„Mehrsprachigkeit finde ich gut, aber bei uns sollen die Kinder deutsch sprechen.“ Einstellungen pädagogischer Fachkräfte zu Mehrsprachigkeit: ein Fragebogen

„Mehrsprachigkeit finde ich gut, aber bei uns sollen die Kinder deutsch sprechen.“ Einstellungen pädagogischer Fachkräfte zu Mehrsprachigkeit: ein Fragebogen

Dr. Anja Leist-Villis • Artikel im ZMI Magazin 2016, S. 12

Die Einstellungen pädagogischer Fachkräfte zu Mehrsprachigkeit sind in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der Forschung gerückt. Qualitative Studien können hier in die Tiefe gehen, betrachten aber zumeist nur kleine Stichproben, sind dabei zeitaufwändig und in der Praxis nur punktuell zu realisieren. Der hier vorgestellte standardisierte Fragebogen ermöglicht mit recht geringem Aufwand einen Einblick in die Denkweisen pädagogischer Teams.
„In unserer Schule wird nur deutsch gesprochen, damit die Kinder mit anderen Muttersprachen es auch gut lernen.“ Ein nachvollziehbarer Gedanke: Kinder, die in Deutschland leben, brauchen gute Kenntnisse der deutschen Sprache – aber ist das alles? Nein, denn das deutsche Umfeld ist nur ein Teil der mehrsprachigen Lebenswelt dieser Kinder, in der sie all ihre Sprachen brauchen. Zudem spielt die Mutter-/ Erstsprache eines Kindes eine wichtige Rolle in seiner Entwicklung – in ihr werden erste Beziehungen gestaltet, die Welt erkundet, die Persönlichkeit entfaltet. Entsprechend fordert der Nationale Integrationsplan der Bundesregierung: „Neben dem Erwerb der deutschen Sprache erkennen die Länder die Bedeutung der Mehrsprachigkeit für alle Kinder und Jugendlichen an. Dies schließt die Herkunfts- oder Familiensprachen der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ein. Es sind geeignete Maßnahmen zu identifizieren, die das Prinzip der Mehrsprachigkeit im Schulalltag angemessen verankern.“
Was aber ist „angemessen“? Unter welchen Bedingungen können sich Kinder in harmonischer Weise zweisprachig entwickeln? Sie brauchen Möglichkeiten, beide Sprachen zu hören und zu sprechen. Und sie brauchen ein Umfeld, in dem Mehrsprachigkeit positiv begegnet wird. Tatsächlich aber geht der Eintritt anders-/zweisprachiger Kinder in den einsprachig ausgerichteten Kindergarten oftmals mit einem Bruch in ihrer sprachlichen – und damit gesamten – Entwicklung einher. Schnell bekommen sie den Eindruck, dass hier allein Deutsch wichtig ist. Ihre andere Sprache stagniert oder beginnt zu verkümmern.
Nach wie vor sind diese Themen nicht selbstverständlich Inhalt der Ausbildung von Erzieherinnen und Lehrkräften. So bleibt der Umgang mit Mehrsprachigkeit vor Ort zumeist den einzelnen Personen selbst überlassen. Es lohnt sich also, genauer hinzuschauen: Wie denken sie darüber? Welches Klima schaffen sie in ihrer Einrichtung durch ihre Haltung gegenüber und ihren Umgang mit Mehrsprachigkeit?

