Bildung durch Sprache und Schrift – BiSS auf dem Weg in den Transfer

Bildung durch Sprache und Schrift – BiSS auf dem Weg in den Transfer

Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek und Prof. Dr. Hans-Joachim Roth, BiSS-Trägerkonsortium • Artikel im ZMI Magazin 2019 S. 9

2018 startete BiSS-NRW die Planung zu einer bemerkenswerten Reihe von Regionalveranstaltungen, auf denen die Ergebnisse des Bund-Länder-Programms „Bildung durch Sprache und Schrift“ (BiSS) zusammengetragen und einer fachlichen Öffentlichkeit präsentiert wurden. Die Veranstaltungen fanden zwischen Mai und Oktober 2019 statt, die Regionalveranstaltung des Regierungsbezirks Köln am 9. Oktober. Sie wurden von Seiten der Landeskoordinatorin BiSS Uta Biermann von der Landesweiten Koordinierungsstelle Kommunale Integrationszentren (LaKI) in Kooperation mit dem Ministerium für Schule und Weiterbildung sowie den jeweils zuständigen Stellen in den Bezirksregierungen durchgeführt. Auf allen Veranstaltungen gab es durch das Trägerkonsortium einen Überblick zu BiSS aus Bundessicht sowie zu den Verbänden in NRW und ihrer konkreten Arbeit. *

