AusgeFLIPPte Methode!
Kann man mit Lernvideos die Differenzierung im Herkunftssprachlichen Unterricht fördern?
Dr. Nicola Brocca • Artikel im ZMI Magazin 2017, S. 24
Die Eltern von Maria Pia stammen beide aus Kampanien. Zuhause sprechen sie alle Italienisch. Nevio hingegen spricht Italienisch nur mit seinem Opa. Maria Pia und Nevio besuchen beide den gleichen Herkunftssprachlichen Unterricht (HSU), wo sie Italienisch lernen. „Ich kann mich nicht duplizieren“ beklagt sich der Lehrer. Um die Heterogenität im Sprachunterricht zu meistern, erstellt der Sprachwissenschaftler Dr. Nicola Brocca zusammen mit Francesca Casale, HSU-Lehrerin in einer Kölner Gesamtschule, Lernvideos, die für Italienischen HSU benutzt werden können. Frau Casale und Herr Brocca konnten ihr Interesse dank der Vermittlung des ZMI-Zentrum für Mehrsprachigkeit und Integration vereinigen. Zum Beispiel erstellten die beiden ein Videotutorial zum Thema „meine Stadt“. Darin wird erklärt, wie man am Telefon einem italienischen Besucher, der kein Deutsch kann, den Weg aus der Schule zum Kölner Dom beschreiben kann. Ein anderes Videotutorial erklärt die sieben besten Tricks, um Bilder zu beschreiben. Für die Schülerinnen und Schüler ist das eine gute Vorbereitung für die Prüfung im 10. Jahrgang.
Die Schülerinnen und Schüler müssen sich zuhause für den Unterricht vorbereiten: Wie über 95% der Jugendlichen (Feierabend, Plankenhorn, Rathgeb 2016) verfügen Maria Pia und Nevio über ein Smartphone und können die Lernvideos damit anschauen. Die Videos sind selten länger als vier Minuten. Sie enthalten einige Fragen, die die Schülerinnen und Schüler beantworten müssen. Dank Apps wie EdPuzzle oder Vizia.co kann Frau Casale kontrollieren, ob und wie häufig die Schülerinnen und Schüler die Videos gesehen haben und ob sie die Verständnisfragen oder Lösungshypothesen online beantworten konnten. Die Lehrerin kann sehen, ob Maria Pia direkt die Videoerklärung verstanden hat, und ob für Nevio mehrere Wiederholungen des Videos nötig waren. Damit kann sie für jede Schülerin und jeden Schüler die passende Herausforderung im Unterricht stellen: Nevio kann sich auf einen reellen Besuch eines italienischen Freundes mit einer Begrüßungskarte vorbereiten und Maria Pia kann eine Wegbeschreibung für den Besucher schrei-
ben oder eine Sprachnachricht aufnehmen. Somit gelingt die Differenzierung im Unterricht. Aber der Mehrwert liegt vor allem darin, dass die Zeit im Unterricht für das Lernen in Peer-Groups genutzt werden kann. Frau Casale, die im Unterricht nicht mehr frontal erklären muss, kann jetzt die Schülerinnen und Schüler, die es nötig haben, beraten und auf einzelne Aspekte der Videoerklärung hinweisen.
Sie ist nicht mehr diejenige, die alles erklärt; sie kann nun das selbstständige Lernen der Schülerinnen und Schüler vereinfachen und jedem und jeder gezieltes und individualisiertes Feedback geben. Die Präsenzzeit wird für die Interaktion mit der Lehrkraft oder in der peer-Group optimiert.
Frau Casale und Herr Brocca sind nur einige der Lehrkräfte, die die Flipped Classroom Methode (FCM) von Bergmann und Sams (2012) austesten. Bergmann und Sams begannen damit, den Unterricht in ihrer High School für die Schülerinnen und Schüler, die den Unterricht verpasst hatten, zu filmen und online zur Verfügung zu stellen. Später wurden Erklärvideos für alle Schülerinnen und Schüler zur verpflichtenden Vorbereitung für die Präsenzsitzung. Heute bilden sie weitere Lehrerinnen und Lehrer aus und ihre Webseite (http://flippedlearning.org) zählt inzwischen hunderttausende Mitglieder.
Herr Brocca, der bereits HSU-Lehrer war und gerade an der Heidelberg School of Education unterrichtet und forscht, will im kommenden Schuljahr den Prozess an einigen Kölner Schulen wissenschaftlich begleiten und evaluieren. Er wird die Klassen mit FCM vor und nach dem Experiment testen und ihren Lernzuwachs mit einer vergleichbaren Klasse, in der die Flipped Classroom Methode nicht verwendet wurde, vergleichen. Neben dem sprachlichen Lernzuwachs wird auch die Motivationssteigerung analysiert. Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrkräfte werden nach ihrer Meinung gefragt: Wie ist es, eine Videoerklärung zuhause zu schauen? Wie verbringen die Schülerinnen und Schüler die Vorbereitungszeit zuhause? Können sie selbstverantwortlich Entscheidungen für ihren Lernprozess treffen? Führt diese Methode dazu, dass die Schülerinnen im Unterricht selbst-ständiger arbeiten, weil sie selber ihr Wissen erwerben müssen? Die ersten Ergebnisse der Forschung über „flipped“ Klassen in deutschen Schulen haben bewiesen, dass besonders leistungsstarke und leistungsdurchschnittliche Schülerinnen und Schüler von der angebotenen Methode profitieren. Leistungsschwache Schülerinnen und Schüler hingegen scheinen mit der Methode nicht zurechtzukommen (Werner, Spannagel 2017). Vielleicht kann die Lehrkraft in einer HSU-Klasse, die in der Regel weniger Schülerinnen und Schüler hat als eine reguläre Schulklasse, diese Differenz ausgleichen. Noch mag es eine Utopie sein, aber einen Versuch ist es wert.
Bibliografie
Bergmann, J., & Sams, A. (2012). Flip your classroom: reach every student in every class every day. Eugene, OR.; Alexandria.
Werner Julia, Spannagel Christian (2017). Flip Your Class! – Erste Ergebnisse eines Schulprojektes in Berlin. Poster. Quelle:
http://flipyourclass.christian-spannagel.de/2017/02/poster-auf-der-icm-conference-2017/
Sabine Feierabend, Theresa Plankenhorn, Thomas Rathgeb: 2016 JIM-Jugend, Information, (Multi-) Media, Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland. Herausgeber: Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest