Entwicklung und Förderung von natürlicher Mehrsprachigkeit: Deutsch plus Herkunftssprache
– kein (zu) ehrgeiziges Bildungsziel für Kinder aus Familien mit Zuwanderungsgeschichte!
von Prof. Dr. Gesa Siebert-Ott • Artikel im ZMI Magazin 2009, S. 6
Einführung: Das Interesse an mehrsprachiger Erziehung wächst
Dafür, dass eine frühe mehrsprachige Erziehung in Familie und Schule erfolgreich möglich ist, gibt es inzwischen so zahlreiche empirische Belege, dass ausgewiesene Fachleute auf dem Gebiet der Spracherwerbsforschung zu der Auffassung gelangt sind, dass wir es hier mit einer natürlichen Veranlagung zum Sprachenlernen zu tun haben und nicht mit einer besonderen Begabung einzelner Kinder (vgl. etwa Meisel 2007; Tracy 2007a). Viele Eltern, die unterschiedliche Erstsprachen sprechen, entscheiden sich heute ganz bewusst für eine zweisprachige Erziehung ihrer Kinder bereits ab der frühesten Kindheit. Hierzu werden sie durch eine wissenschaftlich fundierte Ratgeberliteratur ausdrücklich ermutigt (vgl. etwa Tracy 2007b; Leist-Villis 2008). In der Vergangenheit fanden diese Familien häufig keine Bildungsangebote für ihre Kinder, die ihr Bemühen um eine zweisprachige Erziehung fachkundig unterstützen konnten. Diese Situation hat sich in den letzten Jahren grundlegend geändert. Dazu hat sicher auch das Interesse bildungsinteressierter einsprachig deutscher Eltern beigetragen, ihren Kindern eine fundierte mehrsprachige Bildung zu ermöglichen: Seit Ende der 1960er Jahre wurde in Deutschland zunächst an Gymnasien ein sehr attraktives Bildungsangebot entwickelt, in dem der Fremdsprachenunterricht durch Fachunterricht in der Fremdsprache ergänzt wurde (in internationalen Kontexten wird dieses Verfahren auch als Immersion bezeichnet). Dieses Angebot wurde aufgrund seiner auch in empirischen Studien nachgewiesenen Effektivität und aufgrund der Nachfrage aus der Elternschaft später auch auf andere Schulformen der Sekundarstufe I übertragen (vgl. hierzu bereits Wode 1995; Krechel 2005; Siebert-Ott 2008). Auch wenn das Privatschulwesen in Deutschland nicht so verbreitet ist wie in vielen Nachbarländern, so sind doch Tendenzen klar erkennbar, solche Angebote durch eine fundierte mehrsprachige Erziehung sowie die Möglichkeit, internationale Abschlüsse zu erwerben, insbesondere für Familien mit hoher beruflicher Mobilität attraktiv zu machen.
Inzwischen wird an öffentlichen wie an privaten Schulen die Lücke zwischen zweisprachiger Erziehung in der Familie und bilingualen Bildungsangeboten in der Sekundarstufe I und II zunehmend durch grundständige bilinguale Angebote, die in der Grundschule oder bereits im Elementarbereich einsetzen, geschlossen (für eine Übersicht vgl. etwa www.fmks-online.de sowie die Bildungsserver der Bundesländer). Bei den angebotenen Sprachenkombinationen gibt es erkennbare Präferenzen, die unter anderem aus lokalen Gegebenheiten erklärt werden können: So ist es etwa ein erklärtes Ziel der Euroregionen, die Kompetenz in den Nachbarsprachen und das kulturelle Wissen über die Nachbarn sowie die interkulturellen Kompetenzen im Umgang miteinander insbesondere bei den nachwachsenden Generationen auf ein hohes Niveau zu heben (vgl. etwa www. fruehkindliche-mehrsprachigkeit.eu/).
