Interview mit Boris Preuss, Leiter der Abteilung 4 – Schule der Bezirksregierung Köln

Interview mit Boris Preuss, Leiter der Abteilung 4 – Schule der Bezirksregierung Köln

Das Gespräch führten Rosella Benati und Petr Frantik • Artikel im ZMI Magazin 2021/22, S. 10

Sehr geehrter Herr Preuss, Sie sind seit dem 1. April 2021 Leiter der Abteilung 4 – Schule der Bezirksregierung Köln und kommen selbst beruflich aus dem Bereich der Primarstufe. Wie sind Ihre Erfahrungen zur Umsetzung mehrsprachiger Konzepte im schulischen Kontext?
Ich habe mit großer Freude erlebt, dass das Thema Mehrsprachigkeit in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus des schulischen Handelns gerückt ist. Das ist eine gute Entwicklung! Aus meiner eigenen beruflichen Vita weiß ich, wie konkrete Projekte – wie zum Beispiel das „Koordinierte Lernen“, das „Bilinguale Lernen“ oder die „Gelebte Mehrsprachigkeit“ – in der Bezirksregierung Köln klein angefangen haben. Wenn man mal so die Zeit Revue passieren lässt und den Stand heute sieht, haben wir ein breites Unterstützungssystem nicht nur für Lehrkräfte geschaffen, sondern auch im Rahmen der Schulentwicklung viel vorangebracht. Beispiele sind das Landesprogramm „Grundschulbildung stärken durch HSU – Mehrsprachigkeit unterstützt den Bildungserfolg der Kinder“, „BiSS-Transfer“ oder auch „QuisS – Qualität in sprachheterogenen Schulen“.
Ich habe in meiner Zeit als Grundschullehrer und Schulleiter immer an Schulen gearbeitet, an denen Sprachheterogenität ein Thema war. Erst in Gummersbach und später in Lindlar habe ich in meinen Lerngruppen die Erfahrung gemacht hat, dass verschiedene Herkunftssprachen im Unterricht eine Chance für das gesamtsprachliche Lernen sind. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass es zunächst einzelne Lehrkräfte waren, die aufgrund der Zusammensetzung ihrer Lerngruppen Fortbildungen besuchten, weil sie die Sprachheterogenität als Chancen nutzen und den verschiedenen Herkunftssprachen im Unterricht besser gerecht werden wollten. Im Kontext von Fortbildungen fiel an meiner damaligen Schule auch zum ersten Mal der Name Rosella Benati, da zwei Lehrkräfte eine tolle Fortbildung der Bezirksregierung Köln zur Förderung der Mehrsprachigkeit besuchten und davon erzählten. Erst im Laufe der konkreten Arbeit wurde uns klar, dass unter der Überschrift „Mehrsprachigkeit“ eine gemeinsame Schul- und Unterrichtsentwicklung möglich ist. Auf ein derart breit aufgestelltes Unterstützungssystem, wie es mittlerweile etabliert ist, konnten wir damals nicht zurückgreifen. Umso mehr freut es mich in meiner heutigen Funktion, welche Entwicklungsschritte die Schulen hier gemacht haben.

Sie waren bereits in Ihrer Funktion als Schulrat sehr fortschrittlich und setzten sich für die Einführung eines bilingualen Zweigs in einer Migrationssprache (Italienisch) in einer Grundschule im Rheinisch-Bergischen Kreis ein. Was waren damals Ihre Beweggründe?
Ich glaube das hängt mit meinen ersten Unterrichterfahrungen zusammen. Mir wurde als Lehrer und später als Schulleiter schnell klar, dass Mehrsprachigkeit kein Hindernis, sondern eine Ressource ist, wenn sie im täglichen Unterricht berücksichtigt wird. Ich kannte in meiner Funktion als Schulrat diese Schule gut und erfuhr durch die HSU-Lehrkraft Roberta Romani, dass sehr viele Schüler:innen mit der Herkunftssprache Italienisch diese Grundschule besuchten.
Einer meiner Gründe an dieser Schule die Einführung eines bilingualen Zweiges zu unterstützen war es, die Bildungschancen der Schüler:innen dadurch zu erhöhen. Darüber hinaus ist es uns gemeinsam gut gelungen, die Schule davon zu überzeugen, dass dieses Projekt eine riesige Chance war, um mehr Partizipation der Eltern zu ermöglichen und auf diese Weise eine Schulgemeinde noch näher zusammenrücken zu lassen. An unseren gemeinsamen Auftritt an der Grundschule zu diesem Thema kann ich mich sehr gut erinnern. Ein weiterer Grund für einen bilingualen Zweig an dieser Schule war auch die Chance einer gelebten Interkulturalität vor Ort, die sich dadurch für die gesamte Schulgemeinde ergab.

