Mehrsprachigkeit im Elementarbereich: Ansätze und Anregungen zur Weiterentwicklung sprachlicher Bildung

Mehrsprachigkeit im Elementarbereich: Ansätze und Anregungen zur Weiterentwicklung sprachlicher Bildung

Christina Winter & Prof. Dr. Hans-Joachim Roth • Artikel im ZMI Magazin 2017, S. 13

„Individuelle Mehrsprachigkeit ist ein Potenzial. Damit es sich nicht nur lebensweltlich, sondern auch in den Bildungsinstitutionen entfalten kann, bedarf es einer entsprechenden sprachlichen Bildung“ (Fürstenau 2011, 34).
Durch Globalisierung, Mobilität und die zunehmende (Flucht-)Migration ist die Begegnung mit Mehrsprachigkeit alltäglich. Deshalb sind die Förderung mehrsprachiger Kompetenzen sowie die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für das Lernen und Leben in mehrsprachigen Konstellationen von zentraler Bedeutung. Damit eine erfolgreiche mehrsprachige Bildung erfolgen kann, reicht es nicht aus, die Förderung der Herkunfts- bzw. der Familiensprache allein den Eltern zu übergeben. Vielmehr sind es die Bildungsinstitutionen von der frühen Kindheit an, die den Auftrag haben, mehrsprachige Bildung und Erziehung zu ermöglichen: „Zur Erfüllung des Bildungs- und Erziehungsauftrages gehört die kontinuierliche Förderung der sprachlichen Entwicklung. Sprachbildung ist ein alltagsintegrierter, wesentlicher Bestandteil der frühkindlichen Bildung. […] Die Mehrsprachigkeit von Kindern ist anzuerkennen und zu fördern. Sie kann auch durch die Förderung in bilingualen Kindertageseinrichtungen oder bilingualer Kindertagespflege unterstützt werden“ (KiBiz § 13c Sprachliche Bildung, Absatz 1).

Mit dem „Diskussionspapier Mehrsprachigkeit NRW – Ansätze und Anregungen zur Weiterentwicklung sprachlicher und kultureller Vielfalt in den Schulen“ des Ministeriums für Schule und Weiterbildung wurden die organisatorischen und didaktischen Elemente für die schulische Bildung konzeptionell zusammengefasst. Dieses lässt sich auf den Elementarbereich übertragen: Mehrsprachigkeit im Konzept der pädagogischen und sprachbildenden Arbeit zu verankern, bedeutet demnach, das Spektrum der verfügbaren sprachlichen Kompetenzen bei Kindern und päda-
gogischen Fachkräften gleichermaßen zu erweitern, das sprachliche Selbstbewusstsein der Sprecherinnen und Sprecher verschiedener Sprachen zu stärken, sprachbildend und sprachsensibel im Alltag zu agieren sowie insgesamt ein offenes Sprachenklima in der Kita zu schaffen (vgl. MSW NRW 2017, 7).
Während bereits im Kontext von schulischer Bildung aufgrund des Fremdsprachenangebots sowie des wachsenden Herkunftssprachlichen Unterrichts der Umgang mit Mehrsprachigkeit und sprachlicher Bildung präsent ist, so existiert diese Form institutioneller Mehrsprachigkeit im Elementarbereich noch nicht. Sicherlich steigt die Anzahl bilingualer Einrichtungen an (vgl. FMKS o.J.), dennoch sind Methoden mehrsprachiger sprachlicher Bildung noch weitgehend unbekannt (vgl. Roth u.a. 2016). Dies bedeutet nicht, dass keine Versuche zu mehrsprachiger Bildung und Förderung existieren. Hinsichtlich der Frage, wie die Berücksichtigung und Wertschätzung migrationsbedingter Mehrsprachigkeit im Elementarbereich erfolgen kann, bestehen verschiedene Ansatzpunkte. Insbesondere unter Bezug auf den zunehmend geforderten Anspruch, Eltern als Partner in der institutionellen Erziehungs- und Bildungsarbeit wahrzunehmen (vgl. Stange u.a. 2013; Roth 2013), wurden Programme entwickelt, welche die Berücksichtigung durch Migration bedingter Mehrsprachigkeit unter Einbeziehung von Eltern vornehmen. Die Programme „Griffbereit“ und „RUCKSACK Kita“ (vgl. LaKI NRW) sind dabei explizit mehrsprachig angelegt und haben zum Ziel, die mehrsprachige Erziehung in den Familien zu fördern sowie die Kindertageseinrichtungen in ihrer migrationssensiblen Organisationsentwicklung zu unterstützen. Eingebunden in die Programme sind mehrsprachige Personen, die als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren nach dem Peer-Education-Prinzip Inhalte an die Eltern vermitteln und beratend agieren (vgl. Roth u.a. 2015, Terhart 2015).
Trotz der Verunsicherung, die nach wie vor besteht, stellt der mehrsprachige Sprachenerwerb (simultan oder sukzessiv) für Kinder in der Regel kein Problem dar. Vielmehr kann sich Mehrsprachigkeit fördernd auf die kognitive Entwicklung auswirken. „Stigmatisierungen können sich negativ auf die sprachliche Entwicklung und das schulische Lernen auswirken; deshalb ist eine anerkennende und wertschätzende Haltung gegenüber den Kompetenzen von Kindern aus sprachlichen Minderheiten auch in einsprachigen Unterrichtskonstellationen eine Voraussetzung für Lernerfolge“ (Fürstenau 2011, 36f.). Um eine mehrsprachige Erziehung zu ermöglichen, bedarf es also entsprechender Rahmenbedingungen:
• Eine positive und wertschätzende Haltung gegenüber (migrationsbedingter) Mehrsprachigkeit: Mehrsprachigkeit als Normalität und als Chance für jedes einzelne Kind begreifen
• Die Anerkennung der sprachlichen Vielfalt
• Offenheit gegenüber Mehrsprachigkeit bei Leitung und pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
• Wissen um heterogene Spracherwerbsverläufe, Mehrsprachigkeit und Sprachdiagnostik bei pädagogischen Fachkräften
• Unterstützung durch pädagogische Fachkräfte in Bildungseinrichtungen
• Zwei- und mehrsprachige Ressourcen wie z.B. mehrsprachige Bücher
• Übereinstimmung in pädagogischer und sprachlicher Bildungsarbeit
• Selbstsichere Eltern
• Eine Kooperation zwischen pädagogischen Fachkräften und Eltern
• Ein anregungsreiches sprachliches Umfeld sowie reichhaltige Möglichkeiten, die Sprache(n) zu nutzen