Das Land Berlin hat aufgrund seiner besonderen Geschichte schon früh ein bilinguales Angebot mit den Sprachkombinationen Französisch, Russisch und Englisch eingerichtet. Inzwischen werden an den staatlichen Europa-Schulen Berlins (SESB) neun Sprachenkombinationen angeboten: Neben den bereits genannten sind dies Deutsch in Verbindung mit Griechisch, Italienisch, Polnisch, Portugiesisch, Spanisch und Türkisch. Aktuell nehmen 6.000 Schülerinnen und Schüler an 30 Grundund Oberschulen dieses Angebot wahr. Das Besondere an diesem Angebot ist, dass jeweils Kinder zweier Muttersprachen gemeinsam unterrichtet werden, in der Form, dass beide Muttersprachen jeweils auch als Unterrichtssprachen in einem Teil der Unterrichtsfächer verwendet werden. Diese auch als two way immersion bezeichnete Konzeption gilt international als besonders erfolgreich bei der Entwicklung einer hohen sprachlichen und fachlichen Kompetenz (vgl. hierzu schon Wode 1995). Die SESB versteht sich ausdrücklich nicht als sogenannte Eliteschule, sie ist konzipiert als Begegnungsschule für Kinder unterschiedlicher sprachlicher und auch unterschiedlicher sozialer Herkunft (www.berlin.de/sen/bildung/besondere_angebote/ staatl_europaschule/).
Vor dem hier skizzierten Hintergrund erstaunt es, dass das Ziel, Deutsch und zugleich die Familiensprache zu fördern, im Hinblick auf Kinder aus Familien mit Zuwanderungsgeschichte in öffentlichen Diskussionen häufig noch als ein zu ehrgeiziges Bildungsziel bezeichnet wird. Welche guten Gründe außer den bereits vorhandenen praktischen Erfahrungen auf diesem Gebiet sprechen dafür, dass dieses Ziel nicht zu hoch gegriffen ist und welche Erkenntnisse insbesondere aus der Spracherwerbsforschung und der internationalen Bildungsforschung können hier zum guten Gelingen beitragen?
„Deutsch plus Herkunftssprache“ – kein zu ehrgeiziges Bildungsziel für Kinder aus Familien mit Zuwanderungsgeschichte!
1. Unterricht in der Herkunftssprache steht der Entwicklung guter Kenntnisse im Deutschen nicht entgegen
Die These, dass die schulische Förderung der natürlichen Mehrsprachigkeit von Kindern mit Zuwanderungsgeschichte eine Verbesserung ihrer Fähigkeiten in der deutschen Sprache behindere, da der Unterricht in der Familiensprache dem Deutschunterricht Lernzeit wegnehme (vgl. etwa Hopf 2005), kann inzwischen als widerlegt gelten (Söhn 2005; Reich 2007). In der öffentlichen Diskussion um das Für und Wider einer mehrsprachigen Erziehung für Kinder aus Familien mit Zuwanderungsgeschichte wird die bildungspolitische Relevanz dieser Erkenntnis leider oft nicht ausreichend gewürdigt. Dies gilt auch für den Beitrag „Man spricht nicht nur Deutsch“ von Martin Spiewak in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT vom 16.02.2006. Aus diesem Beitrag soll hier etwas ausführlicher zitiert werden, da damit das Dilemma der öffentlichen Rezeption von Forschungsergebnissen zu der uns hier interessierenden Fragestellung gut charakterisiert werden kann: Doch bis heute gibt es keine einzige valide Untersuchung zum Thema. Daher stehen sich in der Wissenschaft zwei Fronten gegenüber. Die eine Fraktion argumentiert, Einwandererkinder lernten dann am besten Deutsch, wenn sie Lesen und Schreiben parallel in ihrer Muttersprache beigebracht bekommen.
»In der Muttersprache erlernt man die Grundbegriffe, den Zugang zur Welt, auf den die neuen Sprachen aufbauen«, sagt etwa der Sprachwissenschaftler Ludger Hoffmann von der Universität Dortmund. Alles reine Theorie, die wissenschaftlich niemals methodisch sauber belegt wurde, hält der Potsdamer Pädagoge Diether Hopf dagegen. Er führt die so genannte time on task-Theorie an, wonach der Lernerfolg umso größer ist, je mehr Zeit für ein Fach verwendet wird. Deshalb sei jede Minute Deutsch sinnvoller als eine Minute Türkisch. Kürzlich hat das Berliner Wissenschaftszentrum in einer so genannten Metastudie versucht, den Streit aufgrund internationaler Untersuchungen zur zweisprachigen Erziehung zu schlichten. Das Fazit: Weder gebe es Belege, dass die Instruktion in der Heimatsprache den Schulleistungen nützt, noch, dass sie ihnen schadet.
