Kölner Lesekonzerte

Kölner Lesekonzerte

von Marita Bongartz • Artikel im ZMI Magazin 2011, S. 18

An einem der letzten Schultage, kurz vor den Sommerferien 2010, machen sich Sultan (15) und Sandy (14) auf den Weg von ihrer Hauptschule an der Nürnberger Straße in die benachbarte Katharina-Henhoth-Gesamtschule in Höhenberg. Ihre Lehrerin hat ihnen vor ein paar Wochen eröffnet, dass ihre Texte „Brücke“ und „Zehn-Punkte-Kataloch für eine jode Beziehung op Kölsch“ für das 2. Kölner Lesekonzert ausgewählt wurden und sie zur Belohnung an einer Schreibwerkstatt mit einem richtigen Autor teilnehmen dürfen.
Schreibwerkstatt? Autor? Was sie von diesem „Preis“ halten sollen, wissen Sultan und Sandy nicht wirklich. Wenigstens aber ist klar, dass sie nicht in den normalen Unterricht müssen – und sie eine wahrscheinlich eher gemütliche Zeit erwartet …

An den folgenden Tagen geht es bei den beiden aber gar nicht gemütlich zu, Sultan und Sandy schreiben so viel wie seit langem nicht. Die Impulse, die der Autor und Filmemacher Dieter Bongartz ihnen vorgibt, wirbeln in ihnen Geschichten, Gedanken nach oben, meist stark autobiographisch, die zu erzählen ihnen dringend und wichtig ist. Und so verarbeitet Sandy auf witzige Weise den ersten Zahnarztbesuch ihres jüngeren Bruders und Sultan versetzt sich noch einmal zurück in ihre erste Zeit in Deutschland, in eine Zeit der Stummheit und Sprachlosigkeit, aus der sie sich selbst mit ihrem ersten auf Deutsch gesprochenen Satz erlöste.
Nach den Sommerferien tragen Sandy und Sultan ihre Texte auf dem 2. Kölner Lesekonzert in der Zentralbibliothek am Neumarkt vor. Sie haben das vorher in einer Werkstatt bei dem Schauspieler Gerhardt Haag geprobt. Mit ihnen lesen noch mehr als 20 andere Schülerinnen und Schüler von Haupt- und Gesamtschulen aus Köln, und sie präsentieren ihre Texte nicht nur auf Deutsch, sondern auch in ihrer Herkunftssprache, sofern dies eine andere Sprache ist. Den Zuhörern eröffnet sich so ein nachgerade babylonisches Sprachengewirr, Kurdisch, Türkisch, Italienisch, Serbisch, Albanisch, Russisch – zehn verschiedene Sprachen sind an diesem Abend zu hören und die im Publikum sitzenden Eltern erfüllt es ebenso wie die jungen Schreiberinnen und Schreiber mit Stolz, ihre oft als zweitklassig diskreditierte Sprache hier auf der Bühne gleichberechtigt neben vielen anderen zu hören. Viele Sprachen, viele Kulturen, alle in einer Stadt.
Viele haben geholfen, Eltern, Verwandte, Lehrer, Freunde, Bekannte … die Geschichten und Gedichte in die jeweilige Muttersprache zu übersetzen und die vorlesenden Kinder und Jugendlichen mussten oft üben, um in der ihnen ungewohnten Sprache fehlerfrei vorzutragen.
Am Ende erhalten alle Autorinnen und Autoren eine Urkunde und die zehnsprachige Broschüre mit ihren Texten – einige werden noch von den Juroren (Kölner Schriftsteller und Journalisten) für ihre herausragenden Texte mit besonderen Preisen geehrt.
Nicht nur die Preisträger, alle Beteiligten gehen an diesem Abend beflügelt nach Hause. Auch Sultan und Sandy. Ihre Eltern saßen im Publikum und Sultans Mutter hat sogar ein paar Tränen vergossen. Sich getraut zu haben, einen eigenen Text vor einem großen, gespannt zuhörenden Publikum vorzulesen und dabei die sinnliche und emotionale Kraft, die Schönheit und Wahrheit der eigenen Worte zu erleben, war für die beiden Mädchen wie für all die anderen ein überraschendes Erlebnis, und es wirkt wahrscheinlich dort besonders nachhaltig, wo ein Lebensweg ansonsten nicht gerade mit Erfolgen gepflastert ist. Nach dem Lesekonzert gelobt zu werden, zu hören: „Das hätte ich nicht von dir erwartet“, „So habe ich dich nie gesehen“, „Du bist ja eine richtige Träumerin“, ist eine Bestätigung in einem Bereich, in dem es die meisten niemals für sich erwartet hätten. Sultan, Sandy, alle anderen – durchaus auch im Publikum – sind bei dieser Lesung ermutigt worden, eine Entdeckungsreise in die Welt ihrer eigenen Geschichten anzutreten, sich so mit den eigenen Wurzeln auseinanderzusetzen, sich zu der eigenen Sprache zu bekennen und die Wahrheiten ihres Lebens zu berühren.