Warum nun sind diese Veranstaltungen bemerkenswert? Aus unserer Sicht sind es zwei Dinge, die eine solche Bewertung rechtfertigen lassen. Zum einen ist es die besondere Kooperation aller an BiSS beteiligten Akteure, zum anderen sind es das Format und die Strategie, mit denen ein großes Bildungsprogramm von einer Phase des Erprobens in eine Phase der breiten Umsetzung ausgerollt werden soll.
In der Laufzeit des Programms hat sich bundesweit ein gemeinsamer Prozess entwickelt, der die Zusammenarbeit der verschiedenen Ebenen der Bildungspraxis, der Bildungsadministration sowie der Wissenschaft als eigenes Merkmal für den Erfolg des BiSS-Programms hat hervortreten lassen. Nun ist es nicht ungewöhnlich, dass Menschen, die in Schulen und Kitas arbeiten, auch Kontakte zur Ebene der übergeordneten Administration und gegebenenfalls auch zu Wissenschaftler*innen haben. Allerdings sind solche Beziehungen nach wie vor häufig von Berührungsängsten oder auch Vermeidungsbewegungen durchzogen; das gilt insbesondere dann, wenn Hierarchien im Raum sind und die Bildungsadministration auch Aufsichtsaufgaben wahrnimmt sowie immer mal wieder Entscheidungen trifft, die vor Ort durchaus nicht immer nachvollzogen werden oder Zustimmung auslösen. Das Verhältnis zur Wissenschaft ist ebenfalls häufig ambivalent, wenn diese als weit entfernt und über der Wirklichkeit schwebend wahrgenommen wird („Elfenbeinturm“) oder ihre Akteure als nervige Datenräuber und Zeitdiebe wahrgenommen werden; sie fliegen ab und an in Schulen oder Kitas ein, führen Tests und Interviews durch und rücken dann zwei Jahre später mit irgendwelchen Ergebnissen an, wenn die betroffenen Kinder und Jugendlichen schon längst nicht mehr da sind.
Genau diese Grundstimmung des komplexen Beziehungsgeflechts im Bildungswesen war bei den Regionalveranstaltungen in NRW gerade nicht zu spüren. Die Kooperation der verschiedenen Ebenen hat im Rahmen von BiSS eine Selbstverständlichkeit gewonnen, die tatsächlich bemerkenswert ist: Man ist miteinander im Gespräch, ohne die unterschiedlichen fachlichen und strukturellen Zwänge und Bedingungen auszublenden. Der durchaus unterschiedliche Blick auf dieselbe Bildungswirklichkeit wird weniger als Trennlinie erfahren, sondern als multiperspektivischer Blick wahrgenommen, der für den Bereich der sprachlichen Bildung einen reicheren Zugang ermöglicht und die präzisere Einordnung von Beobachtungen, Ergebnissen und Erfahrungen ermöglicht. Anerkennung und Wertschätzung der unterschiedlichen fachlichen Expertisen sind somit die wesentliche Grundlage für diesen im Laufe der letzten sieben Jahre aufgebauten Beziehungstypus der Kooperation, die sich um die Gemeinsamkeit eines Gegenstandes herum gruppiert: dem der sprachlichen Bildung.
Wie sind die Regionalveranstaltungen abgelaufen? Nach einer Begrüßung durch die Verantwortlichen vor Ort und das Ministerium gab die BiSS-Landeskoordinatorin Uta Biermann einen Überblick über die Arbeit der Verbünde in Nordrhein-Westfalen. Anschließend hatten die Besucher*innen die Möglichkeit, sich das im Detail an „Marktständen“ anzusehen. Die Verbünde hatten dazu professionelle Informationsposter angefertigt und standen bereit, Fragen zu ihrer Arbeit zu beantworten. Neben den Postern hatten die Verbundkoordinator*innen auch eine Reihe von Materialien mitgebracht, sodass sich eine intensive Gesprächsatmosphäre entfaltete. Es folgte ein Überblick über das Bundesprogramm BiSS durch Mitglieder des Trägerkonsortiums, jeweils mit einer Betrachtung von Themen und Formaten, die sich für den Transfer anbieten. Wie auch schon in den Präsentationen aus den Verbänden ging es nicht nur um Inhaltliches und die BiSS-Produkte im Themenfeld der sprachlichen Bildung, sondern in gleicher Intensität auch um Formate und Strukturen. Letzteres betrifft insbesondere die Kooperation. Dabei wurde auf der Ebene der Verbünde das zuvor thematisierte spezifische Merkmal von BiSS-NRW sichtbar: die enge Kooperation mit den regionalen Hochschulen. An dieser Stelle wurde erkennbar, dass ein relativ enges Netz an Hochschulen in einem Bundesland für Programme wie BiSS eine wichtige strukturelle Grundlage bieten kann.
