Mehrsprachigkeit ist unsere Stärke

Mehrsprachigkeit ist unsere Stärke*

von Dr. Manfred Schmidt, Präsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge • Artikel im ZMI Magazin 2013, S. 18

*Für den Druck überarbeiteter und gekürzter Vortrag des Präsidenten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, anlässlich des Sprachfestes 2013 des Zentrums für Mehrsprachigkeit und Integration am 28. Januar 2013 im Historischen Rathaus zu Köln.

Ich habe eine persönliche Referentin, die in Deutschland studiert hat und vier Sprachen spricht. Sie schreibt Reden, vertritt das Bundesamt auf Veranstaltungen und bereitet auch meine Termine vor. Und dabei wird sie immer wieder gefragt, warum sie eigentlich so gut Deutsch spricht. Warum das? Sie trägt ein Kopftuch. Sie hat einen anderen Namen als Meier, Müller, Schmidt. Diese Frage ist symptomatisch dafür, wie wir mit Vielfalt umgehen.
Deutschland ist bzw. wird nur dann ein attraktiver Lebensstandort sowohl für Menschen mit Wurzeln im Ausland, die bereits hier leben, als auch für die vielen Fachkräfte, die wir künftig gewinnen wollen, wenn wir aufhören, Menschen nur deshalb für weniger qualifiziert zu halten, weil sie nicht phänotypisch deutsch aussehen oder ihr Name nicht typisch deutsch ist.

Kulturelle Vielfalt in Deutschland
Köln, aber auch viele andere Beispiele zeigen: Unsere Gesellschaft ist vielfältig geworden. Fast 20 Prozent der Menschen in Deutschland haben Migrationserfahrung – selbst oder über ihre Eltern. Ein Drittel der Menschen, die in Köln leben, hat einen Migrationshintergrund. Bei den Kindern ist es bereits die Hälfte.
In der Praxis funktioniert das Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kulturen, mit unterschiedlichen Sprachen meistens sehr gut. Vor Ort zeigt sich vieles oft ganz anders als aufgeregte Medienberichte oder das ein oder andere Buch suggerieren.
In den letzten Jahren hat sich sowohl in der politischen Diskussion als auch in der praktischen Arbeit viel verändert. Heute haben wir ein systematisches, flächendeckendes staatlich finanziertes Grundangebot an Integrationsmaßnahmen. Wir haben an vier Universitäten Lehrstühle zur Ausbildung muslimischen Lehrpersonals eingerichtet. Eine wachsende Zahl von Bundesländern führt islamischen Religionsunterricht ein. Das hätten wir so vor zehn Jahren wahrscheinlich nicht erwartet. Auch das Motto des Kölner Sprachfestes – „Mehrsprachigkeit ist unsere Stärke“ – wäre vor zehn Jahren wahrscheinlich ein anderes gewesen.

Umgang mit Vielfalt
Wenn wir über einen positiven, wertschätzenden Umgang mit Vielfalt reden, dann geht es nicht darum, ein „Wohlfühlklima“ zu beschwören. Es gehört auch dazu, Probleme zu benennen, zum Beispiel, dass 14 Prozent der ausländischen Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss die Schule verlassen, aber nur fünf Prozent der deutschen.
Damit Integration gelingt, müssen wir es schaffen, dass sich alle, die in Deutschland auf Dauer leben, hier auch zu Hause fühlen: Diejenigen, die neu zu uns kommen, müssen sich willkommen, diejenigen, die schon lange bei und mit uns leben, anerkannt fühlen. In letzter Zeit fällt häufig der Begriff Willkommens- und Anerkennungskultur. Wie wir mit der Vielfalt der Sprachen in Deutschland umgehen, ist dabei ein wichtiger Aspekt.