Welche Schritte wären noch notwendig, damit Schüler:innen ihre Familiensprachen stärker in den Unterricht und Schulalltag einbringen können?
Ich glaube, dass die strukturellen Rahmenbedingungen mittlerweile gegeben sind. Mehrsprachigkeit als Ressource wird durch verschiedene neue Erlasse gestärkt. Wir sind dadurch aufgefordert, seitens des Landes dieses Thema weiter auszubauen. Das ist eine klare Aufwertung, was mich sehr freut. Beispielsweise ist mittlerweile Teamteaching zwischen HSU-Lehrkräften und Regelschullehrkräften in der Primarstufe möglich. Die Sprachprüfungen im HSU werden an die Standards der Zentralen Prüfungen angeglichen. Darüber hinaus wird das Thema im Referenzrahmen Schulqualität explizit aufgegriffen. Hier zitiere ich gerne wörtlich: „Herkunftssprachen und lebensweltliche Mehrsprachigkeit werden von der Schule als Ressource betrachtet und entsprechend wertgeschätzt und genutzt.“
Damit dies aber konkret im Unterricht sichtbar wird, müssen wir alle in unseren jeweiligen Funktionen auf die großen Chancen einer Einbindung der Familiensprachen hinweisen, die ich hier gerne noch einmal nenne: Kinder aus mehrsprachigen Familien erfahren Wertschätzung und Anerkennung und haben dauerhaft einen besseren Lernerfolg und höhere Bildungschancen. Zusätzlich entsteht ein Mehrwert für das Miteinander in den Lerngruppen, indem Interkulturalität bewusst gelebt und erfahren wird. Im Rahmen einer kontrastiven Didaktik kann der Vergleich von allen in der Lerngruppe gesprochenen Sprachen für ein tieferes Sprachverständnis sorgen. Die Schulaufsicht kann hier in ihrer Zuständigkeit durch die regelmäßigen Schulentwicklungsgespräche mit Schulen, Steuergruppen und Leitungsteams unterstützen. Diese Gespräche bieten eine große Chance, um den Fokus auf die Mehrsprachigkeit zu legen und damit auch die Einbindung der Mehrsprachigkeit noch weiter voranzubringen.
Konkret wünsche ich mir einen weiteren Ausbau der Fortbildungs- und Unterstützungssysteme, eine Fokussierung der Thematik in der Lehrer:innen-Ausbildung sowie eine Berücksichtigung im Rahmen von Schulentwicklungsgesprächen zwischen Schule und Schulaufsicht. Es gibt bereits viele wichtige und gute Angebote, die wir auf allen Wegen, auch über das ZMI, weiterhin bewerben und ausbauen sollen.

