Interview mit Prof. Dr. Jim Cummins Professor am Ontario Institute for Studies in Education, University of Toronto
Das Interview führten Rosella Benati und María José Sánchez Oroquieta. Übersetzung Christina Neuhoff • Artikel im ZMI Magazin 2016, S. 10
Am 30. November und am 1. Dezember 2016 wurde das ZMI – Zentrum für Mehrsprachigkeit und Integration zu der Konferenz „Great Start in Life“ in Brüssel eingeladen. Diese Konferenz, die von der Europäischen Kommission, Direktion EDUCATION AND CULTURE (EAC), Einheit B.2 – Schools and Educators; Multilingualism organisiert wurde, hatte zum Ziel, Expertinnen und Experten zu Bildung und Migration aus den Bereichen Wissenschaft, Politik und Praxis zusammenzuführen. Gemeinsam wurden die Bedingungen und Erfolgsfaktoren für eine bestmögliche Erziehung und Bildung in Elementar- und Primarstufe diskutiert.
Frau Benati vom ZMI und von der Arbeitsstelle Migration der Bezirksregierung Köln und Frau Sánchez Oroquieta, ebenfalls Mitarbeiterin in der Arbeitsstelle Migration, haben über die Kölner Programme zum mehrsprachigen Lernen (koordiniertes Lernen – KOALA und Gelebte Mehrsprachigkeit) im Rahmen eines Plenarvortrages referiert. An der Fachkonferenz haben viele renommierte Referentinnen und Referenten teilgenommen; darunter auch Prof. Dr. Jim Cummins, der in seinem Vortrag mehrmals lobend die fortschrittliche Praxis in Köln aufführte. Anschließend an den Vortrag von Frau Benati und Frau Sánchez Oroquieta hat Herr Cummins in einem Interview seine Eindrücke und wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Kölner Konzepte und Programme zur Förderung der Mehrsprachigkeit dargelegt.
Prof. Cummins, Sie haben gerade zwei kurze Ausschnitte aus Filmen über die beiden aktuellen Konzepte „KOALA – Koordiniertes Lernen“ sowie „Gelebte Mehrsprachigkeit“ gesehen. Welchen Eindruck haben Sie daraus gewonnen?
Es war sehr interessant für mich, diese Beispiele Ihrer Arbeit im Schulalltag zu sehen, mit ihrem Fokus auf eine Lese- und Schreib-
entwicklung, die die Herkunftssprachen der Kinder einbezieht. Es wurde ganz offensichtlich – durch die Begeisterung, die die Kinder zeigen sowie die Tatsache, dass sie von sich aus Informationen aus ihren jeweiligen Sprachen einbringen – dass sie sich bestätigt fühlen und ihr Wissen über ihre Herkunftssprachen in der Klasse einen Wert hat. Sie wurden ermutigt, Sprachen zu vergleichen. Sie lernten über andere Sprachen und wie diese geschrieben werden. Wie in dem Beispiel, als die Kinder, die selbst kein Arabisch sprechen, von dem Schüler, dessen Muttersprache Arabisch ist, einige Dinge darüber lernen, wie die arabische Sprache geschrieben wird und wie sie klingt. Es liegt hier also ein genereller Fokus auf dem Bewusstsein für Sprache und das Erlernen und Kennenlernen von anderen Sprachen wird mit Spaß erlebt. Das wird offenkundig das Bewusstsein der Kinder stärken, wie die „Hauptunterrichtssprache“ – in dem Falle Deutsch – aufgebaut ist und sie werden sich viel zuversichtlicher und entspannter in der Lernumgebung fühlen. Das ist sehr beeindruckende Pädagogik und ich denke, diese Arbeit ist Pionierarbeit, wegweisend für das, was gemacht werden sollte.
Vielen Dank. Wie beurteilen Sie dies aus wissenschaftlicher Perspektive?
Was die wissenschaftliche Basis angeht, in Bezug auf die Arbeit, die Sie tun, denke ich, viele Leute sind sich gar nicht bewusst, dass dem ein starkes Fundament an Forschungsergebnissen zugrunde liegt und etliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diskutieren diese schon seit vielen Jahren.
Zunächst einmal wissen wir, dass es einen starken Zusammenhang gibt, zwischen der Tatsache, wie gut Kinder ihre Muttersprache entwickeln und wie erfolgreich sie die „Hauptunterrichtssprache“ erlernen werden. Kinder, die aus einem Vorschulprogramm oder aus ihren Elternhäusern bereits mit starken Fähigkeiten in ihrer Muttersprache in die Grundschule kommen, mit in ihrer Muttersprache entwickelten Konzepten und vielleicht auch Erfahrungen mit Büchern in ihrer Muttersprache, werden die zweite Sprache in der Schule viel besser erlernen als Kinder, die diesen Hintergrund nicht mitbringen. Das ist also der erste Punkt, dass es eine starke positive Beziehung zwischen den Sprachen gibt: Je besser die Muttersprache entwickelt wird, umso leichter tun sich die Kinder mit der zweiten Sprache.
