrsprachigkeit: Zungenbrecher, Lieder, Kinder- und Abzählreime. Abrufbar unter: https://www.bezreg-koeln.nrw.de/brk_internet/publikationen/abteilung04/pub_abteilung_04_gelebte_mehrsprachigkeit_zehn_sprachen.pdf
Gemeindeblatt Nr. 11/2021 der Synagogengemeinde Köln. Abrufbar unter: https://www.sgk.de/wp-content/uploads/pdf/Gemeindeblatt/Gemeindeblatt_SGK_November_2021.pdf
Grübel, Monika & Honnen, Peter (Hrsg.) (2014): Jiddisch im Rheinland. Auf den Spuren der Sprachen der Juden. Essen: Klartext.
Gruschka, Roland (2014): Westjiddisch an Rhein und Main und im übrigen Europa. In: Monika Grübel & Peter Honnen (Hrsg.): Jiddisch im Rheinland. Auf den Spuren der Sprachen der Juden. Essen: Klartext, S. 15-40.
Steinke, Ronen (2020): Antisemitismus in der Sprache. Warum es auf die Wortwahl ankommt. Berlin: Duden.