Fachtagung „Lebendiges Romanes“ am 26.10.2015: Interview mit Prof. Courthiade

Fachtagung „Lebendiges Romanes“ am 26.10.2015: Interview mit Prof. Courthiade

Die Fragen stellte Karl-Heinz Heinemann • Artikel im ZMI Magazin 2015, S. 25

Herr Courthiade, Sie kritisieren, dass die EU die Sprache Rromani unzureichend fördern würde. Dabei tut die EU doch sehr viel, um gerade die kleinen Sprachen zu stützen?
Die europäischen Behörden wollen die Sprachen stützen. Aber ihre Idee ist, dass man künftig zwei Ebenen hat, Englisch als die allgemeine Sprache und dann eine der Minderheitensprachen. Es gibt ja heute nur Minderheitensprachen in Europa, auch das Deutsche ist eine Minderheitensprache. Es gibt einige Sprachen, die keine Kraft haben, wenn sie nur in einem oder zwei Dörfern gesprochen werden, wie die der deutschen Minderheiten in Norditalien zum Beispiel oder der Istrorumänen in Kroatien. Wir können uns kaum vorstellen, dass man in diesen Sprachen sein Leben bewältigen kann. Und die europäischen Behörden glauben, dass Rromani eine solche Sprache ist. Sie wollen Rromani unterstützen wie diese kleinen Mundarten in Italien, aber nicht wie eine einzige Sprache. Sie betrachten Rromani als eine Konstellation von getrennten Sprachen (sie sagen „Mosaik“) und nicht als eine Sprache mit ihren vier Dialekten, die zwar teilweise vergessen, aber auch lebendig sind. Das ist der große Unterschied zwischen der europäischen Vorstellung und unserer.

Rromani ist also eine „große kleine Sprache“?
Rromani ist eine Sprache, die von fünf bis sechs Millionen Leuten gut gesprochen wird, andere sprechen sie nur bei Hochzeiten oder Familienfesten. Rromani ist nicht wie eine von den Mundarten in den kleinen Tälern in Italien, oder z.B. wie der Kajnas, eine „Minisprache“ in Albanien, die nur von einem Vater und seinem Sohn gesprochen wird. Es ist eine einzige Sprache, natürlich mit lokalen Varianten, wie jede Sprache. Emotional könnte man sagen, es gibt 1000 Rromani Sprachen, aber wissenschaftlich, mit der dialektologischen Methode haben wir vier Dialekte, drei große Dialekte und einen geographisch kleinen Dialekt, aber alle können wir uns miteinander verständigen.

Aber es gab Rromani bisher nicht als Schriftsprache?
Doch, selbstverständlich! Es wurde schon seit fast einem Jahrhundert geschrieben, mit Dutzenden von Publikationen in der Vorkriegssowjetunion, aber später, vor 25 Jahren, wurde eine gemeinsame Rechtschreibung für beide Archidialekte angenommen. Diese zwei Archidialekte können wir in vier Dialekte einteilen, die gleich geschrieben sind. Es gibt ungefähr 15 Unterschiede zwischen diesen Archidialekten. Wir haben zwei Dachsprachen, die sich zu 98 % untereinander verständigen können. Es gibt zwar Unterschiede in der Aussprache, aber die Schreibweise ist im Prinzip gleich und jede Leserin oder jeder Leser liest in seinem Heimatdialekt. Die Differenz in Grammatik oder Wortschatz muss die Schule erklären, wie beim Spanisch, das wird in 44 Staaten in vielen Varianten gesprochen. Was für Spanisch möglich ist, das muss doch auch für Rromani möglich sein.