Inwieweit sehen Sie in der Digitalisierung Chancen für eine bessere Einbindung der Mehrsprachigkeit an Schulen?
Grundsätzlich stehe ich der Entwicklung der Digitalisierung in Schule positiv gegenüber, sehe es aber auch ausgewogen. Wir müssen prüfen, wo Digitalität in Bildung einen echten Mehrwert ergibt, aber auch, wo ganz bewusst analoge Lernsettings beibehalten werden sollten.
Auf der didaktischen Ebene sehe ich es als eine Chance der Weiterentwicklung. Moderne Lernsoftware bietet den Schüler:in-nen Gelegenheiten, mit einfacheren Mitteln individuell gefördert zu werden. Wir haben über neue Programme und digitale Formate – Stichwort „Tutorials“ im Videoformat – die Möglichkeit, interessante Inhalte über verschiedene Darstellungsebenen zu transportieren. Das lässt sich bestimmt auch auf den herkunftssprachlichen Unterricht übertragen.
Die Hauptchance sehe ich aber in einem anderen Bereich. Letztendlich verschafft uns die Digitalisierung von Schule ein Tor zur Welt und dadurch zu allen Sprachen. Sprache lebt von Kommunikation und durch die Digitalisierung entsteht im Bereich der Mehrsprachigkeit die Möglichkeit, über die Grenzen meiner Schule hinauszugehen. Schulen können in Netzwerken auch mit Schulen im Ausland neue Projekte auflegen, die vielfältige Kommunikationsgelegenheiten bieten. Damit kann Interkulturalität über die Grenzen einzelner Schulen hinweg gelebt werden – und dann ist Digitalisierung nicht nur Selbstzweck, sondern wirklich ein Werkzeug zur Bildung.

Sie waren bis zur Ernennung zum Abteilungsleiter Hauptdezernent für die Primarstufe in der Bezirksregierung. Sie kennen daher das ZMI und sind zudem in Ihrer neuen Funktion Mitglied in unserem Beirat. Welche Bedeutung messen Sie dem ZMI für die mehrsprachige Stadtgesellschaft und Bildungslandschaft in Köln bei?
Der große Vorteil des ZMI ist, dass die unterschiedlichen Ressourcen der Stadt Köln, der Universität zu Köln und der Bezirksregierung Köln zusammengeführt werden. Das hat eine große Signalwirkung in die Bildungslandschaft, weil dem wichtigen Thema Mehrsprachigkeit auf diese Art und Weise ein „Gesicht“ gegeben wird. Gleichzeitig zeigt das ZMI über die beteiligten Kooperationspartner, dass Interkulturalität und Mehrsprachigkeit kein rein schulisches, sondern ein gesamtgesellschaftliches Thema sind. Köln als sprachlich und kulturell heterogene Universitätsstadt ist somit geradezu ein prädestinierter Standort für ein derartiges Zentrum.

Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Welche Bedeutung hat die Mehrsprachigkeit in Ihrem Lebensumfeld?
Ich bin im Ruhrpott aufgewachsen und im Alter von knapp 10 Jahren ins Rheinland gezogen. Das war meine erste Erfahrung mit Mehrsprachigkeit, denn in Dortmund und im Ruhrpott sind Ausdrücke wie „Woll“ oder Sätze wie „mach mal die Tür bei“ geläufig. Als ich dann ins Rheinland kam, musste ich mich an einen etwas anderen Sprachgebrauch gewöhnen. Ich erinnere mich an die Büttenreden, die wir damals an unserer Grundschule gehalten haben. Ich hatte eine Büttenrede geschrieben, die ich selbst sehr lustig fand, die von meinen Zuhörer:innen aber leider nicht verstanden wurde und die daher kein Lachen ausgelöst hat.
Im familiären Bereich sprechen wir auf Familienfeiern generationsübergreifend Englisch, da ein Teil meiner Familie in England lebt. Dabei spielt es keine Rolle, auf welchem Niveau die Sprache gesprochen wird oder ob sie in der Schule erlernt wurde. Das funktioniert unkompliziert, weil es gelebter Alltag ist und alle sich kennen und mögen.
Bei meinen Auslandsreisen bemühe ich mich immer, wenigstens ein paar Wörter oder Sätze in der Landessprache zu beherrschen. Hier sind auch Social Media und Lern-Apps sehr hilfreich. Ich merke immer, dass man dadurch mit Menschen anders ins Gespräch kommt. Das genieße ich persönlich sehr.

Vielen Dank für das Gespräch.