Sprache, Migration, Gastfreundschaft Forschung zu Sprachideologie und Mehrsprachigkeit

Sprache, Migration, Gastfreundschaft Forschung zu Sprachideologie und Mehrsprachigkeit

Fatou Cissé Kane & Prof. Dr. Anne Storch • Artikel im ZMI Magazin 2017, S. 6

Herr A. kommt aus Dakar und lebt seit einigen Jahren in Palma, wo er Souvenirs verkauft. Seine Kundschaft reist größtenteils aus Deutschland an, und so ist es für Herrn A. eine Notwendigkeit, Deutsch sprechen und verstehen zu können. Ein Händler muss seine Ware geschickt anbieten, sagt er, und dazu gehört eine gewisse sprachliche Eloquenz. Auch das Spielen mit Sprache, das humorvolle Inszenieren, die Improvisation, das Unvollkommene und das Jonglieren mit verschiedenen Sprachen sind wichtig. Herr A. spricht daher außer Wolof und Französisch auch noch Spanisch, Deutsch, Englisch, und Arabisch. Außer Spanisch, für das es ein Angebot an integrativen Sprachkursen für Migrantinnen und Migranten gibt, hat er sich alle Sprachen, die er nicht schon im Senegal gekonnt hat, auf der Straße und in der Begegnung mit anderen Menschen angeeignet.

Seine Begegnungen wirken nicht immer so, als böten sie viel sprachlichen Austausch. Die Sprüche und Witze, die helfen, Kontakt zum Kunden anzubahnen, sind vielmehr Teil eines Spiels, in dem man Figuren verkörpert, die andere in einem sehen mögen. Die sich entspinnenden Aufführungen und Darbietungen von Händler und Kunde spiegeln dann auch den Rassismus und die soziale Ungleichheit, die häufig zur Erfahrung von Migration gehört, aber das ist es eben nicht nur: Herr A. sagt, dass da ein Unterschied sei zwischen dem Spiel mit dem Bild, das andere von einem haben – dem Zerrbild des Subalternen, des Marginalisierten – und der Eloquenz, die dennoch entstehen kann, wenn man nur eine Interaktion zulässt. Er und viele andere Migrantinnen und Migranten aus Westafrika sprechen in diesem Zusammenhang oft auch von Integration; wer bereit ist, sprachliches Wissen in Begegnungen, Darbietungen und Gesprächen zu teilen und zu vermitteln, wer auch bereit ist, den anderen in aller Unvollständigkeit der Rede zu verstehen, integriert sich, macht Integration möglich. Migration, sagt Herr A., sei eine Erfahrung, die alle hier machten – die Händler, Touristen, Unterhaltungskünstler sind am Ferienort alle irgendwie fremd, und es sei die Bereitschaft, miteinander in irgendeine Form von Gespräch einzutreten, auf die es hier ankäme. Sprache ist hier etwas fundamental Gemeinschaftliches, und eine Sprache, die nicht geteilt wird, ist etwas unendlich Trauriges und Einsames. Es spielt dabei keine Rolle, ob jemand besonders gut und korrekt spricht, auch schreiben kann, oder ob improvisiert und fern von Standards und Normen kommuniziert wird; es geht darum, dass es zu irgendeiner Form des Miteinanders kommen muss.
Sprachliche Repertoires sind aus diesem Grund ungeheuer dynamisch und veränderlich. Wir alle gewinnen stetig sprachliches Wissen dazu, vergessen und verlieren aber auch kommunikative Fähigkeiten. In verschiedenen afrikanischen sprachphilosophischen Konzepten wird dem oft mehr Bedeutung beigemessen als dem Starren, Permanenten in der Sprache – grammatische Strukturen, ein standardisiertes Lexikon – das europäische Sprachkonzepte prägt. Herrn A.s Ideen von Sprache als etwas Offenem, Geteiltem, stetig Wandelbarem spiegeln afrikanische Sprachkonzepte wider, die zusammen mit dem in der alten Heimat erworbenen sprachlichen Repertoire mitgebracht werden. Sprache, sprachliches Wissen und Sprachideologien gehören also zusammen und prägen unseren Umgang mit Anderen, unsere Reaktion auf das Fremde und unsere Art, das Unverständliche zu deuten in unterschiedlicher Weise. Auf eine ironische Weise bilden manche der auf Mallorca verkauften Motto-T-Shirts die Koexistenz dieser verschiedenen Konzepte ab: das Improvisierte, aber auch Selbstironische, Offene oder eben die Zurückweisung des Anderen, der vielleicht gar nicht dazugehört.
