Lernen in zwei Sprachen.
Ein Interview mit Prof. Dr. Hans H. Reich und Rosella Benati • Artikel im ZMI Magazin 2011, S. 16
Gemeinsam mit Oberbürgermeister Jürgen Roters hat das ZMI am 23. November 2009 im Historischen Rathaus zu Köln den Verbund Kölner Europäischer Grundschulen gegründet. Zehn Kölner Grundschulen, die vom Rat der Stadt in seiner Sitzung am 10. September 2009 ernannt worden waren, zeichnete der Kölner Oberbürgermeister an diesem Tag feierlich aus: Allesamt Schulen, die auf vorbildliche Weise neuartige Wege für die Erziehung zur Mehrsprachigkeit beschreiten und die Berücksichtigung der natürlichen Mehrsprachigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler grundsätzlich und fest in ihren Schulprogrammen verankert haben. Es sind bilinguale und KOALA-Schulen, mit deutsch-italienischem und deutsch-türkischem Schwerpunkt, die den Verbund vom Start weg ausmachen – und die im Jahr 2010 intensiv miteinander zu arbeiten begonnen haben.
Im Mai 2011 haben die ersten beiden weiteren Kölner Grundschulen die Aufnahme in den Verbund beantragt: Die KGS Trierer Straße würde den Verbund mit ihrem deutsch-spanischen, die GGS Geilenkirchener Straße mit ihrem deutsch-französischen Angebot bereichern. Im Verbund kämen damit in nun vier Sprachen neben dem Deutschen zwar unterschiedliche, aber in jedem Fall vorbildliche Formen zweisprachigen Lernens zusammen; gemeinsam haben die bilingualen und KOALA-Schulen, dass das zweisprachige Lernen bei der Alphabetisierung und im Sachunterricht in den Klassen 1 bis 4 durchgeführt wird. Dies ist richtungsweisend.
Prof. Dr. Hans H. Reich (Universität Koblenz-Landau) hat Schülerinnen und Schüler Kölner Grundschulen, bei denen das KOALA-Konzept praktiziert wird – die also während des Anfangsunterrichts in zwei Sprachen koordiniert neben- und kontrastiv miteinander alphabetisiert werden –, während ihrer ersten vier Schuljahre wissenschaftlich begleitet: Im Zentrum dieser im Rahmen von Förmig begonnenen und finanziert durch das ZMI weitergeführten Forschungen standen schriftsprachliche Fähigkeiten türkisch-deutscher Grundschülerinnen und Grundschüler in Köln. Er hat die Schülerinnen und Schüler verglichen mit Gruppen, die Herkunftssprachlichen Unterricht ohne Verzahnung mit dem Regelunterricht hatten, und solchen, die keine Förderung in der Herkunftssprache bekamen. Letztlich kommt Professor Reich am Ende seiner Untersuchungen zu dem Schluss:
„Insgesamt schneidet das KOALA-Modell bei der Entwicklung der schriftsprachlichen Fähigkeiten in beiden Sprachen am besten ab, gegründet vor allem auf die besseren Ergebnisse bei der Textproduktion.“
Rosella Benati: Herr Reich, es gibt eine größere Anzahl an Schulen in Köln, in denen viele Kinder mit einer anderen Herkunftssprache als Deutsch unterrichtet werden. Doch diese Schulen können aus verschiedenen Gründen das KOALA-Konzept nicht durchführen, haben aber herkunftssprachlichen Unterricht im Angebot. Was raten Sie diesen Schulen?
Hans H. Reich: Unsere Untersuchung der KOALA-Schulen hat als ein wichtiges Teilergebnis belegt, dass die Verbindung zwischen den Lehrkräften des herkunftssprachlichen Unterrichts und dem ganzen übrigen Kollegium der Schule eine wesentliche Schaltstelle für den Erfolg der Schülerinnen und Schüler beim Erwerb der Schriftsprachlichkeit in beiden Sprachen darstellt. Das heißt: Ich würde diesen Schulen empfehlen, sich intensiv Gedanken darüber zu machen, wie sie die Abstimmung zwischen herkunftssprachlichem und übrigem Unterricht gestalten – und wie sie eine persönliche Einbindung der Lehrkraft des herkunftssprachlichen Unterrichts fördern können.
Rosella Benati: Ein Schulleiter sagte uns, manche Eltern wollten nicht, dass ihre Kinder ihre Herkunftssprache pflegen, sondern lieber nur Deutsch in der Schule lernen. Was steckt Ihrer Meinung nach dahinter? Wie könnten diese Eltern überzeugt werden?
Hans H. Reich: Eine solche eher ablehnende Haltung kann unterschiedliche Gründe haben. Ich kenne Familien, die politische Flüchtlinge sind und mit ihrem Herkunftsland nichts mehr zu tun haben wollen – das kann ich mitunter sehr gut verstehen. Ich kenne Familien, die enorm ehrgeizig sind. Die sagen, unsere Sprache, das versteht sich von alleine. Die Schule ist für das Deutsche da. Ich kenne aber auch Eltern, die ängstlich sind – die glauben, dass die Herkunftssprache dem Deutscherwerb der Kinder schaden könnte. Ich denke, die beiden erstgenannten Gruppen sind frei, über ihre Sprachen zu entscheiden – selbstverständlich, wie jeder Mensch frei ist, über seine Sprachen zu entscheiden. Dort, wo Ängstlichkeit und Unsicherheit herrschen, kann man durch Argumente sehr viel erreichen, indem man zeigt, dass Sprachen nicht einander feind sein müssen, sondern dass sie sich gegenseitig stützen können.
Rosella Benati: Können Sie sich vorstellen, dass auch im Ganztagsangebot für den Nachmittag die Herkunftssprache einen Platz hat?