Willkommens- und Anerkennungskultur: Was ist das?
Wir müssen Deutschland als Lebens- und Arbeitsstandort langfristig attraktiv machen und eine Willkommenskultur für Neuzuwanderer etablieren. Das fängt mit den Ausländerbehörden an und hört mit den Schulen noch lange nicht auf.
Eine Umfrage des German Marshall Fund 2011 hat gezeigt: Etwas mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland sehen Zuwanderung mehr als Problem denn als Chance. Daher müssen wir auch die Aufnahmegesellschaft in den Blick nehmen. Wir brauchen eine Kultur der Anerkennung für alle bereits länger in Deutschland lebenden Menschen und ihre Kompetenzen – und damit sind wir dann auch beim Thema Mehrsprachigkeit.
Lassen Sie uns einen kurzen Blick auf die Menschen werfen, die aktuell zu uns kommen und die Vielfalt unserer Gesellschaft prägen: Im Moment sehen wir drei große Gruppen:
Zum einen ist da der Familiennachzug. Gegenwärtig kommen auf diese Weise rund 40.000 Menschen pro Jahr nach Deutschland. Es ist wichtig, für sie die Information über Deutschland bereits im Herkunftsland zu verstärken und den Übergang in Erstintegrationsangebote in Deutschland zu optimieren. Wir dürfen es nicht dem Zufall überlassen, ob jemand den Weg in die Migrationsberatung findet oder nicht, müssen möglichst schnell den Zugang zu einem Integrationskurs sicherstellen. Wir brauchen eine systematische Integrationsbegleitung, damit wir später nicht „reparieren“ müssen, was wir zu Beginn versäumt haben.
Immer wichtiger wird der Fachkräftezuzug, auch im Rahmen der Demographiestrategie der Bundesregierung. Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gehen davon aus, dass das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland bis 2025 um sieben Millionen Personen sinken wird. Mehr Fachkräfte aus dem Ausland für Deutschland zu gewinnen ist eine der Möglichkeiten, darauf zu reagieren. Das wird aber nur gelingen, wenn Deutschland als Lebensstandort langfristig attraktiv ist. Auch für Fachkräfte müssen wir gezielt Informations- und Integrationsangebote weiterentwickeln und auf ihre individuellen Bedarfe abstimmen – z.B. bei der berufsbezogenen Sprachförderung schon im Herkunftsland beginnen, wie wir es jetzt mit unseren Kursen im Rahmen des ESF-BAMF-Programms erproben. Ganz wichtig ist: Fachkräfte kommen nicht allein, sie bringen ihre Familien mit. Und diese entscheiden mit, ob sie in Deutschland bleiben möchten oder nicht. Die Frage, wie offen unser Bildungssystem für ihre Kinder ist, welche Angebote ihnen als Quereinsteiger in deutsche Schulen gemacht werden, ist dabei relevant.
Dabei dürfen wir aber nicht vergessen: Wir müssen auch weiterhin einen Fokus auf die so genannte nachholende Integration legen. 85 % aller Arbeitsplätze in Deutschland erfordern eine Berufsausbildung oder einen akademischen Abschluss. Die Bildungserfolge, Ausbildungs- und Studienbeteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu stärken, muss daher weiterhin eine zentrale Aufgabe bleiben. Und dabei spielt gerade auch die Mehrsprachigkeit eine Rolle: Wenn Türkisch, Russisch oder Serbokroatisch auf bildungssprachlichem Niveau gesprochen werden und später in Ausbildung und Beruf ein Plus und kein Hindernis sind, dann haben wir viel gewonnen, für die gleichberechtige Teilhabe, aber auch für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Es muss also immer um beides gehen: Neuzuwanderung gestalten und die Teilhabe der Menschen, die schon lange hier leben oder hier geboren sind, stärken. Auch beim Thema Sprachförderung.

Willkommens- und  Anerkennungskultur:
Engagement des Bundesamts Integration / Willkommens- und Anerkennungskultur können nicht von meinem Schreibtisch aus verordnet werden. Was genau kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge also tun?
Seit 2005 sind wir für Angebote für Migrantinnen und Migranten verantwortlich. Dazu gehören:

  • Integrationskurs (mehr als 1 Mio. Berechtigungen, über 800.000 TeilnehmerInnen, 500.000 AbsolventInnen)
  • ESF-BAMF-Programm (seit 2009 über 72.000 TeilnehmerInnen, 46 % von ihnen wurden in Arbeit, Ausbildung und allgemeine Weiterbildungsmaßnahmen integriert)
  • Migrationsberatung (600 Beratungseinrichtungen, 800 Berater, 2012: 164000 beratene Personen)
  • Hotline zur Anerkennungsberatung (7000 Anfragen seit April)

In den letzten Jahren haben wir zudem den Fokus auf die Gesellschaft als Ganzes gelegt. Wir möchten die Entwicklung einer Willkommens- und Anerkennungskultur fördern, indem wir

  • den Dialog fördern (z.B. Kooperation von Migrantenorganisationen mit anderen Akteuren),
  • Informationen vermitteln und Diskussion versachlichen (z.B. durch unsere Forschung, Zusammenarbeit mit politischen Stiftungen, Workshop zu Begrifflichkeiten mit Neuen Deutschen Medienmachern) und
  • Praktische Vorschläge zur Umsetzung einer Willkommens- und Anerkennungskultur entwickeln.

