DOMiD – Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland
Arndt Kolb • Artikel im ZMI Magazin 2014, S. 26
Migrationserfahrungen gehören von Anfang an zur Menschheitsgeschichte. Wir können also zu Recht von einem »Normalfall Migration« sprechen. Doch dieser „Normalfall“ wird bei uns erst seit 2005 als solcher wahrgenommen. Erst seitdem definiert sich die Bundesrepublik offiziell als Einwanderungsland.
Die Kenntnisse über die Ursachen, Stationen und Auswirkungen von Migration blieben auch deswegen so rudimentär, weil die Geschichte der Einwanderinnen und Einwanderer weder in der Wissenschaft noch in Archiven und Museen besondere Aufmerksamkeit erhielt. Um diesem Mangel abzuhelfen wurde 1990 der Verein DOMiD gegründet. Sein Ziel ist es, das historische Erbe von Einwanderinnen und Einwanderern in Deutschland zu bewahren und öffentlich zugänglich zu machen. Wir sind damit der älteste Akteur, der sich mit diesem Thema auseinandersetzt. Was aus den Anfängen entstand, kann sich sehen lassen: DOMiD besitzt heute eine bundesweit einzigartigen Sammlung von mehr als 70.000 Objekten, Datensätzen, Unterlagen und Fotos zu allen Einwanderungsgruppen nach Deutschland seit 1955.
Eins ist uns dabei wichtig: Wir bewahren dadurch nicht nur die Geschichte der Einwanderinnen und Einwanderer, sondern auch die ihrer »deutschen« Kolleginnen und Kollegen, Nachbarinnen und Nachbarn und Freundinnen und Freunde, also die Sicht des Aufnahmelandes. Dementsprechend stellen wir keine Migrantengeschichte dar, sondern Migrationsgeschichte, also keine isolierte Geschichte, die nur Migrantinnen und Migranten betrifft, sondern eben das was sie ist: Deutsche Geschichte.
Mit unserer Sammlungs- und Ausstellungsarbeit leisten wir einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungskultur in Deutschland und zum Abbau kultureller Missverständnisse und Vorurteile, nicht zuletzt im schulischen Bereich.
Dort wird immer wieder mit erhobenem Zeigefinger auf eine scheinbare Zusammengehörigkeit der Begriffe „Migrationshintergrund“ gleich „bildungsfern“ verwiesen. Dabei wird aber zu wenig beachtet, dass manche Probleme auf Defizite in unserem Bildungssystem zurückzuführen sind. Das beleuchtet z.B. ein Blick auf die Einwanderungsgeschichte der 1960er und 1970er Jahre:
Waren die Kinder in den ersten Jahren der staatlichen Anwerbung von Arbeitskräften seit 1955 im Heimatland geblieben, kamen sie mit der längeren Aufenthaltsdauer ihrer Eltern nach Deutschland nach. Die Anpassung an ein fremdes Land war bereits für manchen Erwachsenen eine Herausforderung. Für die Kinder jedoch war dieser Vorgang noch weitaus dramatischer. Herausgerissen aus ihrem heimatlichen Umfeld, standen sie oft vor enormen Schwierigkeiten. Kinder, die bei der Einreise noch klein waren, konnten sich noch am ehesten an die neue Situation gewöhnen. Den Älteren fiel es dagegen schwer, sich zurechtzufinden. Wer die deutsche Sprache nicht beherrschte, fühlte sich ausgegrenzt und unerwünscht. Ohne irgendwelche Vorbereitungen waren die Kinder ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in einen neuen Lebensabschnitt gestartet. Der schulische Alltag war unter diesen Umständen kaum zu meistern, zumal eine Schulpflicht für „Gastarbeiterkinder“ erst im April 1965 durch das Schulverwaltungsgesetz vorgeschrieben wurde. Um ihnen überhaupt den Besuch einer deutschen Schule zu ermöglichen, wurden viele Kinder ohne Benotung in den sprachlichen Fächern in die nächste Jahrgangsstufe versetzt, auch wenn kaum eine Chance auf einen Schulabschluss bestand. In den Zeugnissen hieß es dann: „… in allen sprachlichen Fächern wegen nicht genügender Deutschkenntnisse keine Benotung erteilt.“ Mit keinem oder nur einem schlechten Schulabschluss hatten ausländische Jugendliche in jenen Jahren lediglich die Möglichkeit, in ungelernten Berufen zu arbeiten. Eine berufliche Ausbildung blieb ihnen häufig versagt. Auch in späteren Jahren zeigten die für das Bildungssystem Verantwortlichen wenig Interesse an der Bildungslaufbahn dieser Kinder und Jugendlichen.
Diese Grundhaltung hat die Startchancen der Migrantenkinder und der folgenden Generationen negativ beeinflusst. Die, die trotz dieser schwierigen Bedingungen Schule und Berufsbildung erfolgreich absolvierten, mussten aufgrund ihrer soziokulturellen Herkunft mehr Willen und Durchsetzungsvermögen als andere aufbringen.
DOMiD dokumentiert genau solche Prozesse, da unser Archiv „von unten“ gewachsen ist. So finden sich auch zu diesem Thema in unserer Sammlung zahlreiche Materialien: von persönlichen Gegenständen dieser Kinder, wie Zeugnissen, Klassenfotos und Schultüten, bis hin zu behördlichen Unterlagen wie Verwaltungsschriftgut oder schulischen Lehrbüchern. Der Blick in unseren Fundus hat einen wesentlichen Vorteil: Er kann den aktuellen Diskussionen historische Tiefenschärfe verleihen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Interessierte sind deshalb zum Forschen in unserem Dokumentationszentrum herzlich eingeladen.