Interkulturelles Europäisches Sprachenportfolio: Mehrsprachigkeit und interkulturelle Erfahrungen der Grundschulkinder nutzen

Interkulturelles Europäisches Sprachenportfolio: Mehrsprachigkeit und interkulturelle Erfahrungen der Grundschulkinder nutzen

von Rosella Benati • Artikel im ZMI Magazin 2013, S. 22

Heutzutage kommen Kinder schon sehr früh mit mehreren Sprachen in Kontakt. Das sind nicht nur die verschiedenen Familiensprachen, sondern auch Fremdsprachen, denen sie im Alltag oder in den Ferien begegnen, und dann noch die verschiedenen Formen des Deutschen, wie z.B. das Kölsche. Wie kann man diese Erfahrungen der Grundschülerinnen und -schüler im Unterricht nutzen? Wie können sie selbst ihre Potentiale in der Hinsicht wahrnehmen und weiterentwickeln? Mit diesen Fragen beschäftigt sich seit 2011 eine Gruppe von 10 Lehrerinnen und Lehrern, die das interkulturelle europäische Sprachenportfolio entwickelt. Über dieses spannende Thema unterhalten wir uns mit Maja Scheerer, Lehrerin an der KGS Zugweg in Köln, die das Portfolio mitentwickelt, und mit Prof. Dr. Magdalena Michalak von der Universität zu Köln, die das Projekt wissenschaftlich begleitet.

Rosella Benati: Frau Scheerer, wie ist die Idee dieses Sprachenportfolios entstanden?
Maja Scheerer: Multinationale Klassen sind im Kölner Raum der Normalfall in den Grundschulen. Da stellt sich doch die Frage, wie wir diese Mehrsprachigkeit der Schüler und der Klassen in die Arbeit mit einbeziehen und die interkulturelle Kompetenz der Kinder fördern können. Die Kinder sollen erfahren, dass ihre sprachlichen Kompetenzen etwas wert sind, indem sie diese in den Unterricht einbringen. Dies geschieht in den ganz normalen multinationalen Klassen, aber besonders auch in den bilingualen Klassen. In Köln haben wir sieben Grundschulen mit bilingualem Zweig, für Italienisch, Türkisch, Spanisch, Französisch und Englisch. In einer Arbeitsgruppe der deutsch-italienischen Grundschulen entstand die Idee, ein eigenes, zweisprachiges europäisches Sprachenportfolio mit interkulturellem Schwerpunkt zu entwickeln, das ab der ersten Klasse eingesetzt werden kann und so konzipiert ist, dass es nach Übersetzung für alle Herkunftssprachen verwendet werden kann.
Rosella Benati: Portfolio ist ja inzwischen ein Modebegriff in der Pädagogenszene. Was ist das überhaupt?
Prof. Michalak: Der Begriff Portfolio stammt aus dem Italienischen und bedeutet so viel wie „tragbare Blätter (tragen – it. „portare“, Blatt – it. „foglio“). Es handelt sich also um eine Dokumentensammlung, die ständig erweitert wird. Portfolios haben ihren Ursprung im Bereich der Kunst und Architektur – in diesen Bereichen wurden sie schon in der Renaissancezeit genutzt. Mithilfe der handlichen und mobilen Portfolios konnten Künstler und Architekten ihre gesammelten Arbeiten bzw. die Skizzen und Entwürfe gebündelt zur Schau stellten. Dabei sollten die Portfolios sowohl die Fähigkeiten und Qualitäten dokumentieren als auch deren (Weiter-)Entwicklung im Laufe der Zeit. Diese Eigenschaften der ursprünglichen Portfolios sind der Grund für die Übernahme des Portfoliokonzepts in anderen Bereichen, z.B. in der Bildung.
Rosella Benati: Es ist also eine Mappe mit verschiedenen Arbeiten zu einem bestimmten Thema?