In dieser Kosten-Nutzen-Diskussion geht die Erkenntnis völlig unter, dass es in der zur Verfügung stehenden Lernzeit offenbar erfolgreich möglich ist, Schülerinnen und Schüler gute Kompetenzen in zwei Sprachen und zwar sowohl in der Alltagssprache als auch in der Bildungssprache zu vermitteln. Auf diesen Aspekt hat auch Cummins in seinen Publikationen immer wieder aufmerksam gemacht (vgl. dazu etwa die Textsammlung von Baker/ Hornberger 2001).
2. Natürliche Mehrsprachigkeit entwickelt sich in der Alltagskommunikation in einem gewissen Rahmen ‚wie von selbst’
Aus der einschlägigen Forschung ist bekannt, dass Kinder bereits früh mit unterschiedlichen Varietäten von Sprachen in Berührung kommen können, zu diesen Varietäten können Dialekte, mehr oder weniger dialektnahe Formen der Umgangssprache und standardnahe Formen der Umgangssprache gehören. Viele Kinder werden lange bevor sie selbst lesen können durch Vorlesen in der Familie, durch Hörbücher usw. mit Kinderliteratur vertraut gemacht. Auf die Bedeutung von Kinderliteratur nicht nur für die Lesesozialisation und die literarische Sozialisation, sondern auch für die sprachliche Sozialisation wird in der internationalen Forschung bereits seit geraumer Zeit verwiesen: Das gilt besonders für die Wortschatzentwicklung, die Entwicklung des grammatischen Wissens, die Entwicklung phonologischer Bewusstheit, das Kennenlernen bestimmter Textmuster und die Entwicklung von Erzählfähigkeit (vgl. hierzu bereits Hurrelmann 1994 und zahlreiche weitere Arbeiten; für einen Überblick auch Siebert-Ott 2006).
Unabhängig davon, ob Kinder in einem schriftnahen oder in einem schriftfernen Umfeld aufwachsen, ob ihre Familien über ein hohes oder über ein niedriges „kulturelles Kapital“ verfügen, gilt aber für alle diese Kinder im Hinblick auf den Erwerb grammatischen Wissens die Erkenntnis der Spracherwerbsforschung, dass der monolinguale Erstspracherwerb bis auf Ausnahmefälle immer erfolgreich (stabil) und im Verlauf gleichförmig (uniform) ist, d. h., beim Erwerb bestimmter grammatischer Phänomene, wie z. B. beim Erwerb von grundlegenden Wortstellungsmustern einer Sprache, sind in den Erwerbsverläufen erstaunliche Übereinstimmungen beobachtbar (vgl. Meisel 2007). Inzwischen konnte die empirische Spracherwerbsforschung zeigen, dass dies grundsätzlich auch für den bilingualen Erstspracherwerb gilt: Die Erwerbsverläufe von Kindern, die von einem frühen Lebensalter an in der Familie zweisprachig erzogen werden, weisen erstaunliche Ähnlichkeiten mit den Erwerbsverläufen einsprachiger Kinder auf. Entgegen früherer Annahmen sind diese Kinder schon früh in der Lage, beide Sprachen voneinander zu trennen, auch wenn durchaus Interferenzen und Transfererscheinungen beobachtbar sind. Der Transfer (die Übertragung) sprachlicher Muster von der einen auf die andere Sprache kann sowohl zu einer Verlangsamung als auch zu einer Beschleunigung der sprachlichen Entwicklung im Vergleich mit einsprachig aufwachsenden Kindern führen. Oft kommt es zur Entwicklung einer dominanten Sprache, die Dominanz kann – abhängig von der Quantität und der Qualität des sprachlichen Angebots – wechseln; dagegen scheinen Transfererscheinungen nicht mit der Dominanz einer Sprache, sondern mit strukturellen Eigenschaften der zu erwerbenden Sprachen zusammenzuhängen (vgl. für einen Überblick Kniffka/SiebertOtt 2008; Meisel 2007; Müller u. a. 2007; Tracy 2007a, 2007b).