Entwicklung eines Fragebogens
Der hier vorgestellte Fragebogen „Einstellungen pädagogischer Fachkräfte zu Mehrsprachigkeit“ ist im Rahmen einer Untersuchung zu schriftsprachlichen Fähigkeiten türkisch-deutscher Grundschülerinnen und -schüler in Köln entstanden. Hier wurden drei Förderkonzepte miteinander verglichen: die koordinierte Alphabetisierung (KOALA), die Deutschförderung mit und diejenige ohne muttersprachlichen Ergänzungsunterricht. Der Fragebogen wurde von 133 Lehrkräften aus zehn Grundschulen beantwortet. Modifiziert und weiterentwickelt wurde diese Version im Projekt „CoLiBi“ zur Untersuchung der Bedeutung unterschiedlicher Bildungskontexte für die Entwicklung griechisch-deutschsprachiger Schülerinnen und Schüler. Der Fragebogen wurde hier international vergleichend eingesetzt: an einer griechisch-deutschen Schule in Griechenland, deren gesamtes Konzept auf Zweisprachigkeit ausgerichtet ist, und an einer Schule in Deutschland mit griechisch-deutschem Zweig. Auf Basis der hier ausgefüllten 138 Bögen wurde die vorliegende Endfassung des Fragebogens erstellt.
Diese enthält 22 Aussagen (Items) zu Mehrsprachigkeit, die zum einen generelle Einstellungen – Die Zweisprachigkeit zweisprachiger Kin­der ist als besondere Kompetenz anzuerkennen–, zum anderen konkrete Umgangsformen – Ich beziehe alle Sprachen der Schülerinnen und Schüler in den Unterricht mit ein – beschreiben. Angesetzt wurde eine vierstufige Likert-Skala mit der zusätzlichen Antwortmöglichkeit ich weiß nicht. Die Gesamtskala weist eine Reliabilität von 0.86 (Cronbach’s Alpha) auf. Die Faktorenanalyse zur Prüfung der Validität ergab zudem die Eindimensionalität der Items. Reliabilität und Eindimensionalität sind zentral für die Qualität einer solchen Skala und Voraussetzung dafür, dass die einzelnen Werte zusammengefasst und Durchschnittswerte, Streuungen, Signifikanzwerte usw. errechnet werden können.
Der Fragebogen ist so konzipiert, dass er sowohl in elementarpädagogischen als auch in schulischen Einrichtungen eingesetzt werden kann. Übertragen in weitere Sprachen eignet er sich für internationale Vergleiche.

Erste Ergebnisse aus der Forschung
Die zusammenfassende Auswertung der Daten aus den beiden oben skizzierten Projekten ergibt drei signifikante Zusammenhänge:
Die Bewertung grundsätzlicher Aussagen zu Mehrsprachigkeit ist insgesamt positiver, als diejenige praxisbezogener Items.
Je positiver die Einstellung einer Lehrkraft ist, desto unterstützender ist auch ihr konkreter Umgang mit Mehrsprachigkeit.
Diejenigen Lehrkräfte, an deren Schulen Zweisprachigkeit einen vergleichsweise hohen Stellenwert einnimmt, antworten signifikant positiver.
Es fällt also vielen Lehrkräften leichter, Zweisprachigkeit grundsätzlich zu akzeptieren und als positiv anzusehen, als dies auch in ihr Handeln umzusetzen. Dabei scheinen es vor allem die institutionellen Rahmenbedingungen – etwa die monolinguale Ausrichtung der Bildungseinrichtung – zu sein, die die praktische Umsetzung der eigentlich positiven Einstellung erschweren.
Interne Evaluation pädagogischer Teams
Zusammengefasste Werte bieten eine gute Basis für vergleichende Analysen, zugleich liegt es in ihrer Natur, dass sie die Realität verkürzt abbilden. Es lohnt sich daher der Blick in die Details – hier exemplarisch anhand ausgewählter Ergebnisse der 83 Lehrkräfte der Schule mit griechisch-deutschem Zweig aus dem CoLiBi-Projekt.
87% der Lehrerinnen und Lehrer stimmen der Aussage zu, dass die Förderung der Zweisprachigkeit eine wichtige Aufgabe der Schule ist. Dies spiegelt sich in der konkreten Umsetzung jedoch nur mäßig wider: Immerhin noch 58% der Lehrkräfte geben an, dass sie die Schülerinnen und Schüler ermuntern, all ihre Sprachen in das Schulleben ein­zubringen. Gefragt, ob sie alle Sprachen der Schülerinnen und Schüler in den Unterricht mit einbeziehen, antworten dann 40% der Lehrerinnen und Lehrer mit überhaupt nicht, und 31% mit eher nicht. Für viele Lehrkräfte scheint also trotz Achtung und Wert­schätzung der Zweisprachigkeit generell eine durchgehende Trennung der Sprachen erstre­benswert – oder ist es vielmehr die Unsicherheit, wie Sprachen stärker einbezogen werden können, die sich hier spiegelt? Darauf deutet die mit 18% recht hohe Anzahl von ich weiß nicht-Stimmen bezüglich der Aussage Es gibt im deutschsprachigen Unter­richt Situationen, in denen die Verwendung von nicht-deutschen Familiensprachen durch die Schülerinnen und Schüler sinnvoll ist.
Ambivalent fallen die Antworten zur Beratung der Eltern aus: So geben zwar 69% der Lehrerinnen und Lehrer an, dass sie Eltern prinzipiell darin unterstützen, ihre Muttersprache mit ihren Kindern zu sprechen. Im Widerspruch dazu raten aber ebenfalls 69% der Lehrkräfte Eltern mit nicht-deutscher Mutterspra­che, mit ihren Kindern möglichst viel Deutsch zu sprechen. Tatsächlich finden sich 24 Lehrkräfte, die beide Items mit trifft eher zu beantworten, obwohl es sich doch eigentlich um gegensätzliche Aussagen handelt. Selbst wenn vielleicht unterschiedliche Deutschkenntnisse der Eltern diese verschiedenen Ratschläge verursachen, zeigt sich hier eine deutliche Unsicherheit der Lehrkräfte, die für Rat suchende Eltern hoch problematisch werden kann.
Alarmierend ist schließlich die Bewertung des Items Es ist in Ordnung, wenn Kinder gleicher Familiensprache in der Schule außerhalb des Unterrichtes untereinander ihre nicht-deutsche Sprache sprechen: Dazu gibt es zwar eine hohe Zahl von Zustimmungen, jedoch stimmen 17% der Lehrkräfte hier eher nicht und 21% überhaupt nicht zu.