Prof. Michalak: Das kann man so sagen. Allerdings werden diese Arbeiten nicht bloß zusammengestellt. Denn zur Portfolioarbeit gehören vier Komponenten: Dokumentieren – Sortieren und Auswählen – Reflektieren – Kommunizieren. Das bedeutet, dass die Schülerinnen und Schüler zuerst die Arbeiten sammeln und bewusst diese auswählen sollen, die für ihren Entwicklungsprozess ausschlaggebend sind. So können sie über ihre Stärken und Schwächen reflektieren und sich dann mit den anderen Lernenden, mit der Lehrkraft oder mit Eltern und Geschwistern austauschen. Hier stehen also die Eigeninitiative und der bewusste Lernprozess im Fokus, die Teile der neuen Lernkultur sind. Dabei werden nicht einfach nur die Produkte der Arbeit, sondern auch der Prozess, die eigene Entwicklung wahrgenommen und so auch bewertet. Der Lehrer übernimmt hier auch eine andere Rolle – er ist der Lernberater und -begleiter. Diesen Paradigmenwechsel beinhalten auch die neuen Richtlinien und Lehrpläne.
Rosella Benati: Das sind ambitionierte Ziele. Ist aber Portfolioarbeit in der Form mit Grundschulkindern überhaupt möglich?
Maja Scheerer: Das ist für uns eben die große Herausforderung. Bei der Arbeit mit mehreren Sprachen müssen wir auch berücksichtigen, dass die Kinder zwischen den Sprachen umschalten. In ihren Texten benutzen sie die Sprache, die ihnen gerade passt. Die Ergebnisse solcher Arbeit im Unterricht können manchmal sehr überraschend sein (vgl. Abb. 1 „Speisen und Getränke“, Beispiel aus einem zweiten Schuljahr). Außerdem lernen die Grundschulkinder in der ersten und zweiten Klasse gerade lesen und schreiben. So können die Aufgaben nicht textlastig sein, sie müssen den Kindern die Möglichkeit geben, sich auf eine andere Weise auszudrücken – z.B. durch Collagen oder Malen. Die drei Teile eines europäischen Sprachenportfolios sind jedoch vorgegeben: Erstens die Sprachenbiographie als Dokumentation über das eigene Sprachenlernen, zweitens das Dossier als Sammlung von Material, das den Prozess des Sprachenlernen verdeutlicht und das wir in Form einer Schatzkiste eingeführt haben, und drittens der Sprachenpass, der am gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GER) orientiert ist. Besonders der Bereich der Sprachenbiographie verlangt bereits eine fortgeschrittene schriftsprachliche Kompetenz. Wir versuchen nun, einerseits den Vorgaben für ein europäisches Sprachenportfolio gerecht zu werden, andererseits dabei die Möglichkeiten der Kinder entsprechend ihres Alters zu berücksichtigen. Diese Problematik sieht man auch, wenn man sich andere Portfolios für Grundschulkinder anschaut.
Rosella Benati: Das heißt, es gibt schon Sprachenportfolios für Grundschulkinder. Warum haben Sie nicht eines der vorhandenen Portfolios für Ihre Zwecke genutzt?
Maja Scheerer: Es gibt bereits zwar viele Sprachenportfolios, in der Regel sind diese aber erst für Schülerinnen und Schüler weiterführender Schulen gedacht und eher auf den Fremdsprachenerwerb bezogen. Für den Grundschulbereich liegen nur wenige Exemplare vor. Das für NRW vorgesehene Sprachenportfolio ist erst ab Klasse drei und speziell für den Englischunterricht gedacht. Bei uns gibt es jedoch nicht nur den Englischunterricht, sondern bilinguale Klassen, in denen die Kinder verschiedenste Herkunftssprachen auf unterschiedlichen Niveaus mitbringen – was (besonders in Köln) auf alle multinationalen Klassen zutrifft. Zwei der vorhandenen europäischen Sprachenportfolios kamen unseren Vorstellungen schon sehr nahe: Eins aus Bozen, das jedoch erst ab Klasse vier gedacht ist, und eins aus Graz, das zwar ab Klasse eins gedacht ist, aber nur auf Deutsch gehalten ist und den interkulturellen Gedanken nur als einen kleinen Teil der Sprachenbiographie beinhaltet. Diese Lücke möchten wir füllen und mit unserem Portfolio unbedingt auch die jüngsten Grundschulkinder mit ihren zahlreichen Erfahrungen erreichen.
Rosella Benati: Was ist also anders in dem Kölner Portfolio? Inwiefern unterscheidet es sich inhaltlich von den anderen?