Neuere Untersuchungen zum frühen Zweitspracherwerb zeigen, dass bestimmte Erwerbsaufgaben noch genauso gemeistert werden können wie im monolingualen und bilingualen Erstspracherwerb: Kinder, die im Alter von drei bis vier Jahren erstmals in nennenswertem Umfang in der Kindertagesstätte mit Deutsch in Kontakt kamen, konnten sogar die Erwerbsaufgaben in der Zweitsprache in bestimmten Bereichen, wie etwa dem Erwerb der grundlegenden Wortstellungsmuster und der Kongruenzbeziehung zwischen Subjekt und Verb, in verkürzter Zeit bewältigen und mit ihren einsprachigen Altersgenossen gleichziehen. Auch eine muttersprachenähnliche Aussprache kann in diesem Alter offenbar noch mühelos erworben werden. Für andere sprachliche Bereiche, wie den korrekten Gebrauch von Artikeln, von unregelmäßigen Verbformen und die Entwicklung eines differenzierten Wortschatzes scheint das aber nicht ohne Weiteres zu gelten. Ggf. müssen schon in diesem Alter natürliche Erwerbsprozesse durch eine gezielte Förderung unterstützt werden (vgl. etwa Thoma/Tracy 2006; Tracy 2007a). Wichtig zu wissen ist aber auch, dass das Alter bei Erwerbsbeginn für Verlauf und Erfolg einer mehrsprachigen Erziehung zwar eine wichtige Rolle, aber nicht die entscheidende Rolle spielt: Anders als der Erstspracherwerb verläuft der Zweitspracherwerb im Jugendund Erwachsenenalter wie empirische Studien zeigen zwar durchaus nicht immer erfolgreich, er kann grundsätzlich aber noch sehr erfolgreich verlaufen. Allerdings scheint ein erfolgreicher Verlauf in den genannten sprachlichen Bereichen für die Lernenden kognitiv aufwändiger zu werden, zudem spielen offenbar individuelle Fähigkeiten und äußere Gegebenheiten mit zunehmendem Alter für den Lernerfolg eine immer gewichtigere Rolle (vgl. Meisel 2007, 110). Man muss also bei einem höheren Alter bei Erwerbsbeginn – Meisel (2007) spricht in diesem Zusammenhang von unterschiedlichen Zeitfenstern und sieht eine entscheidende Altersgrenze bei 6 bis 7 Jahren – mit einem zunehmenden Einfluss von sogenannten „Lernervariablen“ rechnen. Die Forschung untersucht hier die Bedeutung kognitiver Variablen wie Sprachbegabung, bereits verfügbare Sprachlernerfahrungen usw., die Bedeutung von affektiven Faktoren wie Motivation, Persönlichkeitsfaktoren wie Kontaktfreudigkeit usw. sowie die Bedeutung sozialer Faktoren, wie das soziokulturelle Umfeld, dem die Lernenden entstammen (vgl. für einen Überblick Kniffka/Siebert-Ott 2008). Das bedeutet zugleich aber auch, dass gute, unterstützende Rahmenbedingungen für die erfolgreiche Entwicklung von Mehrsprachigkeit auch im Bereich der grundlegenden sprachlichen (grammatischen) Fähigkeiten von Bedeutung sind. Dass Immersions-Programme erfolgreicher sind, in denen systematisch Sprachunterricht erteilt wird, ist aus der internationalen Forschung bereits seit langer Zeit bekannt (Wode 1995, Siebert-Ott 2001); dass Maßnahmen zur außerschulischen Sprachförderung – wie die seit einiger Zeit auch in Deutschland angebotenen „Sommercamps“ – ebenfalls erfolgreicher sind, wenn hier auch eine gezielte Sprachförderung angeboten wird, zeigen erste empirische Studien (vgl. hierzu Stanat u. a. 2008). Die Vermittlung einer Sprache alleine durch die Schaffung einer Gelegenheit zu ihrem Gebrauch im Kontakt mit Muttersprachlern scheint ab einem gewissen Lebensalter also nicht mehr uneingeschränkt erfolgversprechend zu sein.
3. Die erfolgreiche Beteiligung an der Unterrichtskommunikation stellt erhöhte sprachliche Anforderungen – (nicht nur) Zweitsprachlerner profitieren hier von einem sprachbewussteren Unterricht.
