Rede von Anton Rütten
Leiter der Abteilung Integration im Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen
anlässlich der Veranstaltung „Mehrsprachigkeit im Gespräch“ am 25.10.2012 • Artikel im ZMI Magazin 2012, S. 28
Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Scho-Antwerpes,
sehr geehrter Herr Keltek,
sehr geehrte Herren Abgeordnete Ünal und Kossiski,
sehr geehrte Ratsfrau Schmerbach,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich darf Sie sehr herzlich von Minister Guntram Schneider grüßen. Er bedauert es sehr, dass er für heute aus dringenden Gründen absagen musste. Ich habe seine Vertretung sehr gerne übernommen. Allerdings rede ich heute in der Vertretung weniger des Integrations-, sondern mehr des Arbeitsministers Schneider. Denn der Veranstalter hat in erster Linie um eine Bewertung der Mehrsprachigkeit aus arbeitsmarktpolitischer Sicht gebeten. Insofern profitiere ich heute von der Arbeit meiner Kolleginnen und Kollegen aus der Abteilung Arbeit und Qualifizierung unseres Hauses.
„Niemand darf wegen (…) seiner Sprache (…) benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Dieser Gedanke ist in unserem Grundgesetz verankert. Im dortigen Artikel 3 heißt es vollständig: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“
Wir stellen aber im Alltag fest, dass die Realität leider anders aussieht und dass Sprache praktisch häufig zu Benachteiligungen führt. Zwar handelt es sich dabei in den allerseltensten Fällen um Akte gezielter, absichtlicher Diskriminierung. Aus der Sicht der Betroffenen aber hilft das wenig. Sie erfahren solche Benachteiligungen – ob intendiert oder nicht. Nun soll es heute nicht in erster Linie um Benachteiligung gehen, sondern um Potenziale.
Wir gehen auch nicht von der Anerkennung der einen Sprache des Einzelnen aus, sondern von der Wertschätzung der Mehrsprachigkeit – also mindestens der Zweisprachigkeit von Individuen oder auch von Organisationen als Kollektiv von Individuen.
Schließlich reden wir weniger von der mangelnden Wertschätzung der universitär vermittelten Mehrsprachigkeit Hochqualifizierter. Denn in diesem Kontext wird mehrsprachig mit polyglott übersetzt, was einer akademischen Adelung gleichkommt.
Wir reden vielmehr von der natürlichen Mehrsprachigkeit, von der durch und in Familie und durch und in Nachbarschaft und sozialer Umgebung vermittelten Fähigkeit, sich in zwei oder mehr Sprachen im Alltag verständigen zu können.
Und diese natürliche Mehrsprachigkeit eignet vor allem Menschen mit Migrationshintergrund. Natürliche Mehrsprachigkeit als Zukunftspotenzial, als in kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht relevante Ressource und nicht als Integrationshindernis zu verstehen – das ist heute unser Thema.
Beinahe ein Viertel der Bevölkerung in NRW hat einen Migrationshintergrund. Das sind 4,2 Millionen Menschen. Etwa so viele, wie Hamburg, Bremen und das Saarland zusammen als Gesamtbevölkerung haben. Und die allermeisten der Menschen mit Migrationshintergrund verfügen über das Potenzial der mehr oder weniger gepflegten natürlichen Mehrsprachigkeit. Das ist schon alleine aus quantitativer Sicht ein erhebliches Potenzial. Erst recht in einer alternden und schrumpfenden Gesellschaft, die im ökonomischen Wettstreit mit anderen Volkswirtschaften steht.
Allerdings zeigen die Zahlen ganz deutlich, dass die Mehrsprachigkeit dieser Gruppe auf dem Arbeitsmarkt kaum als Ressource verstanden, genutzt und gefördert wird. Denn die natürlichen Mehrsprachler sind bei der Arbeitsmarktintegration in hohem Umfang benachteiligt:
Ihre Erwerbstätigenquote liegt mehr als 20 Prozentpunkte unterhalb der Nicht-Migrantinnen,
sie arbeiten deutlich häufiger in schlechtbezahlten und schlecht abgesicherten Beschäftigungsverhältnissen und die Erwerbslosenquote ist doppelt so hoch.