Umsetzung und Weiterentwicklung mehrsprachiger pädagogischer und sprachlicher Bildungsangebote im Elementarbereich sind zeitintensiv. Es handelt sich dabei um einen Prozess, in dem es zunächst darum geht, das pädagogische Fachpersonal, die Eltern, aber auch die Kinder für mehrsprachiges Agieren zu sensibilisieren, zu überzeugen und dafür zu gewinnen. Jede einzelne Kindertageseinrichtung hat grundsätzlich die Möglichkeit, ihr individuelles Profil der Mehrsprachigkeit zu erkennen, wertzuschätzen und konstruktive Strategien der produktiven Berücksichtigung der Sprachen für das Lernen und Leben in mehreren Sprachen zu entwickeln. Darüber hinaus ist es möglich, explizite mehrsprachige Modelle zu entwickeln und z.B. bilinguale Gruppen anzubieten. Derzeit läuft ein Forschungsprojekt zum Thema „Sprachliche Bildung und Sprachförderung im Elementarbereich unter Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit“, durchgeführt von Christina Winter, mit dem Ziel, mittels Beobachtungen und Interviews in städtischen Kindertageseinrichtungen genauer zu erfassen, wie Sprachbildungskonzepte im Elementarbereich im Alltag funktionieren, wie Mehrsprachigkeit bereits berücksichtigt wird und wie das angesichts der konkreten Situation in den einzelnen Einrichtungen ausgebaut werden kann. Als Ergebnisse sollen Gelingensbedingungen für mehrsprachige Sprachbildungsarbeit auf organisatorischer und auf didaktischer Ebene herausgearbeitet und konzeptionell gebündelt werden; auf dieser Basis soll es möglich werden, Empfehlungen für eine erfolgreiche Implementierung mehrsprachiger Bildungsangebote zu formulieren. Die Untersuchung soll auf diese Weise einen Beitrag für eine migrationssensible Organisationsentwicklung von Kindertagesstätten und damit einhergehenden Weiterbildungsmaßnahmen für bereits bestehende oder in Planung befindliche Einrichtungen leisten.

Literatur:
Fürstenau, S. (2011). Mehrsprachigkeit als Voraussetzung und Ziel schulischer Bildung. In: Fürstenau, S. & Gomolla, M. (Hg.) (2011). Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit. Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften, 25-50.
Homepage Frühe Mehrsprachigkeit an Kitas und Schulen (FMKS) (o. J.). Verfügbar unter: http://www.fmks-online.de/ [25.07.2017]
Homepage Landesweite Koordinierungsstelle der Kommunalen Integrationszentren Nordrhein-Westfalen (LaKI NRW) (o J.). Verfügbar unter
http://www.kommunale-integrationszentren-nrw.de/ [25.07.2017]
Kinderbildungsgesetz (KiBiz) (2017). Gesetz zur frühen Bildung und Förderung von Kindern. Viertes Gesetz zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes – SGB VIII – vom 30.10.2007. Verfügbar unter:
www.recht.nrw.de/lmi/owa/br_text_anzeigen?v_id=10000000000000000386 [25.07.2017]
Leist-Villis, A. (2016). Elternratgeber Zweisprachigkeit: Informationen & Tipps zur zweisprachigen Entwicklung und Erziehung von Kindern. 7. Aufl., Tübingen: Stauffenburg Verlag.
Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (MSW NRW) (2017). Diskussionspapier Mehrsprachigkeit NRW – Ansätze und Anregungen zur Weiterentwicklung sprachlicher und kultureller Vielfalt in den Schulen. Verfügbar unter: https://www.uni-due.de/imperia/md/content/prodaz/msw-diskussionspapier-mehrsprachigkeit.pdf [25.07.2017]
Reich, H. H. (2008). Sprachförderung im Kindergarten: Grundlagen, Konzepte und Materialien. Weimar u.a.: Verl. das Netz.
Roth, H.-J. & Terhart, H. (Hg.) (2015). RUCKSACK. Empirische Befunde und theoretische Einordnungen zu einem Elternbildungsprogramm für mehrsprachige Familien. Münster: Waxmann.
Roth, H.-J. (u.a.) (2016). MehrKita – Mehrsprachigkeit in Kölner Kindertagesstätten. Universität zu Köln, Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften, Interkulturelle Bildungsforschung. Unveröffentlichter Forschungsbericht.
Roth, X. (2013). Handbuch Bildungs- und Erziehungspartnerschaft: Zusammenarbeit mit Eltern in Kita. Freiburg/Br.: Herder Verlag.
Stange, W., Krüger R., Henschel, A. & Schmitt, C. (2013). Erziehungs- und Bildungspartnerschaften Grundlagen und Strukturen von Elternarbeit. Wiesbaden: Springer VS Verlag.
Tracy, R. (2008). Wie Kinder Sprachen lernen. Und wie wir sie dabei unterstützen können. 2. überarb. Aufl., Tübingen: Francke Verlag.