Touristische Orte bieten eine ganz spezielle Bühne für die Darbietung von kulturellen Unterschieden, Erfahrungen des Andersseins und der Konstruktion von Identität. Im Alltag, zu Hause, sind die Räume, die all das zulassen oder sogar erfordern, seltener und vielleicht auch kleiner. In unserer Forschung interessiert uns zum einen, welche unterschiedlichen Sprachkonzepte und sprachphilosophischen Formen der Auseinandersetzung mit Kommunikation es gibt – wie werden Standards ausgehandelt, was ist Sprache überhaupt für unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Gesellschaften? Zum anderen interessiert uns aber auch die Gestaltung alltäglichen Lebens und banale Praktiken im Kontext von Migration – wie werden verschiedene Sprachideologien in Einklang gebracht, wie funktionieren linguistische Großzügigkeit und Gastfreundschaft?
Köln ist eine Stadt, in der viele Menschen aus Westafrika leben, deren Biografien von vielfältigen Bemühungen um linguistische Gastfreundschaft, Offenheit und Integration erzählen. Der Erwerb von Kenntnissen des Deutschen spielt dabei eine wichtige, aber nicht die einzige Rolle. Mehrsprachigkeit als eine Kulturtechnik wird meist als Bestandteil erfolgreicher Migration aufgefasst, und reiche sprachliche Repertoires werden um immer wieder neue Sprachen und Register ergänzt. In einer Welt, in der Brüche, Entwurzelung und Migration eher die Normalität als die Abweichung in den Lebensrealitäten vieler Menschen darstellen, ist Mehrsprachigkeit eine entscheidende Fähigkeit, um sich immer wieder neu einfügen zu können. Dies hat durchaus einen produktiven Aspekt: für die Sozialgeschichte verschiedener Teile Afrikas ist die Strategie, Konflikte und Machtkämpfe durch Migration zu beenden und sich auf immer wieder neue Orte und Kontexte einzustellen, als eine sehr erfolgreiche und historisch alte Form der Organisation von Gemeinschaft beschrieben worden. Der Historiker Igor Kopytoff und seine Kolleginnen und Kollegen haben hier den Begriff ‚afrikanisches Grenzland’ (African Frontier) geprägt, um ein dynamisches, historisch reiches Bild afrikanischer Geschichte zeichnen zu können, das dem Stereotyp vom ‚traditionellen’, unbeweglichen, ahistorischen Afrika, das seit der Kolonialzeit die Debatten prägt, etwas entgegensetzen zu können. Gemeinschaft und Identität sind flexibel und stellen ein stetiges Projekt der Konstruktion dar. Die immer wieder in neuen Konstellationen siedelnden Gruppen brachten meist ihre religiösen, sprachlichen und kulturellen Praktiken mit in die Gemeinschaften, denen sie sich anschlossen, waren aber auch auf das Erlernen neuer Praktiken angewiesen. ‚Sprache’ in so einem Kontext ist also immer etwas Offenes, Flexibles, und Mehrsprachigkeit die Norm; das Sprechen möglichst vieler Sprachen ist dabei nicht so sehr eine Frage von Begabung oder Bildung, sondern vor allem alltäglich notwendige soziale Arbeit.
Die enorme Dynamik von Sprache und Gemeinschaft ist dabei ein Aspekt afrikanischer Sozialgeschichte, der deutlich macht, dass eine Unterscheidung von ländlichen und städtischen Sprachen und Gesellschaften auf einer eurozentrischen Perspektive basiert, die ignoriert, dass Gemeinschaften häufig anders gedacht werden als dies im Europa nach der Erfindung des Nationalstaats oft der Fall war und ist. Ländliche Gemeinschaften etwa im Senegal, so hat jüngst die in London tätige Afrikanistin Friederike Lüpke mit ihrem Team gezeigt, sind dynamische, globalisierte und von großer Diversität geprägte Gesellschaften, in denen es alltäglich ist, sich in mehreren Sprachen zu bewegen; sie unterscheiden sich in der Art, wie mit Mehrsprachigkeit und Migration umgegangen wird eigentlich nicht wesentlich von urbanen Gesellschaften des ‚globalen Nordens’.