Dabei rühmen wir uns Exportweltmeister zu sein. Da sollte Mehrsprachigkeit doch einen Wettbewerbsvorteil auf dem Arbeitsmarkt darstellen. Mit etwa zwei Millionen Muttersprachlern ist Türkisch am stärksten vertreten. Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Türkei und der größte Lieferant von Industrie- und Investitionsgütern. Da müsste man doch meinen, dass mehrsprachige Beschäftigte händeringend gesucht werden. Ähnliches gilt für russische, polnische, arabische Muttersprachler oder auch Muttersprachler aus afrikanischen Sprachgebieten.
Offensichtlich beherzigt heute niemand mehr die alte Kaufmannsweisheit: „Willst Du etwas verkaufen, sprich am besten die Sprache deines Kunden.“
Aber es ist wissenschaftlich nachgewiesen. Die zur Zweitsprache zusätzliche Beherrschung der Muttersprache bringt auf dem Arbeitsmarkt offenbar nicht sehr viel.
Unter den Arbeitsuchenden im SGB II haben Migrantinnen und Migranten besondere Schwierigkeiten bei der Integration in den Arbeitsmarkt. In NRW liegt ihr Anteil bei rund 27 %. Einen ähnlich hohen Migrantenanteil weisen bundesweit lediglich die Stadtstaaten auf.
Dies macht deutlich, dass Migranten bei uns in Nordrhein-Westfalen einen wesentlichen Teil des noch nicht ausgeschöpften Beschäftigungspotenzials darstellen. Diese Menschen verstärkt in den Arbeitsmarkt zu integrieren ist aber nicht nur eine ökonomische Frage. Die berufliche Integration ist Voraussetzung für die gesellschaftliche Teilhabe von Zuwanderern. Gerade wegen ihres hohen Anteils an den Langzeitarbeitslosen ist sie darüber hinaus ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung in NRW.
Den wichtigsten Schlüssel zum Arbeitsmarkt bilden schulische und berufliche Qualifikationen. Dies gilt grundsätzlich für alle Menschen, die eine berufliche Tätigkeit anstreben. Für die sehr heterogene Personengruppe der Migranten im Regelkreis des SGB II – also im Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende – gilt jedoch in ganz besonderem Maße, dass schulische und berufliche Qualifikationen – aus den unterschiedlichsten Gründen – häufig nur begrenzt vorhanden sind.
Die meisten Menschen mit Migrationshintergrund sind noch immer Bildungsbenachteiligte. Für diese Tatsache sind viele Faktoren verantwortlich – aber Defizite im Deutschen sind wohl der meistgenannte.
Insofern müssen wir uns im Klaren darüber sein, dass wir in die Kompetenzen der Betroffenen investieren müssen, damit sie Zugang zum Arbeitsmarkt finden. Und dabei muss – dass sagen die allermeisten Wissenschaftsexperten – die Familiensprache als Potenzial und Chance und nicht, wie das noch meist in der Praxis geschieht, als Hindernis gesehen werden.
Gerade auch dann, wenn die Perspektive am Arbeitsmarkt nicht dauerhaft der Niedriglohnsektor sein soll. Denn damit würden wir langfristig weder den Bedarfen der Unternehmen, noch den vorhandenen individuellen Potenzialen der Menschen mit Migrationshintergrund gerecht werden.
Eine wesentliche Voraussetzung für den Aufbau von Qualifikationen ist die Beherrschung der deutschen Sprache. Die Vermittlung von Wissen und die Anwendung erworbener Kompetenzen setzt dies zwingend voraus. Daher kommt der Organisation der berufsbezogenen Sprachförderung von bereits länger hier lebenden Zugewanderten bei der Heranführung von Migrantinnen und Migranten an und ihrer Integration in den Arbeitsmarkt eine herausragende Bedeutung zu. Denn nur durch Lernen und Fördern kann die Chance der natürlichen Mehrsprachigkeit als beschäftigungsrelevante Kompetenz entwickelt und genutzt werden.
Die entsprechenden Angebote zur berufsbezogenen Sprachförderung sind auf der Bundesebene in den letzten Jahren erweitert worden. Das Arbeitsministerium begrüßt dies ausdrücklich. Allerdings ist auch wertvolle Zeit für die Durchführung von Sprachkursen in NRW verlorengegangen. Denn der Bund hat es in den ersten Jahren nicht geschafft, für eine reibungslose Abwicklung zu sorgen.
Unsere intensiven Gespräche mit den Jobcentern haben aber gezeigt, dass Handlungsspielräume im Zuge der Instrumentenreform durch den Bund wieder eingeschränkt worden sind. Das betrifft vor allem die individuelle Kombination von Qualifizierung und berufsbezogener Sprachförderung. Unser Haus hält dies für nicht akzeptabel. Wir können es uns nicht leisten, in dieser wichtigen Frage immer wieder einen Schritt zurückzugehen.
Die beiden die Regierung stellenden Parteien SPD und Grüne haben sich diesbezüglich in ihrem Koalitionsvertrag das Ziel gesetzt, über den Weg der Zielvereinbarung mit den Jobcentern das Ziel der nachhaltigen und existenzsichernden Integration von Menschen mit Migrationshintergrund verbindlich festzuschreiben.
Dazu gehört für Minister Schneider insbesondere, dass die Jobcenter Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung in Kombination mit berufsbezogener Sprachförderung in der Form anbieten können, wie es zur Integration der Menschen individuell notwendig ist.
In diesem Zusammenhang prüfen wir zurzeit, in- wieweit das MAIS NRW Impulse im Bereich der berufsbezogenen Sprachförderung geben kann. Impulse, die mit einer besseren Nutzung oder auch der Ergänzung vorhandener Angebote berufsbezogener Sprachförderung einhergehen sollten. Die Kollegen aus der Abteilung Arbeit und Qualifizierung stehen hierzu in intensiven Gesprächen mit der Regionaldirektion NRW der Bundesagentur für Arbeit, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und den Jobcentern. Sie sind zuversichtlich, dass unser Ministerium im Ergebnis der Gespräche einen sinnvollen Beitrag zur Verbesserung der Angebote berufsbezogener Sprachförderung wird leisten können.
Dies ist aber nur die eine Seite der Medaille. Zahlreiche Migrantinnen und Migranten, die schon bei uns leben oder die sich ein Leben in Deutschland vorstellen können, sind hoch qualifiziert. Bereits jetzt leben in NRW schätzungsweise 60.000 – 80.000 Einwanderinnen und Einwanderer, die über qualifizierte Berufsabschlüsse verfügen, welche hierzulande nicht anerkannt sind. Darunter sind auch Fachkräfte, die dringend gebraucht werden.
Aber bislang gab es kein einheitliches Verfahren, wie diese Qualifikationen anerkannt werden. Daher mussten viele, statt in ihren Berufen, als Taxifahrerinnen und -fahrer, als Reinigungskräfte oder als Kellnerinnen und Kellner arbeiten. Fast jeder vierte Erwerbstätige mit Zuwanderungsgeschichte ist unterhalb seines Ausbildungsniveaus beschäftigt. Bei den Nicht-Migranten ist es nur jeder Zehnte.
Nach dem Anerkennungsgesetz des Bundes (in Kraft ab 1. April 2012), das in erster Linie die Handwerksberufe und die IHK-Berufe betrifft, z.B. Maurer und Industriekaufleute, aber auch Ärzte, sind nun die Länder aufgefordert, auch die Anerkennung landesrechtlich geregelter Berufe, wie z.B. Ingenieure, Architekten oder Erzieher, gesetzlich zu regeln.
NRW legt jetzt als erstes Flächenland einen Landesgesetzentwurf vor, der in diesen Tagen in die parlamentarische Beratung geht.
165 Berufe werden von unserem Landesanerkennungsgesetz Nordrhein-Westfalen erfasst. Durch den Entwurf möchten wir ein klares, einheitliches und faires Verfahren definieren, das zu einer raschen und systematischen Berufsanerkennung führt. Dazu gehört auch die Garantie für die Betroffenen, dass das Anerkennungsverfahren innerhalb von drei Monaten abgeschlossen ist.
Wir sind davon überzeugt, dass Menschen, die in der Lage sind, sich in vielen Sprachen zu verständigen, Impulsgeber für den Arbeitsmarkt und Schrittmacher für die Integration von Menschen sein können. Denn das „Nichtverstehen“ von Menschen wird immer zu Missverständnissen führen.
Gefährlich werden Missverständnisse dann, wenn sie zu Fehlern führen können. Beispielsweise im Verhältnis von Pflegern und Patienten. Das Anerkennungsgesetz Nordrhein-Westfalen, welches das MAIS nun vorgelegt hat, definiert daher ein Verfahren, um eine faire Chance auf Anerkennung zu erhalten. Allerdings stellen wir die bisherigen fachlichen Vorgaben und damit die Qualität der deutschen Ausbildung nicht in Frage und weichen diese Standards nicht auf. Und ein bedeutender Baustein ist dabei die Beherrschung der deutschen Sprache. Verstehen ist wesentlich. Im privaten aber auch im beruflichen Miteinander.
Wir setzen uns aber auch zum Ziel, Migrantinnen und Migranten auf dem Weg zum Anerkennungsverfahren nicht alleine zu lassen und weite Wege zu verhindern.
Dazu werden wir die leicht zugängliche Struktur der „Beratungsstellen zur beruflichen Entwicklung“ – die bislang Beratungen zum Bildungscheck vor Ort vornehmen – nutzen und ausbauen.
Migrantinnen und Migranten sollen dort nicht nur zum Anerkennungsverfahren, sondern auch im Hinblick auf alternative berufliche Entwicklungsmöglichkeiten beraten werden, wenn eine Anerkennung nicht sinnvoll erscheint.
Ist ein Anerkennungsverfahren nicht sinnvoll, weil beispielsweise die Qualifikationen wegen des technischen Fortschritts nicht mehr nutzbar sind, entwickeln die Beraterinnen und Berater gemeinsam mit den Ratsuchenden neue Wege, indem den Migrantinnen und Migranten geholfen wird, ihre Kompetenzen und Fähigkeiten kennenzulernen und so eine neue berufliche Perspektive zu entwickeln.
Das Angebot der Beratung reicht dabei von praktischen Kompetenzfeststellungsverfahren bis hin zum Kontaktaufbau mit Anbietern von Nachqualifizierungsmaßnahmen, falls im Anerkennungsverfahren Qualifikationslücken festgestellt wurden.
Das Anerkennungsgesetz im Bund und auf Länderebene ist aber nur ein Baustein hin zu einer ehrlichen Gestaltung von Einwanderungswirklichkeit in Deutschland. Diese zu erreichen, muss nach wie vor unser Ziel sein. Dazu gehört auch Mehrsprachigkeit als Potenzial gerade auch auf dem Arbeitsmarkt zu begreifen und nicht als Stolperstein auf dem Weg zu beruflicher und gesellschaftlicher Integration.
Das hat auch seinen Ausdruck gefunden im Gesetz zur Förderung der Teilhabe und Integration in Nordrhein-Westfalen, das der Landtag im Februar d. J. ohne Gegenstimmen verabschiedet hat.
Dort heißt es im § 2 „Grundsätze“ Abs. 3: „Die Wertschätzung von natürlicher Mehrsprachigkeit ist ebenfalls von besonderer Bedeutung.“ Aus dieser Norm ergibt sich kein unmittelbarer Rechtsanspruch. Aber sie stellt eine prinzipielle Leitorientierung dar, an der sich politisches Handeln in den unterschiedlichsten landespolitischen Handlungsfeldern künftig ausrichten soll.
Konkreter wird es dann aber im § 8, der sich auf Integration durch Beruf und Arbeit bezieht. Hier heißt es im Absatz 2., dass bei der Förderung der Ausbildungs- und Beschäftigungsfähigkeit der Menschen mit Migrationshintergrund deren Kompetenzen „wie Mehrsprachigkeit und berufliche Qualifikation aus dem Herkunftsland“ einzubeziehen sind.
An der Erfüllung dieser Norm muss und wird sich unser Ministerium als Arbeits- und als Integrationsressort künftig messen lassen.
Wir wissen, dass wir in Köln, im Integrationsrat und in der Verwaltung, in der Hochschule, Wirtschaft und bei den Trägern der beruflichen Qualifizierung und der Integrationsarbeit innovative und engagierte Partner haben.
Dafür und für Ihre Aufmerksamkeit bedanke ich mich.