Maja Scheerer: Uns ist es wichtig, dass die verschiedenen Herkunftssprachen unserer Schülerinnen und Schüler Berücksichtigung finden. Wie vielfältig eine Woche unserer Schüler sprachlich betrachtet aussehen kann, verdeutlicht das Beispiel einer ausgefüllten Sprachenwoche eines Zweitklässlers (vgl. Abb. 2). Ebenso wichtig ist uns ein möglicher Einsatz ab dem ersten Schuljahr, so dass in der Grundschule kontinuierlich damit gearbeitet werden kann, jedoch nicht in Form eines separaten Lehrwerkes, sondern unterrichtsbegleitend mit Themen aus der Lebenswirklichkeit der Kinder, z.B. Speisen und Getränke, Spiele, Sitten und Bräuche, Märchen usw. Dies alles soll aus einem interkulturellen Blickwinkel geschehen, um den Kindern einerseits das Zurechtfinden in fremdkultureller und fremdsprachlicher Umgebung zu erleichtern, andererseits sollen sie ermutigt werden, persönliche Erfahrungen im Kontakt mit anderen Kulturen zu dokumentieren. Wichtig ist hierbei jedoch nicht nur die Dokumentation im Portfolio, sondern der Austausch der Kinder untereinander, der Vergleich mit anderen, die Diskussionen, die dadurch entstehen.
Rosella Benati: In diesem Projekt kooperieren Sie mit Frau Prof. Michalak aus dem Institut für Deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln. Was bringt diese Zusammenarbeit?
Maja Scheerer: Wir sind sehr dankbar, dass Frau Prof. Michalak sich bereit erklärt hat, die Evaluation zu übernehmen und uns mit ihren Erfahrungen jederzeit beratend zur Seite steht. Ihre Evaluationsergebnisse können wir direkt bei der Weiterarbeit berücksichtigen und so zielgerichteter arbeiten, was die Motivation erhält, dieses Projekt neben den alltäglichen Verpflichtungen in unserem Lehrberuf fortzusetzen.
Prof. Michalak: Ich begleite das Projekt wissenschaftlich und berate sowohl die „Portfolioentwickler“ als auch die Lehrkräfte, die uns bei der Erprobung des Kölner Portfolios unterstützen. Ich evaluiere das Portfolio, damit es optimal weiterentwickelt werden kann. Dafür befragen wir nicht nur die Lehrkräfte, sondern auch die Schülerinnen und Schüler. Wir analysieren auch die entstandenen Schülertexte, die – wie Sie selbst an den Beispielen sehen können – für uns sehr aufschlussreich sind.
Rosella Benati: Heißt es, dass hier Praxis die Wissenschaft trifft? Dass beide Seiten davon profitieren?
Prof. Michalak: Absolut. Hier ist insbesondere das große Engagement der Lehrkräfte hervorzuheben, die selbst in ihrer Freizeit an dem Portfolio arbeiten. Auf der einen Seite fließen ihre Erfahrungen und selbst erarbeiteten Vorschläge aus dem eigenen Unterricht, auf der anderen Seite die Erkenntnisse der Evaluation in das neu entstehende Portfolio mit ein. Für die Wissenschaft bedeutet es u.a. neue Lernarrangements erproben zu können. Es ist auch interessant zu untersuchen, welche methodischen Vorgehensweisen bei Untersuchungen mit Grundschülerinnen und -schülern möglich sind. Bei Befragungen sagen die Kinder oft, dass es ihnen alles gut gefallen hat. So entsteht für uns die Frage, wie wir sie dazu animieren können, auch kritische Anmerkungen zu äußern, ohne sie dabei zu beeinflussen.
Rosella Benati: Wie ist der Stand der Dinge jetzt?
Maja Scheerer: Das Material für die Klassen eins und zwei wurde im vergangenen Schuljahr erprobt und wird nun anhand der Evaluationsergebnisse überarbeitet, das Material für die Klassen drei und vier wird im laufenden Schuljahr erprobt und evaluiert. Eine Lehrerhandreichung muss noch verfasst, und der Sprachenpass noch entwickelt werden.
Rosella Benati: Vielen Dank für das Interview. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei der weiteren Arbeit!