Transnationale Biographien: Exkursion nach Istanbul

Transnationale Biographien: Exkursion nach Istanbul

Stefanie Magdalene Helbert und Sandra Tietjens • Artikel im ZMI Magazin 2016, S. 12

Zum zweiten Mal hatten Masterstudierende der Interkulturellen Bildungsforschung der Universität zu Köln die Möglichkeit, im Rahmen eines Seminars an einer Exkursion nach Istanbul teilzunehmen; der einzigen Stadt, die auf zwei Kontinenten zugleich liegt. Der thematische Schwerpunkt der von Dipl.-Päd. Tim Wolfgarten geleiteten Exkursion lag in diesem Jahr auf dem Konzept von Transnationalität.

„Transnational“ – das Wort ist in aller Munde
Konzerne bezeichnen sich heute als „trans-national“, wenn sie Geschäftsstellen in verschiedenen Staaten haben; und auch eine länderübergreifende Vernetzung terroristischer Organisationen bekommt das Label „transnationaler Terrorismus“ aufgedrückt. Einfach ein schickes Wort für inter- oder multinational? Was soll der Begriff tatsächlich umschreiben? Und was ist ein transnationaler Raum oder eine transnationale Biographie?
„Transnational“ ist ein Prozess, in dem Beziehungen, soziale Praktiken und Symbolsysteme geschaffen werden, die nationalstaatliche Grenzen überschreiten. Doch umgangssprachlich wird der Begriff recht konfus verwendet. Oft wird verkannt, dass es hier, anders als bei den Begriffen international und multinational, ausschließlich um zwischenmenschliche Beziehungen und Netzwerke geht. Ein Konzern oder eine Organisation könnten demnach selber gar nicht transnational sein, lediglich ihre Mitarbeitenden können individuell transnationale Netzwerke haben.
In den Bildungswissenschaften wird gerne das Konzept transnationaler sozialer Räume aufgegriffen, zwischenmenschliche Verflechtungen, die multi-lokal sind und einen neuen Raum konzipieren, der Alltagspraxis, sowie Biographie und Identität von Personen leitet und über den sozialen Zusammenhang der Nationalität hinausgeht. Aber ist dies im realen Leben tatsächlich so vorzufinden? Wie darf man sich eine transnationale Biographie vorstellen? Verorten sich Menschen, die theoretisch eine solche besitzen, auch in diesem Konzept?
Mit diesen Fragen im Gepäck fuhr die Exkursion nach Istanbul, das durch seine besondere Transitlage weltweit einmalig ist und somit ein optimales Forschungsfeld bei der Auseinandersetzung mit dieser Thematik. Aufgesucht wurden deutsch-türkische Gesprächspartnerinnen und -partner in verschiedenen Bildungseinrichtungen und kulturellen Institutionen, die jeweils ganz unterschiedliche, aber allesamt zumindest per Definition transnationale Biographien besitzen. In den geführten Gesprächen galt es herauszufinden, ob und wie sich die jeweilige Person im Konzept des Transnationalismus wiederfindet. Des weiteren sollte geklärt werden, welche persönlichen Ressourcen die Interviewten als entscheidend für ihren beruflichen und privaten Lebensabschnitt in Istanbul empfinden. Dabei trugen grobe Leitfragen zu einem erfreulich offenen und dynamischen Austausch bei.
Den meisten Interviewten könnte der Theorie zufolge eindeutig eine transnationale Biographie zugeschrieben werden, und alle pflegen privat und beruflich Beziehungen über die Grenzen der Türkei hinaus.
Doch das Konzept der Transnationalität scheint bisher in der Lebenswelt der Menschen nicht aufzutauchen. So sahen sich die Befragten beispielsweise als Deutsche, die in der Türkei leben, oder als Türkinnen und Türken, die lediglich in Deutschland geboren sind – Nationalität war in jedem Gespräch ein Begriff. Wie kommt das? Es liegt nahe, dass man sich außerhalb von Universitäten kaum mit solchen Theorien beschäftigt. Es zeigt auch, dass die Idee der nationalen Zugehörigkeit und alles, was damit einhergeht, fest in unseren Denkstrukturen verankert ist. Ob weltweite Migrationsbewegungen, die alle Gesellschaftsschichten durchziehen, in Zukunft eine Veränderung in diesem Gebiet bewegen?

Sprache als Ressource
Sprache wurde in allen Gesprächen als eine der wichtigsten Ressourcen für den beruflichen und privaten Werdegang genannt. Mit einer einzigen Ausnahme waren alle Befragten bilingual groß geworden. Türkische Sprachkenntnisse wurden als obligatorische Voraussetzung oder als hilfreiche Zusatzkenntnis für die aktuelle berufliche Tätigkeit genannt, waren aber auch bedeutend für das familiäre Zusammenleben und das private Umfeld. Teilweise wurden Sprachkenntnisse sogar mit Kenntnissen über eine Kultur oder Lebensart gleichgesetzt. Aber nicht immer wurden Sprachkenntnisse in positivem Licht gesehen: Die Befragten sahen in ihnen auch einen Stolperstein. Personen, die das Türkische nicht als Erstsprache erlernt hatten, bedauerten den begrenzten Rahmen von Ausdrucksmöglichkeiten, der verschiedene Türen verschlossen hält. Wird die Sprache gut beherrscht, besteht wiederum die Gefahr, unangenehm aufzufallen, wenn bestimmte kulturelle Codes oder Alltagspraktiken nicht bekannt sind, die andere Sprecherinnen und Specher unhinterfragt voraussetzen. Im wissenschaftlichen Bereich wurde auf die geringere Reichweite von Publikationen verwiesen, die nicht auf Englisch verfasst werden, sondern – in diesem Fall – auf Deutsch oder Türkisch.
Kultur wurde immer wieder als Ressource genannt, die hilfreich bei einer Migration oder für den Beruf war. Bei genauerem Nachfragen stellte sich aber heraus, dass viele Personen unter Kenntnis der Kultur Sprachkenntnis verstehen. Sprache scheint nicht nur als Hauptkriterium für den Zugang zu Beruf und Privatleben, sondern auch als Basis für kulturelles Verständnis gesehen zu werden.
Bei einem Besuch in dem regierungskritischen Kulturzentrum Depo hinterließ die Ausstellung zum kurdischen Frühjahrsfest noch einen weiteren Eindruck in Bezug auf Sprache. Bisher waren nur Sprachen betrachtet worden, die einen gewissen wirtschaftlichen Nutzen mit sich bringen. Doch wie sieht es eigentlich mit den Sprachen aus, die von Minderheiten gesprochen werden und diesen Nutzen nicht bieten? Kurdisch ist bekanntlich ein heikles Thema in der Türkei und wird trotz zahlreicher Sprecherinnen und Sprecher kaum an Schulen unterrichtet. In der interkulturellen Bildung wird die Forderung immer lauter, auch Minderheitensprachen aktiv in Bildungsinstitutionen anzubieten.
Im Laufe der Exkursion haben die Studierenden eine sehr differenzierte Sichtweise auf Sprache als Ressource gewinnen können und diese als Symbol für die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, Ländern und Kulturen, aber auch als potenziellen Stolperstein kennengelernt.