Die Ergebnisse neuerer empirischer Studien unterstützen zunehmend eine in der Diskussion um Mehrsprachigkeit und Bildungserfolg schon lange vertretene These, dass nämlich nicht die natürlich entwickelte Mehrsprachigkeit ein besonderes Risiko für den Bildungserfolg in der Einwanderungsgesellschaft darstellt, sondern vielmehr die soziale Situation, insbesondere das verfügbare „kulturelle Kapital“ der Familie (vgl. hierzu Reich 2007, Schründer-Lenzen 2006, Siebert-Ott 2006). Die jüngste PISA-Studie zu den Kompetenzen der Jugendlichen im dritten Ländervergleich (PISA-Konsortium 2008) kommt zu einem ähnlichen Ergebnis:
„Die Befunde zur Gymnasialbeteilung stehen also im Einklang mit der humankapitaltheoretischen Annahme, dass Disparitäten im Bildungserfolg zwischen Schülerinnen und Schülern mit und solchen ohne Migrationshintergrund auf die unterschiedliche Ausstattung der Familien mit bildungsrelevanten Ressourcen zurückgeführt werden können.“ (PISA-Konsortium 2008, 361)
Diese Studie kommt außerdem zu dem Ergebnis, dass die meisten Jugendlichen mit Migrationshintergrund „Deutsch im Alltag mindestens so häufig sprechen wie die Herkunftssprache der Eltern“ und dass der Anteil von Jugendlichen, die die deutsche Sprache im Alltag relativ selten verwenden, „vergleichsweise gering“ ausfällt (PISA-Konsortium 2008, 356). Es kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass die Kinder und Jugendlichen, die Deutsch im Alltag als Kommunikationsmittel verwenden, damit auch über die für den Bildungserfolg erforderlichen sprachlichen Fähigkeiten verfügen. Gerade Schülerinnen und Schüler aus Familien mit wenig „bildungsrelevanten Ressourcen“ haben häufig erhebliche Schwierigkeiten, den Anforderungen der Unterrichtskommunikation zu genügen, die auch in der gesprochenen Form zunehmend standardbzw. schriftsprachlich geprägt ist (vgl. aktuell hierzu Gogolin 2007). Insofern ist es auch nicht überraschend, dass sich die Erwartung nicht erfüllt hat, dass der Bildungserfolg der zweiten oder dritten Einwanderergeneration quasi automatisch steigt. Vielmehr finden sich gegenwärtig in der ersten Einwanderergenerationen auffällig viele bildungserfolgreiche Schülerinnen und Schüler. In der zweiten und späteren Einwanderergenerationen hingegen finden sich zumindest in einigen Gruppen besorgniserregend viele wenig bildungserfolgreiche Schülerinnen und Schüler. Dies zeigen auch die Ergebnisse einer aktuellen Studie des Berlin-Instituts zum Ausmaß der Integration (gemessen an Abiturquote, Akademikeranteil, Personen ohne Bildungsabschluss u. Ä.) verschiedener Zuwanderergruppen (www.berlin-institut.org/).
Die Vermittlung bildungsrelevanter Sprachkenntnisse sollte man daher auch nicht allein vom Gebrauch einer Sprache in Alltagssituationen erwarten, sondern in erster Linie von einem gut geführten Sprachunterricht sowie von einem sprachbewussten Sachbzw. Fachunterricht (vgl. hierzu Kniffka/Siebert-Ott 2008, 103ff.). Dies gilt unabhängig davon, ob dieser Unterricht in der Muttersprache, in einer Zweitsprache oder in einer Fremdsprache erteilt wird. Ein Vorreiter für die erfolgreiche Verknüpfung von sprachlichem und fachlichem Lernen sind – wie einschlägige Studien belegen – Immersions-Programme nach dem kanadischen Modell, deren Ziel die Vermittlung muttersprachenähnlicher Kompetenz in zwei Sprachen ist (Wode 1995; Krechel 2005; Siebert-Ott 2008). Diese systematische Unterstützung des sprachlichen Lernens im Fachunterricht wird inzwischen auch für den Unterricht in einer Zweitsprache empfohlen (vgl. hierzu Kniffka/Siebert-Ott 2008).