Dies zeigt auch, dass ein wissenschaftliches Konzept wie etwa das der ‚Superdiversität’, das von Soziologen und Linguisten wie Steven Vertovec und Jan Blommaert seit etwa zehn Jahren als etwas für Metropolen Europas charakteristisches diskutiert wird, problematisch ist. Bei ‚Superdiversität’ geht es um die Beobachtung, dass Migration in urbane Räume zu einer enorm komplexen Vielfältigkeit geführt hat, weil sämtliche beteiligte soziale Gruppen dazu neigten, sich auch intern stark zu diversifizieren, nicht zuletzt auch in sprachlicher Hinsicht. Gleichzeitig basieren diese Konzepte auf Sprachideologien und soziolinguistischen Konzepten, die vor allem in Europa und Nordamerika entwickelt wurden und zu denen es eine Vielzahl von Alternativen gibt. Das erfährt man sowohl im Gespräch mit Menschen wie Herrn A. in einem banalen Kontext wie dem Massentourismus als auch in der Untersuchung von Mehrsprachigkeit und Migration vor Ort in Köln. Erklärungsansätze, was ‚Sprache’ in einem Kontext wiederholter Migration sein kann, stellen oft Sprache als Mittel der Bindung an den alten Lebensmittelpunkt und zwischenmenschliche Praxis und gemeinsames Reden in den Mittelpunkt, und nicht sprachliche Korrektheit und Struktur. Erfahrung mit sprachlicher Diversität und die Fähigkeit, individuelle Repertoires flexibel immer wieder an neue soziolinguistische Kontexte anzupassen erleichtert aber nur bis zu einem gewissen Grad den Zugang zu Ressourcen wie Jobs und Kontakte. Integrative Sprachkurse und Deutschunterricht sind anders institutionalisiert und kulturell anders eingebettet als ‚normaler’, alltäglicher Spracherwerb. Dadurch, dass außereuropäische Sprachkonzepte und Sprachideologien kaum in solche Formen der Wissensvermittlung integriert werden, wird der Erwerb des Deutschen mitunter auch zu einer Erfahrung von Brüchigkeit. Hier überlagern sich außerdem unterschiedliche Sprachideologien und soziolinguistische Praktiken: während in der Schule oder im Integrationskurs eine am Standard orientierte Vermittlung von Sprache als etwas das ‚korrekt’ sein soll, vermittelt wird, bieten alltägliche Begegnungen und soziale Medien eine Arena, in der Sprachen fluide und nicht übermäßig voneinander abgetrennt gebraucht werden dürfen. Wolof, Französisch und Deutsch werden in Textnachrichten so kombiniert, wie sie auch im alltäglichen Gespräch zuhause miteinander verwoben sind:
Im familiären Kontext gibt es außerdem ein starkes und aktives Bemühen, die Teile des sprachlichen Repertoires, die mit dem früheren Leben in Westafrika verknüpft sind, zu pflegen und den hier aufwachsenden Kindern zu vermitteln. Da es immer denkbar ist, dass man eines Tages zurückgeht, dass man Ferien bei den Großeltern verbringt oder auch im Alltag digitalen Kontakt mit der Familie halten möchte, ist das Sprechen in Wolof, Pulaar, Serer oder anderen Sprachen vor Ort in Köln ein wesentlicher Teil der Pflege alter Bindungen. Die Alternative wäre eine Sprachlosigkeit, die als beschämend empfunden würde und dem gelebten Leben fremd.
„Der übliche monolinguale Habitus und diese starren Standards, das ist ein Konzept, das im Grunde nur Intellektuellen eigen ist, es ist kein Konzept, das ‚gewöhnliche Leute’ haben“, schrieb der südafrikanische Sprachpolitiker und Intellektuelle Neville Alexander. Wenn wir genau hinsehen, hat Alexander Recht: diese starren Standards sind etwas für Fachtexte und Rundfunknachrichten, aber sie interessieren uns in unserem Alltag nur bedingt. Sprache ist Gemeinschaft und das Sprechen mehrerer Sprachen birgt immer auch Gastfreundschaft, die Fähigkeit andere einzuschließen oder auch sich selbst zu integrieren. Mehrsprachigkeit ermöglicht die Öffnung gegenüber Anderen, und sie ist – wenn wir zum Beispiel sprachliche Register wie Dialekt, Jargon, Standard usw. einbeziehen – immer ein Teil unserer Strategien um auf verschiedene Kontexte zu reagieren.