Und wie wird diese Sprache festgelegt? Gibt es dann so etwas wie in Deutschland den Duden als verbindliche Norm?
Nein, die Prinzipien sind normiert, nicht die Formen. Warum sollten wir eine Duden-Sprache haben, wir können uns auch ohne Duden verständigen. Aber es ist wahr, dass wir in einer kohärenten und einheitlichen Weise das Vokabular anwenden und erneuern müssen. Wir haben eine Kommission für Sprache. Der Respekt für die Mundarten meines Bruders ist der Respekt für meinen Bruder – wie der Rromani Grammatiker Šaip Jusuf sagt! Die Schriftsprache ist der Schlüssel, um das alles zu verstehen. Alle können gleich schreiben, und jeder liest, wie er es von seinem Vater oder Großvater oder Urgroßvater gehört hat. Jeder bringt seinen Wortschatz ein.

Gibt es denn Rromani schon lange als Schriftsprache?
Der erste Dichter war Stojka Ferencz aus Paks in Austro-Ungarn. Er hat vor 140 Jahren die 25 ersten Dichtungen auf Rromani geschrieben, als Glückwünsche für die Edlen oder über die Küche, das war damals Ende des 19. Jahrhundert ein Trend, auch auf Deutsch und Ungarisch.
Ein halbes Jahrhundert später gab es viele Bücher in der Sowjetunion, etwa 250 vor dem Krieg. Wir haben angefangen, sie wieder herauszugeben, aber das ist nicht einfach. Das bedeutet Arbeit und für Arbeit braucht man Geld.

Rromani muss also nicht als Schriftsprache neu begründet werden.
Literatur und Kreativität sind für uns wichtig. Literatur, das ist geistige Freiheit. Eine Sprache braucht nicht einfach Technologie wie ein Mikrofon oder ein Aufnahmegerät oder politisches, administratives oder juristisches Vokabular. Das wäre nur ein Werkzeug, nicht eine Sprache. Manche Texte (Prosa oder öfter Dichtungen) sind mehr mundartlich, Kindheitserinnerungen zum Beispiel, aber es gibt Dichtung und Prosa mehr in Richtung der Schriftsprache. Der Dichter hat künstlerische Freiheit.

Wird denn Rromani auch in Schulen als Sprache gelehrt?
Ja! In Rumänien lernen rund 35.000 Schüler in jedem Jahr Rromani, und das jetzt schon seit 25 Jahren. Also sind schon eine halbe Millionen Bürgerinnen und Bürger durch diese Schule gegangen. Das ist etwas Wunderbares, ein sehr gutes Modell für Europa. Aber bisher hat nur Rumänien einen solchen Schritt getan. Und das, obwohl diese Sprache in Europa von fünf – sechs Millionen Leuten gesprochen wird und die das Erbe von 15 Millionen Personen in der Welt ist.

Ach, sind denn Rumänisch und Rromani verwandt?
Wie Deutsch und Persisch, also nicht viel! Rromani ist keine romanische Sprache, sondern eine indische. Die stammt aus Nordindien, aus der Stadt Kannaudsch, da gab es eine Deportation von Sultan Mahmud, in 1018. Er brauchte Künstler und Handwerker. „Rrom“ bedeutete „Künstler“ auf Sanskrit (Urform war „omba“). Und er hat 53.000 Künstler nach Ghazni in Zabulistan (heute in Afghanistan) deportiert. Später verkaufte er sie reichen Honoratioren der Khorassan. Dann sind die ersten Türken aus der Mongolei gekommen und, nach einem Krieg, zusammen mit den Türken sind die Ur-Rroma nach Anatolien gekommen.

Sie selbst kommen aus Frankreich?
Ich habe in Frankreich studiert. Meine Familie kommt aus Griechenland. Ich habe sehr viel Zeit in Jugoslawien gelebt und in Albanien. Dann wurde an der Pariser Sorbonne der Lehrstuhl für Rromani am Institut für französische Orientalistik eingerichtet und man hat mich gebeten, von Albanien nach Paris zu kommen. Ich möchte auch in Deutschland an Rromani arbeiten, … hoffentlich in Köln. Meine Frau Jeta und ich sind sehr stark von den Möglichkeiten hier beeindruckt.

Sie sind der einzige Rrom auf einem Lehrstuhl?
Nein! Es gibt sehr viele, aber ich war der erste in der Sprachwissenschaft. In den ehemals kommunistischen Ländern gibt es viele Rroma, die Professorinnen und Professoren wurden. In Bulgarien gibt es bspw. einen bekannten Chirurgen, Professor Kirkov. Aber viele Leute sagen, natürlich mit guten aber falschen Absichten, dein Vater war Rrom, aber du bist jetzt wie einer von uns, es gibt keine Unterscheidung, sag nicht mehr, du bist ein Rrom. Immer dieses Stereotyp, dass Rrom zu sein etwas Schlechtes ist. Das haben alle im Kopf. Und auch der Chirurg aus Bulgarien hat noch nicht die Methode gefunden, um dieses Stereotyp aus dem Gehirn heraus zu operieren.

Worin sehen Sie jetzt Ihre Aufgabe?
In den letzten fünf Jahren habe ich mit einer Gruppe aus Polen, Bulgarien, Rumänien, der Slowakei und Ungarn einen Online Universitätskurs für Rromani in Sprache, Literatur und Geschichte entwickelt. Wir haben Material für Rromani-Geschichte ausgearbeitet, mit inzwischen 17 Dokumentarfilmen. Und meine Idee ist es, eine Kooperation zwischen der Inalco Paris-City Sorbonne und der Kölner Universität herzustellen, so dass die Studierenden die Rromani Sprache und Kultur mit diesem Internetkurs (www.red-rrom.com) und andere einzelne Themen (die für die Licence obligatorisch sind: Informatik, Englisch, Methodologie oder deutsche Geschichte usw.) studieren können. Ich kann auch von Zeit zu Zeit hierher kommen, auch für die Prüfungen, um einen europäischen Abschluss zu machen. Das ist billig und sehr wichtig.

Und warum wäre es wichtig, auch in Deutschland Rromani zu lehren?
Ich bin sicher, wir können nicht mehr alle Probleme nur mit Geld lösen. Der geistige Reichtum ist wichtig und bringt mehr soziales Gleichgewicht. Unser Dichter Rajko Durić hat mir einmal gesagt: „Wir werden erst aus der Steinzeit ausgehen, wenn das Geld seinen richtigen Platz, nämlich als unser Sklave, einnimmt“. Wir kommen in eine Ära, in der die Leute mehr Literatur, mehr Kunst und menschliche Erziehung brauchen, dann sehe ich viele Möglichkeiten in Europa. Aber wir haben zu wenig diplomierte Rroma in dieser Richtung.
Wir brauchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Beispiel in Geschichte, über den Zweiten Weltkrieg, über den Samudaripen bzw. Porajmos (Genozid an den Rroma in NS Zeiten) – aber nicht nur, auch über Sklaverei in Moldawien und Muntenien und in vielen anderen intellektuellen Aktivitäten auch. Die Europäische Union gibt über fünfhundert Millionen Euro für Rromaintegration aus und es gibt keinen Fortschritt in diese Richtung. Es ist klar, dass es, zusätzlich zu der finanziellen Korruption, auch große konzeptionelle Korruption gab und gibt. Anstatt all dieses Geld in einer klugen Weise, nach Reflexion und Konsultation mit Rroma (auch mit älteren Familienköpfen), zu benutzen, wurde es für Programme ausgegeben, die auf Klischees und falscher Wahrnehmung der sozialen, ethnischen Beziehungen beruhen. Wenn man mehr Geld in die kulturelle Entwicklung mit Anerkennung und Respekt der Rromani Sprache, der Leute und ihrer Identität stecken würde, würde man viel mehr erreichen. Aber dafür müssen Sie zuerst anerkennen, dass Rroma existieren, dass die Rromani Sprache existiert, dass es eine Rromakultur, eine Rromaliteratur, einen Rroma-Beitrag zur europäischen Kultur gibt (und nicht nur Rromaprobleme, Rromaintegrationsmangel, Rromamarginalisierung, Rromakriminalität usw. Alles das ist wahr, aber nur für einen Teil aller Rroma!). Jedoch fehlt es an politischem Willen. Stattdessen gibt es nur die Angst, dass Rroma soziale Probleme machen.