Hans H. Reich: Ich kann mir das sehr gut vorstellen. Ich denke, der Nachmittag erweitert ja die pädagogischen Handlungsmöglichkeiten einer Schulen in ganz beträchtlicher Weise: Der Nachmittag kann prima für den Herkunftssprachenunterricht genutzt werden. Wenn, dann allerdings richtig – wenn man den Nachmittag einfach nur passieren lässt, dann wird das für den Herkunftssprachenunterricht ohne Bedeutung bleiben. Auch hier ist also die Planung der Schule – insbesondere für eine klare Profilbildung der Schule – ganz entscheidend.
Rosella Benati: Welche Bedeutung haben der Erhalt und die Pflege der Herkunftssprache für die Entwicklung der kulturellen Identität von Schülerinnen und Schülern? Im herkunftssprachlichen Unterricht geht es ja längst nicht nur um die Sprache.
Hans H. Reich: Ich bin davon überzeugt, dass die sprachliche Ausstattung eines Menschen heute mehr denn je über seine Bildungs- und Lebensmöglichkeiten entscheidet. Ich nenne nur das Stichwort Europäische Mehrsprachigkeit. Aus meiner Sicht ist das, was vielen Schülern von den Familien mitgegeben wird – nämlich die Grundlage für Zweisprachigkeit –, eines der größten Geschenke, das Eltern ihren Kindern machen können. Dieses zu pflegen und auszubauen, muss deshalb eine zentrale Aufgabe der Schule sein – eine sehr lohnende ist es außerdem.
Hintergrund: Untersuchung schriftsprachlicher Fähigkeiten türkisch-deutscher Grundschülerinnen und Grundschüler in Köln
Wer hat an der Untersuchung teilgenommen?
Im 1. Schuljahr: 106 türkisch-deutsche Schülerinnen und Schüler aus 18 Klassen an 10 Grundschulen, diese wurden durch ihre gesamte Grundschulzeit hindurch begleitet; im 4. Schuljahr verblieben: 66 Schülerinnen und Schüler aus 15 Klassen an 9 Grundschulen.
5 Schulen: koordinierte Alphabetisierung, 2 Schulen: Deutschförderung und Herkunftssprachlicher Unterricht (Muttersprachlicher Ergänzungsunterricht) Türkisch, 2 Schulen: ausschließlich Sprachförderung im Deutschen.
Was wurde untersucht?
Schreib- und Leseleistungen im Türkischen und im Deutschen vom 1. bis zum 4. Schuljahr
Die Entwicklung der schriftsprachlichen Fähigkeiten wurde bei der Gruppe der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler insgesamt und differenziert nach den drei Förderkonzepten ausgewertet.
Was sind die wichtigsten Ergebnisse?
Im 4. Schuljahr erreichen die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler beim Leseverstehen des deutschen Textes ein Ergebnis, das dem bundesweiten Abschneiden von Migrantenschülern (bei IGLU) entspricht. Der Abstand zu den einheimisch deutschen Schülern ist noch sehr deutlich. Beim Verstehen des türkischen Textes zeigen sich im Durchschnitt größere Schwierigkeiten als beim Verstehen des deutschen Textes.
Bei der deutschen Rechtschreibung zeigt sich ein ähnliches Ergebnis: Rückstand gegenüber den Vergleichswerten einheimisch deutscher Schülerinnen und Schüler, wahrscheinlich Gleichstand mit anderen Migrantenschülern (hierzu liegen keine exakten Vergleichswerte vor). Bei der türkischen Rechtschreibung zeigen sich auch im 4. Schuljahr noch größere Schwierigkeiten.
Beim schriftlichen Erzählen schreiben die Schülerinnen und Schüler deutsche Texte von respektabler Länge, die überwiegend einen inneren Erzählzusammenhang aufweisen und die Grundform einer Erzählung einhalten; im Einzelnen gibt es hier allerdings besonders starke individuelle Unterschiede. Im Türkischen sind die Texte inhaltlich knapper und weniger stark gegliedert, werden aber hinsichtlich des inneren Zusammenhangs etwas besser eingeschätzt als die deutschen Texte.
In allen drei Leistungsbereichen zeigen sich positive statistische Zusammenhänge zwischen dem Türkischen und dem Deutschen: Relativ gute Leistungen in der einen Sprache gehen mit relativ guten Leistungen in der anderen Sprache einher. (Damit ist nichts über die Richtung eines möglichen Einflusses und über das absolute Niveau der Leistungen in der einen und der andern Sprache ausgesagt.)
Differenzielle Wirkungen der drei Förderkonzepte treten erst im Verlauf der Grundschulzeit hervor. Am Ende des 1. Schuljahrs sind noch keine statistisch signifikanten Unterschiede festzustellen. Im 2. Schuljahr zeichnen sich im Türkischen punktuell Vorteile der koordinierten Alphabetisierung gegenüber den beiden anderen Konzepten ab. Beim Textschreiben im Deutschen liegen die koordinierte Alphabetisierung und die ausschließliche Deutschförderung gleichauf; das Konzept der Kombination von Deutschförderung und Muttersprachlichem Ergänzungsunterricht schneidet hier schlechter ab. Das gleiche Muster findet sich beim Leseverstehen deutscher Texte im 3. Schuljahr. Es bleibt beim Vorsprung der koordinierten Alphabetisierung hinsichtlich des Türkischen. Im 4. Schuljahr liegen die drei Förderkonzepte beim Leseverstehen im Türkischen wie im Deutschen gleichauf. Beim schriftlichen Erzählen schneidet das Konzept der koordinierten Alphabetisierung auch im Deutschen besser ab als das Konzept der ausschließlichen Deutschförderung; der durchgehende Vorsprung hinsichtlich des Türkischen bleibt erhalten.