In einer Stadt wie Köln, in der eine enorme sprachliche Diversität existiert, ist die Gestaltung von Vereinsleben und Nischen wie Afroshops, Cafés und nachbarschaftlichen Feiern ein wesentlicher Teil integrativer Sprachpraxis: Hier wird in einem Umfeld, in das man sich über den Erwerb von Deutschkenntnissen und weiteren kommunikativen Fähigkeiten (Englisch, Französisch, Arabisch, Türkisch, usw.) einfügt, der soziokulturelle Kontext zur Pflege sprachlicher und persönlicher Bindungen an andere Orte und Menschen hergestellt. Integration heißt explizit nicht die eigenen Werte zu verlassen oder mitgebrachte sprachliche Fähigkeiten zu verlieren. Ein Beispiel, wie Sprache, Migration und Gastfreundschaft die Basis für gemeinsame Vereinsaktivitäten bilden, ist der Verein Neddo Ko Bandum, der vor zwei Jahren offiziell gegründet wurde. Der Name ist Puular und bedeutet „die Person (aus dem Senegal) ist meine Familie“. Der Verein wird ausschließlich von aus dem Senegal stammenden Frauen, die sich aber gleichzeitig als Kölnerinnen betrachten, getragen. Die Frauen treffen sich weitaus länger als das Gründungsdatum des Vereins vermuten lässt – seit über 20 Jahren einmal im Monat, um zu reden, Musik zu hören, zu kochen und zu essen, und die „Seele baumeln zu lassen“.
Manchmal organisiert der Verein auch Feiern, so etwa zuletzt im Juli 2017 in Ehrenfeld. Diesmal wurden nicht nur Freundinnen und Angehörige eingeladen, sondern auch Kolleginnen und Bekannte, mit offizieller Einladungskarte und kleinem Eintrittsgeld.
Auch diese Art von Feier erfordert eine gewisse sprachliche Eloquenz, genau wie bei Herrn A. im Partygeschehen von Palma. Allerdings geht es hier nicht um eine ironisch gebrochene Performanz von Fremdheit, sondern um eine Darbietung von Beheimatung. Die Frauen präsentieren senegalesische kulturelle Praktiken als eine Realität ihres Alltagslebens in Köln und betten Sprache über das kulinarische Angebot und die musikalische Gestaltung des Abends wirkungsvoll ein. Es gibt Bissap (Hibiskusgetränk), Yassa (Hähnchen oder Fisch mit Zwiebelsauce) und Mafé (Erdnussauce mit Gemüse und Fleisch). Die Gespräche drehen sich um Worte und Speisen, während die laute Mbalax-Musik und senegalesischer Hip Hop durch die geöffneten Fenster in die umliegenden Eisdielen und Imbisse dringt.
Die Vereinsarbeit von Neddo Ko Bandum hinterlässt aber viele weitere Spuren; die Frauen sammeln Geld für Projekte, die sie in Deutschland und im Senegal unterstützen möchten. Sprache, Essen, politische und kulturelle Arbeit werden miteinander verknüpft und erweisen sich als Teil eines Ganzen, das Mehrsprachigkeit ebenso beinhaltet wie gastronomische Diversität und soziale Mobilität. Sprache und Reden sind hier wie auch in Dakar oder Palma widersprüchliche und komplexe Begriffe, die verschiedene Deutungen zulassen. Es ist eine wichtige Aufgabe der Linguistik, die unterschiedlichen Bedeutungen und Auffassungen von Sprache ernst zu nehmen und sich verantwortungsvoll auch mit dem Wissen von Akteuren und Akteurinnen auseinanderzusetzen, die sonst eher marginalisiert werden.

Im Jahr 2017 hat Prof. Dr. Anne Storch den renommierten Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis für ihre herausragenden Forschungsleistungen erhalten. Das ZMI gratuliert Prof. Storch herzlich zu dieser Auszeichnung.