Teilen macht Spaß … und DemeK-Unterricht kann auch spannende Inhalte vermitteln

Teilen macht Spaß … und DemeK-Unterricht kann auch spannende Inhalte vermitteln

Dr. Lotte Weinrich • Artikel im ZMI Magazin 2014, S. 19

Viele Lehrkräfte haben in den letzten Jahren viel Zeit und Kraft darauf verwendet, sich sprachdidaktisch fortzubilden. Sie haben dadurch tiefere Einblicke in sprachsystematische Zusammenhänge gewonnen und erkannt, dass Kinder und Jugendliche oft noch einen langen Weg vor sich haben, an dessen Ende idealerweise das Beherrschen der bildungssprachlichen Varietät in Wort und Schrift steht. Als Konsequenz aus diesem Wissenszuwachs bemühen sie sich darum, die Schulleistungen ihrer Schülerinnen und Schüler entwicklungsorientiert einzuschätzen, was für eine inklusiv auszurichtende Fachdidaktik grundlegend ist.

Lehrerinnen und Lehrer, die Fortbildungen in DemeK (Deutschlernen in mehrsprachigen Klassen) mit dem Herzstück der Generativen Textproduktion im Sinne Gerlind Belkes durchlaufen haben, haben ihren Blick für die grammatischen Herausforderungen (Konjugation, Deklination) schärfen können, die mit dem Erwerb einer flektierenden Sprache verbunden sind. Entsprechend bemessen sie den Wert von literarischen Texten, an deren Mustern sich Kinder und Jugendliche orientieren sollen, vor allem daran, welches grammatische Potential die Texte bieten. Zum wichtigen Auswahlkriterium für Unterrichtstexte (Gedichte, Erzählungen, Lieder) wird also, ob sie z. B „schöne Akkusativobjekte“ oder komplexe Nominalgruppen enthalten. Die Folge: In manchen DemeK-Stunden läuft der Unterricht dann so ab, dass nach einer kurzen Hinführung zum Text relativ schnell das grammatische Üben im Vordergrund steht. Zur Vorbereitung der eigenen Textproduktion werden mit den Kindern sog. „Sammellisten“ erstellt, auf denen mögliche Austauschwörter (je mehr, desto besser) festgehalten werden, dreifarbig sortiert nach ihrem Genus, oder es werden Sprachrunden angeregt, in denen die Kinder nach der Reihe vollständige (!) Sätze sprechen, die grammatische „Stolpersteine“ enthalten. Als befriedigend erleben Lehrerinnen und Lehrer, dass die Kinder durch den klaren Fokus auf die Wörter und Strukturen in die Lage versetzt werden, endlich richtig zu sprechen und zu schreiben. Diese Zielvorgabe ist aus Arrangements des Fremdsprachenunterrichts bekannt.
Die Vorteile eines auf den grammatischen Fokus ausgerichteten DemeK-Unterrichts sollen hier keineswegs in Abrede gestellt werden. Schließlich wurde lange dafür gekämpft, dass Lehrkräfte sich auch als Sprachenlehrerinnen und -lehrer verstehen. Allerdings kann beobachtet werden, dass einige DemeK-Stunden mechanisch, ja fast seelenlos ablaufen. In ihrer einseitigen Ausrichtung auf das Einschleifen von grammatischen Strukturen ähneln sie sogar dem „pattern drill“ der 1970er Jahre, der bekanntlich keine Erfolge erzielen konnte. Ein solcher Unterricht leidet unter der gleichen Einseitigkeit wie der nur auf Inhalte ausgerichtete Unterricht, den man überwinden wollte. Nur die Vorzeichen sind vertauscht.
Die Frage ist deshalb, wie DemeK zukünftig Muttersprachendidaktik und Sprachenlernen, Form und Inhalt stärker in die Balance bringen kann. Sprachbildung ist auf Inspiration angewiesen und braucht attraktive Stoffe, die kognitiv herausfordern und emotional berühren. Bei der Sondierung der für die Generative Textproduktion geeigneten literarischen Texte sollten Lehrkräfte deshalb beide Augen offen halten: Ein Auge bleibt auf die formal-sprachlichen Angebote gerichtet, die der Text bietet. Das andere Auge aber sieht darauf, was der Text inhaltlich zu bieten hat: Behandelt er ein Thema, das mich selber anspricht und das auch die Kinder meiner Klasse in Schwingungen versetzen könnte? Nur wenn die Schülerinnen und Schüler wirklich vom Inhalt des Textes ergriffen werden, er nicht nur Aufhänger ist, sondern die Aufmerksamkeit länger auf sich zieht, kann man vermuten, dass seine „kostbare Verpackung“, wie Heinz Schlaffer die Sprache der Poesie nennt, mitverarbeitet und abgespeichert wird.
Im Kolleginnenkreis, die wir mit der Weiterentwicklung von DemeK-beschäftigt sind, wurde eine Unterrichtseinheit für die 1. und 3. Klasse einer Grundschule entwickelt, die diesem „geteilten Blick“ gerecht werden soll. Monika Lüth hat diese Unterrichtsidee in einer Kalker Grundschule umgesetzt und ich war mit der Kamera dabei.
Als Basistext für die DemeK-Stunden wurde ein kurzes Gedicht (ohne Titel) von Frantz Wittkamp ausgewählt. Ausgiebig diskutierten wir in der Gruppe zunächst die inhaltlichen Potentiale des Vierzeilers, danach seine grammatischen und lexikalischen Herausforderungen. Als Ergebnis des „geteilten Blicks“ konnten wir Folgendes festhalten: Abb. 1 oben.
Inhaltliches Ziel der Unterrichtseinheit in Klasse 1 sollte sein, dass die Kinder sich mit dem wichtigen Thema „Teilen“ auseinander setzen. Schließlich bewegt dieses Thema die Menschheit seit jeher. Zum Auftakt der Stunde schrieb Monika Lüth das Verb „teilen“ an die Tafel, woraufhin ein Schüler ausrief, seine Mutter komme auch aus „Teilland“ (Thailand). Auf Nachfrage, was sie mit anderen teilten, gaben die Kinder bereitwillig Auskunft (die x-Box, die Play Station, das Zimmer).