Hierzu haben wir einen Runden Tisch „Aufnahmegesellschaft“ eingerichtet, der praktische Empfehlungen und Vorschläge vorlegt hat. Da geht es beispielsweise darum, Melde- und Ausländerbehörden zu Willkommensbehörden weiterzuentwickeln. Wir werden dazu mit mehreren Ausländerbehörden dieses Jahr ein Pilotprojekt starten.

Sprache und Mehrsprachigkeit als Baustein einer Willkommens- und Anerkennungskultur
Nur wer die Menschen um sich herum versteht und selbst auch verstanden wird, kann im Supermarkt einkaufen, mit dem Lehrer seiner Kinder sprechen, die Hausaufgaben kontrollieren oder ein Vorstellungsgespräch für eine Arbeitsstelle wahrnehmen.
Es ist darum wichtig, dass Migrantinnen und Migranten Deutsch lernen. Gesellschaft und Staat müssen ihnen dazu die Gelegenheit geben.
Gerade bei Kindern mit Migrationshintergrund muss die Schule der Bildungsbenachteiligung durch unzureichende Deutschkenntnisse entgegenwirken. Um erfolgreich durch die Schule zu kommen, eine Ausbildung oder einen Studienplatz zu finden, reicht das umgangssprachliche Deutsch nicht aus, das Kinder mit ihren Freunden auf dem Pausenhof sprechen. Es ist deshalb wichtig, den Unterricht in allen Fächern so zu gestalten, dass auf die sprachlichen Belange der Kinder und Jugendlichen Rücksicht genommen und die Bildungssprache trainiert wird.
Sprache ist jedoch nicht nur ein reines Werkzeug zur Kommunikation. Durch den ständigen Gebrauch, während des Sprechens, Hörens und Denkens wird sie zu einem wichtigen Teil der persönlichen Identität. Die Muttersprache ist ein wesentlicher Teil der Identität. Deshalb sollten wir die Kompetenzen in der Mutter- oder Herkunftssprache fördern.
Die Forschung zeigt uns, dass Mehrsprachigkeit auch die intellektuelle und sprachliche Entwicklung fördert. Sie entwickelt das metasprachliche Bewusstsein, das das Erlernen weiterer Sprachen erleichtert. Das bedeutet, dass mehrsprachige Menschen nicht nur ein Bewusstsein darüber haben, was sie sagen, sondern auch wie sie es sagen.
Mehrere Sprachen auf bildungssprachlichem Niveau zu beherrschen erleichtert den Zugang zum Arbeitsmarkt. In Zeiten des europäischen Binnenmarktes und der wachsenden beruflichen Mobilität in Europa wird Mehrsprachigkeit immer wichtiger. Vor einiger Zeit habe ich mich in der Türkei mit jungen, gut ausgebildeten Menschen unterhalten, die in Deutschland aufgewachsen sind und jetzt in der Türkei arbeiten. Eine wichtige Rolle bei der Entscheidung in die Türkei zu gehen, hat für sie der Umstand gespielt, dass ihre Deutschkenntnisse in der Türkei ein großes Plus auf dem Arbeitsmarkt sind, während ihre Türkischkenntnisse in Deutschland nicht als zusätzliche Kompetenz wahrgenommen werden. Daran müssen wir arbeiten.
Der Staat kann jedoch nicht flächendeckend Unterricht in den Herkunftssprachen der Migrantengruppen hier in Deutschland finanzieren. Das können wir in Zeiten knapper Ressourcen nicht leisten. Und es ist aus meiner Sicht auch richtig, dass wir bei staatlichen Sprachfördermaßnahmen das Hauptaugenmerk auf den Deutscherwerb richten. Deutsch ist die Bildungs- und Verkehrssprache.
Dennoch müssen wir überlegen, was der Staat dazu beitragen kann, dass Mehrsprachigkeit auch jenseits von Englisch und Französisch anerkannt wird – in Schulen, auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft. So sollten Sprachen wie Türkisch, Russisch etc. noch stärker in das Repertoire der Fremdsprachen an Schulen aufgenommen werden. Auch das ist ein Stück Anerkennungskultur.

Aktivitäten des Bundesamts im Bereich Sprachförderung
Deutsch gilt als im Vergleich zum Englischen oder Spanischen vor allem zu Beginn des Lernprozesses als relativ schwierig. Deshalb sind attraktive Angebote der Sprachförderung für alle Altersgruppen so wichtig. Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sind in den letzten Jahren zahlreiche Zuständigkeiten für die sprachliche Bildung erwachsener Zugewanderter gebündelt worden. Dadurch konnten bundesweit Qualitätsstandards im Bereich Deutsch als Zweitsprache für Erwachsene aufgestellt und umgesetzt werden. Die zwei Hauptsäulen im Erwachsenenbereich sind die Integrationskurse und die berufsbezogene Deutschförderung im Rahmen des ESF-BAMF-Programms. Im Integrationskurs vermitteln wir Sprachkenntnisse auf dem Niveau B1, das bedeutet, dass die meisten relevanten Alltagssituationen sprachlich ohne die Hilfe Dritter bewältigt werden können. 62 % der Prüfungsteilnehmer im Kurs erreichen dieses Sprachniveau, weitere 32 % das Niveau A2. Das ist ein großer Erfolg.
Neben dem 660-stündigen allgemeinen Integrationskurs gibt es noch 960-stündige Integrationskurse für spezielle Zielgruppen wie Frauen, Eltern, junge Erwachsene, Personen mit Alphabetisierungsbedarf, sowie Zuwanderern, die die deutsche Sprache über Jahre hinweg ungesteuert, aber fehlerhaft erworben haben (Förderkurs). Darüber hinaus kann der Integrationskurs als 430-stündiger Intensivkurs durchgeführt werden.
Seit 2009 wird der Integrationskurs ergänzt durch die berufsbezogene Deutschförderung (ESF-BAMF-Programm) zur schnellen und nachhaltigen Vermittlung der Teilnehmenden in den Arbeitsmarkt. Hier stehen die Themen Kommunikation am Arbeitsplatz sowie die Entwicklung der schriftsprachlichen Fertigkeiten im Mittelpunkt. Weitere wichtige Teile der Kurse sind Fachunterricht sowie ein Praktikum, in denen die im Kurs erworbenen Deutschkenntnisse angewendet werden können.
Sowohl die Integrationskurse als auch die Kurse im Rahmen des ESF-BAMF-Programms haben sich als wichtige Instrumente der Integrationspolitik in Deutschland etabliert: Mittlerweile haben rund 800.000 Teilnehmende einen Integrationskurs absolviert oder besuchen ihn gerade; bei den Kursen im Rahmen des ESF-BAMF-Programms liegt diese Zahl bereits bei über 90.000. Wir erproben jetzt bei unseren ESF-BAMF-Kursen erstmalig, diese Kurse bereits im Ausland starten zu lassen, etwa bei der Anwerbung von Ärzten.
Im Schulbereich hat das Bundesamt zusammen mit Partnern in den drei Bundesländern Niedersachsen, Bayern und Berlin von 2008-2011 das Modellprojekt „Ergänzender bildungssprachlicher Deutschunterricht an Hauptschulen“ durchgeführt. In diesem Projekt wurde erprobt, ob und in welchem Maß ein solcher Unterricht bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund zur Steigerung der Schulleistungen und so zu einer höheren Abschlussquote beitragen kann. Die von der Universität zu Köln durchgeführte Evaluation des Projektes zeigt, dass diese gelingen kann, wenn der ergänzende Sprachunterricht in den Schulablauf integriert ist und durch Regelschullehrkräfte erteilt wird. Im Rahmen dieses Projektes sind zwölf umfangreiche Lernangebote zur sprachlichen und fachlichen Förderung von Schülerinnen und Schülern entstanden, die in Kürze auf unserer Internetseite veröffentlicht werden.
Für die sprachliche Erstintegration von schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen sind die Länder verantwortlich. Sie haben eine Reihe von Maßnahmen auf diesem Gebiet gestartet. Es mangelt uns weniger an Ideen und Programmen als an einer einheitlichen, bundesweiten Umsetzung. In meinen Augen ist der Föderalismus hier wenig hilfreich, aber darüber mag man geteilter Meinung sein.
Um hier zu einer Vereinheitlichung und Standardisierung zu kommen, haben das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und die Zentralstelle für das Auslandsschulwesen beim Bundesverwaltungsamt eine gemeinsame Initiative für eine Erstintegration für die ganze Familie gestartet: Mit Blick auf die Kinder schlägt die Zentralstelle dabei die Implementierung des Deutschen Sprachdiploms der Kultusministerkonferenz in allen Bundesländern vor, das Bundesamt ergänzt durch Sprachförderangebote für Eltern.
Ob dieser Vorschlag aufgegriffen wird, wird sich zeigen. Eines jedoch ist sicher: Sprachförderung bleibt auch künftig wichtig. Und wir müssen dabei sowohl die Förderung des Deutschen als auch die Wertschätzung der Mehrsprachigkeit im Auge behalten.
Ideen und Aktivitäten wie das Sprachfest, das wir heute feiern oder der Verbund Kölner Europäischer Grundschulen sind wichtige Bausteine dabei. 