Brücken bauen zum Bildungserfolg von Schüler*innen mit begrenzter oder unterbrochener Bildungskarriere

Brücken bauen zum Bildungserfolg von Schüler*innen mit begrenzter oder unterbrochener Bildungskarriere

von Marco Triulzi & Andrea DeCapua • Artikel im ZMI Magazin 2020, S. 17

Der funktionale Umgang mit dem Gedruckten (literacy) ist die Grundlage zum Lernen durch Lesen und Schreiben in formalen Bildungssystemen. Für Schüler*innen, die eine Einschränkung oder eine Unterbrechung ihrer Bildungskarriere erleben mussten, beispielsweise aufgrund von Krieg und Flucht, kann das eine große Herausforderung darstellen. Das wird in der Übergangsphase von dem geschützten Raum der Vorbereitungsklassen in den Regelunterricht besonders sichtbar. Daher ist es für eine adäquate Bildung notwendig, ein didaktisches Angebot zu formulieren, das auf individuellen Kompetenzen und Voraussetzungen der Schüler*innen basiert.

Ein übliches Alltagsszenario in einer allgemeinbildenden Schule: Die Schüler*innen üben das Schreiben eines Berichts und wissen, dass ein Test bevorsteht. Die Lehrerin, Frau Krings(Name wurde geändert), sagt Ihren Schüler*innen, sie sollen sich eine Traumreise vorstellen, um darüber zur Übung einen Bericht zu schreiben. Sie zeigt ihnen auch ein Beispiel eines Reiseberichts und fordert die Schüler*innen dann auf, ihre Hefte zu holen und den eigenen Bericht zu verfassen. Während die Schüler*innen schreiben, geht Frau Krings im Klassenzimmer umher und sieht, dass die meisten Kinder fleißig an ihren Entwürfen arbeiten, doch einige sind nicht mit dem Schreiben des Berichts beschäftigt. Eine Schülerin blättert im Lehrbuch herum, eine andere schreibt das Beispiel mühsam ab. Zwei Schüler starren einfach auf das Muster. Was ist los? Warum schreiben sie nicht, obwohl sie wissen, dass das für das Bestehen des Tests relevant ist?
Diese vier Schüler*innen, die erst seit einem Jahr in Deutschland leben, haben zwar ähnliche Migrationshintergründe wie ihre Mitschüler*innen, dennoch weisen sie andere Lernvoraussetzungen auf. Inwiefern? Bevor sie nach Deutschland kamen, hatten sie aus unterschiedlichen Gründen keine Gelegenheit, ohne Unterbrechung an einer altersgerechten schulischen Bildung teilzunehmen. Infolgedessen verfügen sie über sehr geringe Lese- und Schreibkenntnisse und sind nicht mit Schulaufgaben vertraut, die für das deutsche Bildungssystem üblich sind. Spätestens ab dem ersten Tag in der Vorbereitungsklasse waren sie mit dem Lernen der deutschen Sprache konfrontiert. Doch die Vermittlung der Sprache basiert in der Regel auf der Annahme, dass grundlegende literacy-Kompetenzen und weitere Fähigkeiten, um sich mit den Herausforderungen des Regelunterrichts auseinanderzusetzen, bei den Kindern bereits vorhanden seien. Viele Aufgaben im Unterricht, wie hier das Schreiben eines Berichts, erfordern eine gewisse Vertrautheit mit abstrakten Denkmustern, die primär durch die Beteiligung an formaler Schulbildung gefördert wird. Aus der Perspektive der vier Schüler*innen in der Klasse ist es schwer nachvollziehbar, warum sie einen derartigen Bericht schreiben sollen. Wozu schreibt man über eine Reise, die nicht stattgefunden hat? Aufgrund ihrer Lebenserfahrungen vor dem Besuch der Schule in Deutschland sind sie möglicherweise eher an das Konkrete, die Auseinandersetzung mit dem „Hier und Jetzt“, gewöhnt. Die von der Lehrerin gestellte Aufgabe ist für die Schüler*innen also besonders herausfordernd, weil sie 1) literacy-Kompetenzen voraussetzt, die über ihr Niveau hinausgehen und 2) ein Verständnis von Funktion und Zweck abstrakter Aufgaben erfordert, das ihnen nicht vertraut ist.
Frau Krings gestaltet ihren Unterricht generell sprachsensibel und orientiert sich dabei an der Mehrsprachigkeitsdidaktik, um alle Schüler*innen gemäß ihren sprachlichen Fähigkeiten zu unterstützen und zu fördern – doch trotz aller Bemühungen kommt es manchmal zu einem Szenario wie dem oben beschriebenen. Wie also kann man Schüler*innen mit eingeschränkter oder unterbrochener Bildungskarriere darin unterstützen, sich im Regelunterricht voll zu entfalten? Hier ist es empfehlenswert, das eigene Lehrangebot vor dem Hintergrund der folgenden fünf Hinweise zu reflektieren:

1. Der Unterricht sollte so gestaltet werden, dass er für die Schüler*innen unmittelbar relevant erscheint. Dabei sollte nicht davon ausgegangen werden, dass das, was man als Lehrperson für relevant hält, auch tatsächlich relevant ist, sondern berücksichtigen, dass Schüler*innen selber gut wissen, was für sie wichtig ist. Zwischen dem Lernstoff und den tatsächlichen Lebenswelten der Schüler*innen sollten formale und inhaltliche Verbindungen hergestellt werden, sodass der Sinn des Lernens unmittelbar für sie sichtbar wird.
2. Schüler*innen sind nicht unbedingt sofort in der Lage, Inhalte zu verstehen, die mittels gedruckten Materials vermittelt werden. Schriftliche Aufgaben sollten durch mündliche Erläuterungen und Einordnung der Inhalte (mündliches Scaffolding) eingeleitet werden und Mündlichkeit (hören, sprechen) sollte mit Schriftlichkeit (lesen, schreiben)
kombiniert werden. Beispielsweise können Schüler*innen mit stärkeren literacy-Kompetenzen anderen Mitschüler*innen ein Textbeispiel oder eine Aufgabe vorlesen und die Schüler*innen können sich Fragen zum Verfahren generell mündlich stellen und beantworten.
3. Beim Übergang von einer geteilten zur individuellen Verantwortung für die Ergebnisse einer Aufgabe sollten Zwischenschritte eingebaut werden. Bei der Konzeption von Partner- beziehungsweise Gruppenarbeiten können beispielsweise unterschiedliche Teilaktivitäten geplant werden, für die einzelne Schüler*innen verantwortlich sind, während bei anderen Aktivitäten die Verantwortung auf die gesamte Gruppe übertragen werden kann.
4. Wichtig ist außerdem, dass innerhalb und auch außerhalb der Klasse Vernetzungsmöglichkeiten geschaffen werden, die die Interaktion unter den Lernenden, mit den Lehrenden und auch mit den Familien unterstützen. Solche Beziehungen sind ein Schlüsselelement für eine Steigerung der Lernmotivation.
5. Ziele und Durchführung abstrakter Aufgabenstellungen im Unterricht sollten auf der Basis der oben genannten Überlegungen eingeführt werden, damit Schüler*innen schrittweise darauf vorbereitet werden, mit ungewohnten und für sie nicht auf Anhieb nachvollziehbaren Aufgaben umzugehen.

Diese Art der Unterrichtskonzeption berücksichtigt die (Lern-)Identität(en) der Schüler*innen und würdigt das, was sie bereits wissen und können. So werden Brücken gebaut und Schüler*innen ausgehend von ihren individuellen Lernvoraussetzungen im Übergang zu den Erwartungen und Anforderungen des Regelunterrichts angemessen begleitet.