Die Lehrerin trug das Gedicht dann ausdrucksstark vor, wobei sie zur Sicherung des Textverständnisses die Zeilen gestisch untermalte. Beim nochmaligen Vortragen wurde zusätzlich ein Apfel mit einem Messer geteilt, was 26 Kinder mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgten (s. Abb. 2):
Die Botschaft des Gedichtes haben alle Kinder verstanden, denn sie entrüsten sich spontan: „Das ist gemein!“ oder “Wie unfair!“. Jetzt wird das Gedicht gemeinsam sowie in Gruppen chorisch gesprochen und gestisch begleitet. Schnell können fast alle Kinder den Text auswendig sprechen. Gemeinsam wird überlegt, wie man gerecht teilen kann. Monika Lüth verweist auf die 400 Jahre alte Teilungsregel im Erbrecht, bei der einer teilt und der andere wählt. Das sollen immer zwei Kinder mit einem Schokoriegel selbst ausprobieren (s. Abb. 3).Anschließend wird gefragt, was die Kinder denn gerne teilen und was nicht. Viele Schülerinnen und Schüler bekräftigen daraufhin, dass sie alles gerne teilen. Auf einem mit einem Strich geteilten Blatt sollen sie ihre Gedanken festhalten. Einige Kinder klappen daraufhin die rechte Seite des Blattes um. Eine Ausnahme bildet die 6-jährige Selma, die zwar noch nicht
schreiben kann, aber bereitwillig ihre Zeichnung erläutert (s. Abb. 4):
Gerne teilt sie z. B. einen Apfel, den Fernseher und die Zahnbürste. Nicht gerne teile sie hingegen eine Wärmflasche, einen Stuhl und einen Liebesbrief. Jeder der von ihr genannten Punkte beweist pragmatisches Wissen und echte Nachdenklichkeit.
Zum Ende der Stunde soll jedes Kind noch einmal in einer bewusst satzförmig angelegten Sprachrunde Antwort auf die Frage geben, mit wem es den Tisch teilt und den passenden Kindernamen ergänzen. Dieser wiederholt gehörte und gesprochene Satz wird anschließend (gestützt durch einen Tafelanschrieb) von allen Kindern noch einmal aufgeschrieben (s. Abb. 5).
Auf die korrekte Verwendung des Akkusativobjektes und des richtigen Kindernamens wird hier geachtet.
Im 3. Schuljahr wurde zunächst auf gleiche Weise in das Thema des Gedichtes eingeführt. Interessant war im Vergleich, dass die Drittklässler ganz anders als die Kinder des ersten Schuljahres überhaupt nicht mehr vom Teilen begeistert schienen. Eine Schülerin beklagte sich lauthals, sie müsse alles mit ihren drei Geschwistern teilen, sogar ihre Strümpfe. Einige Kinder lesen vor, was sie gerne teilen und was nicht. Nachdenklich stimmt die Gegenüberstellung von Faruk (s. Abb. 6), der zwar bereitwillig Süßigkeiten, Blätter und Geld teilt, nicht so gerne aber sein Spielzeug. Vor allem aber möchte er nicht seine Eltern teilen, die seit kurzem getrennt leben.
Zur Vorbereitung des Schreibanlasses wird ein Tafelanschrieb aufgeklappt, der auf der einen Seite das Ursprungsgedicht enthält und auf der anderen Seite ergänzt werden soll. Die Aufgabe besteht darin, die letzten beiden Zeilen des Gedichtes so auszutauschen, dass der Text ein faires Teilangebot enthält. Eine Schülerin findet dafür schnell eine Lösung, die syntaktisch an das Ursprungsgedicht angelehnt ist: „Eine Hälfte esse ich und du bekommst die zweite“. Daraufhin meldet sich ein zweiter Schüler zu Wort, der als Flüchtlingskind noch ganz am Anfang seines Zweitspracherwerbs steht. Er bemerkt völlig zu Recht, dass der Teiler nach der alten Teilungsregel nicht als erster zugreifen darf und schlägt deshalb als höfliche Variante vor: „Eine Hälfte bekommst du und ich behalte die zweite“. Alle Kinder stimmen ihm zu und sein Vorschlag wird an der Tafel festgehalten (s. Abb. 7).
Gemeinsam mit der Klasse wird seine faire Variante noch mehrmals gesprochen.
Zum Abschluss der Stunde schreiben die Schülerinnen und Schüler ihre eigenen „Teile-Gedichte“, wobei sie selber wählen, ob sie sich für die faire oder für die unfaire Variante entscheiden oder beides probieren. Bemerkt wird auch, dass die Bezeichnung „brüderlich“ in weiblichen Kontexten unpassend ist. Als Alternative verwenden einige Schreiberinnen „schwesterlich“, „geschwisterlich“ oder „menschlich“. Es entstehen viele geistreiche, nachdenkliche und witzige Texte. Ein Text soll zum Abschluss noch einmal näher betrachtet werden (s. Abb. 8):
Der eher schüchterne und zurückhaltende Schüler Ismail gibt sich auf seinem „Schmuckblatt“ erst einmal drei neue Namen: Mit erstem Spitznamen nennt er sich „Trodon“, mit dem zweiten „Wütend“ und mit dem dritten „Explosion“. Passend dazu wählt er die unfaire Textvariante, bei der sein größerer Bruder Furkan das Opfer ist. Er selber kann sich nun in zwei Zimmerhälften breit machen und sein Bruder geht als armer Tropf leer aus, wie seine Zeichnung unmissverständlich noch einmal verdeutlicht. Als Ismail seinen Text in der Klasse vorträgt, lachen die anderen Kinder, da sie beide Brüder kennen. Alle haben ein Beispiel dafür bekommen, dass Machtverhältnisse zumindest in der Fiktion einfach umgedreht werden können.
Die geschilderte Unterrichtseinheit soll kein Beispiel für „best practice“ sein. Sie soll lediglich zeigen, dass es sich lohnt, literarische Texte in das Zentrum des Unterrichtsgeschehens zu rücken, die ein menschlich bedeutsames Thema behandeln und dies mit ausgewählten sprachlichen Mitteln zu tun. Hierin liegt ihr besonderes Potential für die Sprachbildung. Mir hat es großen Spaß gemacht zu hören und zu lesen, was in den Köpfen der Kinder vorgeht und ihre Gedanken zu teilen.

