Wissenschaft und Praxis im BiSS-Programm, Interview mit Dr. Lotte Weinrich, Dr. Christoph Gantefort und Prof. Dr. Alexandra L. Zepter, BiSS-Trägerkonsortium
Das Gespräch führten Rosella Benati und Petr Frantik. • Artikel im ZMI Magazin 2019 S. 12
Was waren Ihre Beweggründe, sich als wissenschaftliche Begleitung des Verbundes zu beteiligen?
Weinrich: Viele Jahre habe ich mit der (abgeordneten) Lehrerin Monika Lüth zusammen Ferienschulen mit Studierenden geplant und durchgeführt. In diesem Kontext habe ich überhaupt erst das große Potential entdeckt, das in der Zusammenarbeit von Schule und Universität liegt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Genese von DemeK (Deutschlernen in mehrsprachigen Klassen) selbst: Gerlind Belke hatte als Forscherin und Gedichtsammlerin die inspirierende Idee, literarische Mustertexte für grammatisches Lernen zu nutzen. Aber erst DaF-erfahrenen Grundschullehrerinnen wie Monika Lüth, Rosella Benati und anderen ist es gelungen, diesen Gedanken nach und nach zu einem umfassenden Sprachbildungskonzept zu modellieren. Mit der maßgeblichen Unterstützung von Silvia Beu entstand ein Fortbildungsangebot für interessierte Schulen, mit dem das DemeK-Handwerkszeug in der Bezirksregierung Köln verbreitet und verankert werden konnte. Ein großer Vorteil der Verwurzelung des Konzeptes in der Schulpraxis ist, dass die Lehrkräfte den Sprachförderbedarf ihrer Kinder gut kennen. Sie können ihnen daher passgenaue Lernangebote machen, die erfahrungsgemäß auch funktionieren. Als Nachteil kann sich bei dieser nie „fertig“ vorgegebenen Konzeption erweisen, dass in den über 160 DemeK-Schulen parallel so viele unterschiedliche Unterrichtspraktiken existieren, dass der Leitgedanke von DemeK verwischt oder sogar unkenntlich wird. Ein Ziel der BiSS-Verbundarbeit von Schule und Universität bestand daher darin, aus der Fülle an DemeK-Handlungsroutinen jene herauszufiltern, die sprachtheoretisch und schulpraktisch sinnvoll erscheinen. Außerdem wollte ich meine Verbundpartnerinnen davon überzeugen, nicht nur Gedichte, sondern auch Bilderbuchtexte für die Generative Textproduktion zu nutzen. Dadurch sollten die sprachschöpferischen Anteile des Konzeptes erhöht und das „Generative Erzählen“ als neues DemeK-Element eingeführt werden.
Gantefort: Nun, nach meiner Promotion im Jahr 2013 war das Engagement im BiSS-Verbund eine hervorragende Gelegenheit, sowohl konzeptionell als auch forschungsbezogen arbeiten zu können. In konzeptioneller Hinsicht war ich sehr daran interessiert, gemeinsam mit Praktiker*innen neuere Ansätze mehrsprachiger institutioneller Bildung zu entwickeln und zu erproben. Zugleich und nicht zuletzt hat sich ein relevantes Forschungsfeld geöffnet: Einerseits mit Blick auf die Effekte der von uns entwickelten Intervention „mehrsprachiges reziprokes Lesen“ und zum anderen in Bezug auf Aspekte der Grundlagenforschung, so zum Beispiel zum Zusammenhang zwischen einer mehrsprachigen familiären Lernumwelt und der Entwicklung des Leseverstehens im Grundschulalter. An dieser Stelle möchte ich die produktive Zusammenarbeit zwischen der Bezirksregierung Köln, den beteiligten Schulen und unserem Institut betonen, mit welcher die Datenerhebungen erst möglich geworden sind.
Zepter: Ich wurde von Lotte Weinrich angesprochen, die schon lange das Projekt in der Grundschule begleitete. Als die Frage entstand, inwiefern Methoden von DemeK für die Sekundarstufe weitergedacht werden können, hat sie den Kontakt zwischen mir und Petra Heinrichs hergestellt und nach einem gemeinsamen Gespräch war für mich schnell klar, dass ich gerne an dem Projekt teilnehmen werde. Ich finde an diesem Verbund insbesondere die Verschränkung interessant, bei der didaktische Konzepte sowohl entwickelt als auch erprobt und überprüft werden, und dies in einem Kontext der Zusammenarbeit von Universität, Schule und der Bezirksregierung. Dieser Austausch ist ein sehr erkenntnisgewinnender Prozess für alle, von dem ich auch persönlich viel lerne.
Welche Aspekte umfasst Ihre Begleitung an der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis?
Weinrich: Die Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften an Schule und Hochschule kostet Zeit und verlangt Geduld, da anfangs Zweifel bestehen, ob überhaupt wechselseitig voneinander gelernt werden kann. Ich habe auch erfahren, dass meine sprachdidaktischen Ideen, für die Studierende leicht zu begeistern sind, bei routinierten Lehrkräften erst einmal auf Zurückhaltung stoßen. Hilfreich für die Vertrauensbildung ist auf jeden Fall der kollegiale Austausch am runden Tisch. Noch wirkungsvoller waren in unserem Verbund aber die gemeinsamen Hospitationen an den BiSS-Schulen während unserer Literaturwochen. Dort haben wir als Gruppe in den unterschiedlichen Lernsettings hospitiert und uns anschließend über unsere Beobachtungen ausgetauscht. Das war ungemein lehrreich und hat uns daran erinnert, eine gemeinsame Passion zu haben: guten Deutschunterricht.