Konkrete Impulse für Teamentwicklung
Aus den Ergebnissen lassen sich konkrete Impulse für die Team- und Konzeptarbeit an dieser Schule ableiten: Was hindert die Lehrkräfte daran, die Sprachen ihrer Schülerinnen und Schüler stärker in den Schulalltag einzubeziehen? Welche ganz konkreten Möglichkeiten können hierzu erarbeitet werden? Wie empfinden die Schülerinnen und Schüler das Klima bezüglich Mehrsprachigkeit an ihrer Schule? Ein zentrales Thema für eine Fortbildung dieses Kollegiums wäre sicher die Bedeutung der Muttersprache für die kindliche Entwicklung und damit zusammenhängend die Frage, wie man Eltern am besten unterstützt. Die Items aus dem Fragebogen eignen sich dabei als konkrete Diskussionsgrundlage.

Fazit & Ausblick
In der zweisprachigen Entwicklung von Kindern spielen Einstellungen pädagogischer Fachkräfte eine wichtige Rolle. Es empfiehlt sich daher, diese stärker in den Blick zu nehmen. Wenn immer noch zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer der Meinung sind, dass auf dem Schulhof auch von anderssprachigen Schülerinnen und Schülern untereinander deutsch gesprochen werden soll; wenn viele Fachkräfte unsicher sind, wie sie Eltern beraten können, kann dies nur als ein dringender Appell an Forschung und Lehre aufgefasst werden: Es muss noch besser gelingen, wissenschaftliche Erkenntnisse in die Praxis zu transportieren. Ein höherer Stellenwert dieser Themenbereiche in Aus-/Fortbildung ist dringend nötig: Wissen, aber auch die Auseinandersetzung mit der Entstehung eigener Haltungen trägt wesentlich zur bewussten Reflexion und Veränderung bei. Der vorgestellte Fragebogen bietet sowohl für Forschung, als auch für (Selbst)reflektion einen strukturierten Einstieg.

1 Die Bundesregierung (2007). Der Nationale Integrationsplan. Berlin, S. 26.
2 Initiiert durch die Bezirksregierung Köln und federführend durchgeführt durch Prof. Hans H. Reich, Universität Landau. Reich, Hans H. (2011). Schriftsprachliche Fähigkeiten türkisch-deutscher Grundschülerinnen und -schüler in Köln. Ein Untersuchungsbericht. Köln. Abrufbar unter http://www.zmi-koeln.de/index.php/materialien/Allgemeine-Dokumente/Koala/Evaluation-KOALA.pdf/; Reich, Hans H. (2016). Auswirkungen unterschiedlicher Sprachförderkonzepte auf die Fähigkeit des Schreibens in zwei Sprachen. In: Peter Rosenberg und Christoph Schroeder, Mehrsprachigkeit als Ressource in der Schriftlichkeit, Berlin, S. 177 – 205.
3 In CoLiBi kooperierten Wissenschaftlerinnen der Aristoteles-Universität Thessaloniki (Prof. Ianthi Tsimpli und ihr Team) und der Universität zu Köln (Prof. Christiane Bongartz, Prof. Argyro Panagiotopoulou und Teams).