Literatur
Belke, Gerlind (2012): Mehr Sprache(n) für alle. Sprachunterricht in einer vielsprachigen Gesellschaft. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.
Hentschel, Elke (2014): Grammatikunterricht für Lernende ohne Grammatikkenntnisse. In: Dengscherz, Sabine u. a. (Hrsg): Grammatikunterricht zwischen Linguistik und Didaktik. DaF/DaZ lernen und lehren im Spannungsfeld von Sprachwissenschaft, empirischer Unterrichtsforschung und Vermittlungskonzepten. Tübingen: Narr, S. 23-37.
Schlaffer, Heinz (2012): Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik. München: Hanser.
Ziesmer, Marion (2011): Die entfesselte Sprache. Fallstudien zum poetischen Erleben von Kindern aus Einwandererfamilien. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.

1 Vgl. z. B. Gerlind Belke (2012): Mehr Sprache(n) für alle. Sprachunterricht in einer vielsprachigen Gesellschaft. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.
2 Vgl. Hentschel, Elke (2014): Grammatikunterricht für Lernende ohne Grammatikkenntnisse. In: Dengscherz, Sabine u. a. (Hrsg): Grammatikunterricht zwischen Linguistik und Didaktik. DaF/DaZ lernen und lehren im Spannungsfeld von Sprachwissenschaft, empirischer Unterrichtsforschung und Vermittlungskonzepten. Tübingen: Narr, S. 23-37.
3 Heinz Schlaffer (2012): Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik. München: Hanser, hier: S. 38.
4 Grammatisch kann das Verb „teilen“ transitiv, intransitiv und reflexiv verwendet werden. Seine Semantik ist sehr viel breiter als in vielen anderen Sprachen, in denen lexikalisch differenziert wird (z. B. türk.: taksim etmek/ bölmek/paylasmak/ayırmak; frz.: diviser/partager oder engl.: to divide/to split up/to share).
5 Vielleicht hätten wir ein bei Kindern beliebtes Nahrungsmittel nehmen sollen, das weniger Süßigkeit ist (Bananen, Salzstangen).