Schulische Bildungsangebote, die die natürliche Mehrsprachigkeit von Schülerinnen und Schüler aufgreifen und entwickeln wollen, sollten diese Erkenntnisse berücksichtigen. Dies gilt zum einen für den Deutschunterricht sowie für den deutschsprachigen Fachunterricht in Programmen, die sich nur das Ziel setzen, die zweitsprachliche Kompetenz ihrer Schülerinnen und Schüler zu entwickeln und auf diese Weise zu deren Bildungserfolg beizutragen. Durch einen sprachbewussten Unterricht kann auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass Lernen in einer nicht gut beherrschten Zweitsprache einen erhöhten kognitiven Aufwand erfordert. Dies gilt aber auch für zweisprachige Programme, die sich das Ziel setzen, ihre Schülerinnen und Schüler dort abzuholen, wo sie in ihrer Entwicklung stehen, und dabei umfassend an ihr verfügbares sprachliches und kulturelles Wissen anzuknüpfen und dieses Wissen in beiden Sprachen weiterzuentwickeln.
4. Vorteile einer gemeinsamen zweisprachigen Erziehung für die Entwicklung sprachlicher und kultureller Kompetenzen
Die Rezeption empirischer Untersuchungen zu zweisprachigen Programmen für Schülerinnen und Schüler aus Zuwandererfamilien ist nicht nur in Deutschland häufig auf die Frage verkürzt worden, welche Effekte der Unterricht in der Herkunftssprache auf den Erwerb von Kompetenzen in der Zielsprache hat. Die Tatsache, dass hier zusätzliches sprachliches Wissen erworben wird, wurde dagegen in der Vergangenheit häufig marginalisiert oder nur unter der Perspektive eines möglichen Marktwertes behandelt. Ebenso stießen die Fragen nach der Bedeutung zusätzlich erworbener kultureller Kompetenzen, die Frage nach dem Einfluss auf die oben genannten Lernervariablen (wie Zugewinn an Motivation, Abbau von Ängsten, Zugewinn an Kontaktfreude, Bedeutung zusätzlicher Sprachlernerfahrungen usw.) auf wenig öffentliches Interesse. Auch die Frage nach der Bedeutung von two way immersion-Programmen für die Entwicklung besonderer kultureller Kompetenzen bei den Schülerinnen und Schülern aus alteingesessenen und aus Zuwandererfamilien stieß bislang in der öffentlichen Diskussion in Deutschland nur auf wenig Interesse, während diese Frage bei der Einrichtung von bilingualen Programmen in Kombination mit europäischen Nachbarsprachen oder auch bei der Einrichtung von Programmen für Schülerinnen und Schüler aus alteingesessenen Sprachminderheiten von ganz besonderem Interesse war (vgl. hierzu schon Wode 1995; Siebert-Ott 2001, 2008). Auch wenn diese Fragen auf einen besonderen Forschungsbedarf bei der Einrichtung von Programmen zur Unterstützung von natürlicher Mehrsprachigkeit hinweisen, deuten sie zugleich auch auf das besondere Potenzial solcher Programme hin.
Resümee
Die vorangehenden Überlegungen sollten zeigen, dass die Resultate empirischer Studien zum Spracherwerb in der frühen Kindheit den Schluss nahelegen, „dass Kinder bestens darauf vorbereitet sind, in früher Kindheit mehr als eine Sprache zu meistern, wenn man sie denn nur lässt“ (Thoma/Tracy 2006, 77). Grundsätzlich gilt das auch noch für ältere Lernende. Es genügt aber offenbar langfristig nicht, Lernende „nur zu lassen“, sondern man muss sie insbesondere bei der Entwicklung schulisch relevanter sprachlicher Kompetenzen systematisch unterstützen, wenn man ihnen eine erfolgreiche Bildungslaufbahn eröffnen will. Ein sprachsensibler Unterricht in der Zweitsprache Deutsch und die systematische Verbindung von sprachlichem und fachlichem Lernen können hierzu einen wichtigen Beitrag leisten. Mehrsprachige Programme, insbesondere solche, in denen Kinder unterschiedlicher Muttersprachen mit- und voneinander lernen, bieten neben der Möglichkeit, zwei oder mehr Sprachen auf hohem Niveau zu lernen, auch die Chance, besondere kulturelle Kompetenzen zu entwickeln. Ein „Verbund Kölner Europäischer Grundschulen“ kann hierzu beispielsweise einen wichtigen Bei- trag leisten – ein Gewinn für die Schülerinnen und Schüler und ihre Familien und ein Gewinn für eine Stadt.
Literatur
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