Gantefort: Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des Verbundes haben wir über die gesamte Grundschulzeit zweier Kohorten von Schülerinnen und Schülern die Lesefähigkeiten in Deutsch und Türkisch sowie die kognitiven Fähigkeiten der Lernenden erheben können. Im Vordergrund standen dabei die Effekte des Konzeptes, die wir jährlich im Rahmen einer gemeinsamen Klausurtagung mit allen Beteiligten besprochen haben. Im Sinne einer formativen Evaluation wurde es so möglich, das Konzept laufend anzupassen.
Zepter: Wir haben uns auf bestimmte sprachliche Handlungen fokussiert und didaktische Konzepte entwickelt, um Operatoren wie Beschreiben, Erzählen oder Argumentieren zu fördern. In diesem Rahmen sind entsprechende Themenhefte entstanden, in denen für die Sprachförderung insbesondere DemeK-Methoden genutzt werden. Aus wissenschaftlicher Perspektive war für mich hierbei interessant, zu der theoretischen Fundierung der Konzepte beizutragen. Dies im Rahmen einer Zusammenarbeit, in dem ich Wissen über den wissenschaftlichen Fachdiskurs und empirische Forschungsdaten beisteuere und von der anderen Seite Praxiserfahrungen zum Einsatz der DemeK-Methoden eingebracht werden. Eine solche Verschränkung der Perspektiven ist sehr produktiv für die konzeptionelle Arbeit.
Welche Bedeutung hat die Kooperation mit der Praxis für die Wissenschaft?
Weinrich: Für meine Vorstellung von LehrerInnenbildung ist die enge Kopplung von Forschung, Lehre und Schulpraxis unverzichtbar. Die PISA-Krise hat gezeigt: Unsere Lehramtsabsolventinnen und -absolventen waren auch deshalb so unzureichend auf ihre zukünftigen Sprachbildungsaufgaben vorbereitet, weil die Uni die „Pädagogische Hochschule“ hinter sich lassen wollte und daher gar nicht mehr wusste, was in Schule los war.
Gantefort: Im vorliegenden Fall hat es sich weniger um eine „Einbahnstraße“ im Sinne eines ausschließlichen Transfers von der Wissenschaft in die Praxis gehandelt. Vielmehr konnten aus meiner Sicht alle Beteiligten voneinander profitieren. Gemeinsame Hospitationen im Unterricht und die Verbundtreffen haben z. B. die Möglichkeiten und Grenzen der Implementierung des Konzeptes immer wieder deutlich gemacht. Unterrichtspraxis entspricht ja oft gerade nicht den Laborbedingungen, die aus wissenschaftlicher Perspektive zwar wünschenswert sind, um eindeutige Resultate zu erzielen, die aber in der Realität selten anzutreffen sind. Die „ökologische Validität“ unserer Untersuchungen, die wir durch die Kooperation mit der Praxis erreichen konnten, hat demnach eine hohe Bedeutung.
Zepter: Die Bedeutung ist zweierlei. In der Wissenschaft geht es sowohl um Theoriebildung als auch um empirische Forschung und beides ist notwendig miteinander verzahnt. Die Praxis ist letztlich auch ein Feld, um theoretische Konzepte in Erfahrung basieren zu können. Man könnte sagen: „Praxis ist die Schwester der Empirie“. In diesem Sinne sind die Erfahrungen, die in der Praxis gemacht werden, aus meiner Perspektive hochrelevant für die Entwicklung von Theorie und von Forschungsfragen, die wiederum die empirische Forschung leiten können. Hierbei interessiert mich einerseits die Wirksamkeit der Methoden, aber auch aus einer eher qualitativen Forschungsperspektive, wie sich bestimmte sprachliche Lernprozesse gestalten. Der Gewinn des Austausches ist also beiderseitig: Die wissenschaftliche Forschung, die sich mit Formen des Lehrens und Lernens beschäftigt, braucht diesen Austausch mit der Praxis und umgekehrt sind für die Praxis Impulse aus der Wissenschaft und neueste Erkenntnisse, welche Methoden sich empirisch bewährt haben, hilfreich.
Können Sie ein exemplarisches Beispiel für gelingenden Transfer zwischen Theorie und Praxis nennen?
Weinrich: Ja, ein gutes Beispiel ist das Konzept der Literaturwoche, das wir in unserem BiSS-Verbund entwickelt haben. Aus einer Idee haben die Lehrerinnen und Lehrer mit ihrem ganzen Professionswissen zu den ausgewählten Bilderbüchern DemeK-Sprachbildungsangebote entwickelt, die jede der Erprobungsschulen bisher in positive Schwingungen versetzen konnte.
Gantefort: Ja, vielleicht stellt die in Kürze über das BiSS-Programm erscheinende Broschüre zur Implementierung des mehrsprachigen reziproken Lesens ein gelungenes Beispiel dar. Unter der Autor*innenschaft aller Beteiligten erhalten Praktiker*innen Impulse dazu, wie Leseverstehen auf der Basis der Gesamtsprachigkeit gefördert werden kann.
Zepter: Wir haben bisher insgesamt vier Themenhefte entwickelt, die dann direkt zur Erprobung ins Feld gegangen sind. Das erste Themenheft fokussierte auf die Sprachhandlung Beschreiben. Darauf aufbauend sind Themenhefte zu „Begründen und Argumentieren“ sowie „Erzählen“ entstanden. Ein weiteres Themenheft zum „Darstellen und Präsentieren“ wird bald erscheinen. Es gab dabei immer eine Phase der Erprobung und der Überarbeitung. Ein Gelingen dieser Kooperation sehe ich darin, dass sich diese Themenhefte in der Praxis bewähren und wir Rückmeldungen erhalten, dass mit ihnen gearbeitet werden und interessante Entwicklungsprozesse angebahnt werden können.
Vielen Dank für das Gespräch.