Mit diesen Kooperationen lassen sich die Anforderungen von Innovationen im Bildungssystem ganz anders bewältigen. Die seit einigen Jahren bekannte Einsicht aus der Schulentwicklungsforschung, dass sich die komplexen Herausforderungen an gelingende Bildungsprozesse nicht mehr über das Engagement einzelner Lehrkräfte und auch nur einzelner Schulen bewältigen lassen, führte auch bei BiSS zu einer Grundstruktur der Arbeit in Verbünden. Gerade eine sprachliche Bildung, die zwar vornehmlich die Verbesserung der Kompetenzen der 25 Prozent von Schüler*innen ohne hinreichende sprachliche Kompetenz als Aufgabe hat, kann es sich nicht leisten, mit einem isolierten Einsatz von Fördertools für die Zielgruppe der sogenannten „schwachen Leser“ zu arbeiten, sondern muss auf größere Arrangements sprachlicher Bildung setzen. Denn es geht weder darum, eine neue Förderpolitik zu installieren, noch darum, den bekannten Schereneffekt zu bedienen (die „Guten“ werden immer besser, wohingegen sich bei den „Schwachen“ wenig tut). Maßnahmen der sprachlichen Bildung brauchen eine eigene Situierung im einzelnen System – sei es eine Schule oder eine Kita. Und diese beziehen sie aus Kooperationen, die die einzelnen Institutionen überschreiten.
Eine solche Situierung ergibt sich nicht von allein, sondern sie will begleitet sein, da es nicht allein ausreicht, sich für eine Maßnahme zu entscheiden und diese dann nach Plan umzusetzen. Sie muss tatsächlich ihren eigenen Platz im System finden, d. h. es braucht eine Passung zum jeweiligen Bildungsalltag, die die Anforderungen an die Durchführung solcher Maßnahmen aus Gründen der Wirksamkeit genauso erfüllen (Stichwort Konzepttreue) wie die der Bedingungen vor Ort. Das meint der Ausdruck Situierung. Genau dafür ist Kooperation von hoher Bedeutung, ebenso eine wissenschaftliche Begleitung, die zum einen Evaluationsschritte durchführt und Daten zur Entwicklung von Schülerkompetenzen bereitstellt, zum anderen aber auch Prozesse auf dem Weg der Situierung in den Blick nimmt, die den Erfolg der Implementierung von Maßnahmen ähnlich stark beeinflussen wie die Genauigkeit ihres Einsatzes.
Das Geheimnis solcher erfolgreichen Kooperationen liegt also nicht etwa darin, dass alle dasselbe machen, sondern alle Beteiligten ihre jeweilige Expertise in den gemeinsamen Prozess einbringen und aus ihren jeweils unterschiedlichen Blickwinkeln durchaus auch kritisch betrachten und gemeinsam reflektieren. In NRW hat sich im Feld der sprachlichen Bildung erkennbar eine solche Kooperationskultur entwickelt, die die Bewältigung komplexer Aufgaben durch komplexe Prozesse gelingen lässt.
Strukturell wichtiges Element dabei waren und sind die Verbundkoordinator*innen. Für deren Arbeit hatte das Land – im Übrigen als einziges Bundesland in diesem Umfang – die weise Entscheidung getroffen, erhebliche Stellenanteile zur Verfügung zu stellen. Gerade in einem bevölkerungsreichen wie geographisch ausgedehnten Land wie Nordrhein-Westfalen kann ein solches Programm nur erfolgreich sein und die Komplexität des Arbeitens in Verbünden gelingen lassen, wenn der Kitt an den Schnittstellen mit bedacht wird, sprich wenn die für das Gelingen bedeutsame Prozesskomponente personell abgesichert ist. Denn Kooperation in komplexen Strukturen benötigt Kommunikation. Deren Aufwand ist oft nicht direkt sichtbar, sondern taucht – als typisches Element immaterieller Arbeit – in den üblichen Kosten-Nutzen-Rechnungen gar nicht auf.
Im Hinblick auf den Transfer wurden die Veranstaltungen nicht nur zur Information interessierter Kolleg*innen und Einrichtungen genutzt, sondern auch für die Transfervorbereitung und -planung. Die Teilnehmer*innen hatten die Möglichkeit, konkrete Interessensbekundungen dazu abzugeben, was sie in einer möglichen Transferphase bearbeiten wollen. Die Planungen für BiSS-Transfer in NRW beruhen somit auf einer breiten Basis von Informationen auf der einen und auf der Berücksichtigung von Wünschen und Erwartungen auf der anderen Seite. Eine genaue Umsetzungsplanung wird im Land noch erarbeitet.
In NRW zeigt sich die Bedeutung einer vorhandenen Struktur. Wie zu Beginn von BiSS immer auch auf noch bestehende Erfahrungen, Strukturen und Kompetenzen zurückgegriffen werden konnte, die im Rahmen des letzten BLK-Programms Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (FörMig) entstanden waren (2004-2012). Insbesondere in der LaKI, bei der auch in BiSS die Landeskoordination angesiedelt ist, wurde das lebendig gehalten und für die Sprachbildungsarbeit in NRW weitergeführt. 2013 konnte BiSS daran anknüpfen und hat inzwischen durch das neu aufgesetzte Konzept der Verbundkoordinator*innen, die zum Teil auch direkt an den kooperierenden Hochschulen angesiedelt sind, eine eigene stabile Netzwerkstruktur aufgebaut, die für den Transfer bereitsteht und ein kooperatives Arbeiten in Verbünden sicherstellt sowie eine gemeinsame thematische Linie in die Sprachbildungsarbeit in NRW hineinbringt.

* Vgl. https://kommunale-integrationszentren-nrw.de/biss-nordrhein-westfalen-vier-veranstaltungen-fuer-den-transfer-die-region-erfolgreich-gelaufen