Zweitens gibt es viel laufende Forschung dazu, dass Bilingualität und Mehrsprachigkeit die Gehirne von Kindern stimulieren und in Verbindung mit der Zweisprachigkeit kognitive Vorteile festzustellen sind. Und diese Forschung hat in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren dramatisch zugenommen. Es ist weithin anerkannt, dass Bilingualität das Sprachbewusstsein von Kindern erweitern kann, ihre Gehirne flexibler macht und es ihnen erleichtert, weitere Sprachen innerhalb ihrer Schullaufbahn besser zu erlernen.
Ein dritter Punkt ist, dass die gesamte Frage nach der Identität und wie Kinder sich mit sich selbst fühlen, sehr wichtig ist in Bezug darauf, wie erfolgreich sie sich entwickeln werden. Wenn Kinder fühlen, dass sie in der Klasse akzeptiert werden, dass ihre Kultur und ihre Sprache von ihren Lehrkräften wertgeschätzt wird und sie diese als Errungenschaft empfinden, dann fühlen sie sich bestärkt in ihrer Identität. Kinder, die sich in ihrer Identität stark fühlen, beteiligen sich mehr.
Diese drei Faktoren umreißen im Kern die wissenschaftliche Basis und sie spiegeln sich ganz direkt in der Arbeit, die Sie tun. Denn die Kinder fühlen sich ganz offensichtlich bestärkt in ihrer Identität, sie sind stolz auf ihre Sprachkenntnisse, ihre Kultur ist willkommen in der Klasse, sie lernen voneinander und sie bringen die beiden Sprachen in Kontakt in einer geplanten und motivierenden, spannenden Art und Weise. Auch wenn solche Projekte vielleicht teilweise einen intuitiven Ursprung haben mögen, so gibt es doch auch eine sehr solide wissenschaftliche Basis dafür und die erhobenen Daten validieren diese Ansätze.
Eine letzte Frage: Möchten Sie den Lehrpersonen in der Früherziehung und Betreuung etwas sagen?
Ich denke, wenn wir uns die Art von Pädagogik anschauen, die in Programmen der Früherziehung und in den ersten Grundschuljahren praktiziert werden, erscheinen die gezeigten Ansätze einigen Pädagoginnen und Pädagogen unter Umständen als recht herausfordernd, wenn sie noch keine Erfahrung damit haben. Die sagen vielleicht “Ich weiß nichts über diese Sprachen, wie soll ich in so einem Kontext unterrichten? Ich weiß nicht, wie man diese Sprachen unterrichtet.“ Doch ich denke, sie unterschätzen, was in diesen Situationen möglich ist.
Die Lehrperson muss die Sprachen nicht kennen, es dürfte für die meisten unmöglich sein, auch nur einen Bruchteil der Sprachen zu kennen, die innerhalb eines diversen Umfelds in der Klasse zusammen kommen. Was Lehrpersonen jedoch tun können: Sie können den Klassenraum als mehrsprachigen Raum öffnen und den Kindern vermitteln, dass ihre Herkunftssprache eine intellektuelle Leistung ist, ein kognitives Werkzeug und Fundament, nicht nur für ihre persönliche, sondern auch ihre akademische Entwicklung in der Mehrheitssprache. Wir können voneinander lernen und das bezieht die Lehrperson mit ein.
Es gibt eine Vielfalt an Strategien, die Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler in solchen Situationen einsetzen können. Das „KOALA-Konzept“ und „Gelebte Mehrsprachigkeit“ sind Beispiele dafür. Aber schon ganz einfache Dinge, wie zum Beispiel, jeden Tag ein oder zwei Kinder zu ermuntern, ein Wort aus ihrer Sprache mitzubringen, das ihnen etwas bedeutet. Wenn sie noch klein sind, schreiben die Eltern ihnen das Wort vielleicht auf. Sie entscheiden und erklären selbst, warum sie dieses Wort ausgewählt haben, was es bedeutet und dann lernen alle in der Klasse, inklusive der Lehrperson, dieses Wort. So haben wir jeden Tag unterschiedliche Sprachen im Klassenraum, die Kinder entwickeln ein Bewusstsein für die Worte und wie sie geschrieben werden, sie finden mehr über die
Kulturen ihrer Klassenkameradinnnen und -kameraden heraus und was ihnen wichtig ist, wie deren Sprachen aussehen und klingen. Etwas so Einfaches kann bereits profunde Auswirkungen auf die Stärkung der Identität der Kinder sowie auf die Entwicklung ihres Sprachbewusstseins haben.
Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Es gibt eine große Vielfalt an ziemlich einfachen Strategien, die nichts kosten und die
dennoch die ganze Idee, was Bildung ist, bereichern. Es geht eben nicht nur darum, Informationen von der Lehrperson an die Schülerinnen und Schüler zu vermitteln. Es geht darum, einen Raum zu eröffnen, in dem Kinder zur Lernumgebung beitragen und voneinander lernen können.
Ich möchte den Lehrpersonen, die in diese Arbeit involviert sind, gratulieren. Sie sind die Speerspitze der Bildung in einem Kontext der Diversität. Ich werde ganz sicher die Einzelheiten und Beschreibungen, was hier passiert, zu meinen kanadischen Kolleginnen und Kollegen mitnehmen und ich bin sicher, es wird mehr Interaktion zwischen Pädagoginnen und Pädagogen und Institutionen in der Welt geben, sich zu Initiativen wie diesen auszutauschen.
Vielen Dank, Professor Cummins!