Ein Gespräch: Giovanni La Placa, Oberarzt
Migranten haben größeres Vertrauen
Interview: LAGA • Artikel im ZMI Magazin 2009, S. 32
LAGA: Welche Sprachen sprechen Sie?
La Placa: Ich spreche fließend Italienisch und Deutsch. Habe auch gute Sprachkenntnisse in Spanisch. Die erste Begegnung mit der deutschen Sprache ist erst bei meiner Ankunft in Deutschland 1971 als 11-Jähriger erfolgt. Davor hatte ich keinen Kontakt mit der deutschen Sprache.
LAGA: Welche Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit haben Sie in Ihrem (ehemaligen) beruflichen Umfeld gemacht?
La Placa: Allein durch meine deutschitalienische Zweisprachigkeit habe ich in den Jahren 2000–2002 eine, in fachlicher und menschlicher Hinsicht, sehr interessante berufliche Erfahrung als Oberarzt im Regionalkrankenhaus in Bozen machen können. Bozen gehört zu einer Region in Italien, wo die offizielle Zweisprachigkeit erste Voraussetzung ist, um im öffentlichen Dienst oder als Beamter im Staatsdienst, aber auch in vielen anderen privaten Unternehmen, eingestellt werden zu können. Dies rührt aus der Bevölkerungszusammensetzung in dieser Region, die zum Teil deutsch- und zum Teil italienischsprachig ist. Diese Möglichkeit der Berufsausübung zwischen Flensburg und Marsala ist alleine durch die deutsch-italienische Zweisprachigkeit möglich. Das fachliche Vokabular ist für jemanden, der wirklich mit zwei Sprachen und zwei Kulturen groß geworden ist, kein großes Problem, da man es innerhalb einer sehr kurzen Zeit erlernt. Also ist die Erfahrung mit Zweisprachigkeit im beruflichen Umfeld, da sie zur Ausübung des Berufes die Grundvoraussetzung darstellt, grundsätzlich positiv anzusehen.
LAGA: Welche Rolle spielt dabei die natürliche Mehrsprachigkeit der Menschen (Jugendlichen) mit Migrationshintergrund?
La Placa: Erfahrungen mit natürlicher Mehrsprachigkeit muss man aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten: Durch meine tägliche Arbeit hier in Deutschland habe ich häufig mit Menschen zu tun, die der deutschen Sprache nicht so mächtig sind und sich gerade in der Beschreibung ihrer Symptome nicht artikulieren können. Im Vergleich zu anderen Kollegen bekomme ich, ich sage mal als „ausländischer Arzt“ und als einer, der aus ihren Reihen stammt, aus diesen Menschen mehr Informationen heraus. Man wird wahrscheinlich als eine besondere Vertrauensperson angesehen, unabhängig davon, ob man ihre Sprache spricht oder nicht. Am liebsten würden sie von mir operiert werden, weil sie sich insgesamt besser aufgehoben fühlen. Soviel zum beruflichen Umfeld. Wenn ich mich aber mit meinen Kindern oder meiner Frau (die auch zweisprachig sind) an der Wurstoder Käsetheke eines deutschen Supermarktes auf Italienisch unterhalte, wirkt die Sache schon anders: Die Umgebung wirkt misstrauischer, der Ton, mit dem die Dame an der Theke nach meinen Wünschen fragt, oder der der Kassiererin ist anders als der gegenüber dem deutschen Kunden. (…) Hierzu könnte ich aus eigener Erfahrung berichten oder ich könnte weitere Anekdoten aus meiner Studentenzeit auf Wohnungssuche in Köln erzählen, wobei nach der ersten Präsentation in bestem akzentfreiem Deutsch, spätestens beim Aufschreiben meiner Personalien das „Ausländersein“ auffiel und ich mich dann doch ganz hinten auf der Warteliste wiederfand. Doch damit lebe ich seit 35 Jahren und weiß dieses richtig einzuschätzen. Meine Kinder, die 9 und 6 Jahre alt sind, wundern sich nur. Dies ist wahrscheinlich einer der Gründe, weshalb sie sich häufig weigern, in deutscher Umgebung Italienisch zu sprechen.
LAGA: Welche Empfehlungen für unser Bildungssystem würden Sie aus Ihren Erfahrungen ableiten?
La Placa: Als Migrantenkind fühlt man sich bei der Ankunft in einem fremden Land am Anfang, natürlich in Abhängigkeit vom Alter, ziemlich isoliert und ausgeschlossen. Dazu kommen noch die sprachlichen Probleme, die man überwinden muss. Die andere Sprache, die man spricht, wird von der Umgebung nicht als ein Reichtum, als zusätzliche Chance, sondern als Hindernis für die Integration angesehen. Sie ist fast wie eine Krankheit, die man behandeln muss, um danach wieder aus voller Gesundheit heraus die „Integrationsbehandlung“ durchzuführen. Aber mit welchen Konsequenzen? Für junge Menschen, die bereits eine sprachliche und kulturelle Identität haben, wird diese Behandlung in den häufigsten Fällen fehlschlagen. Sie werden sich häufig weigern, die neue Sprache korrekt und mit vollem Einsatz zu erlernen, da dies den Verzicht auf die bereits errungene Identität bedeutet, vor allem wenn sich die ganze Familie damit identifiziert. Wenn das Bildungssystem aber frühzeitig erkennt, welche Fähigkeiten in solchen jungen Menschen stecken, ohne dass diese auf ihre bereits errungene sprachliche und kulturelle Identität verzichten müssen, schafft man die Voraussetzungen evtl. aus sogenannten Problemfällen der Gesellschaft, Menschen mit einer solideren Ausbildung im Rahmen der europäischen Integration zu formen. Kinder, die aus zweioder mehrsprachigen Familien stammen, sollten sich nicht mehr schämen die Sprache ihres Herkunftslandes oder ihrer Eltern zu sprechen, da dies für ihre Zukunft ein zusätzliches Kapital bedeutet. Damit die Gesellschaft dies versteht und akzeptiert, sollte Mehrsprachigkeit bereits im Vorschulalter und in der späteren Schulausbildung zum Thema werden. Also als erstes Erhebung der Sprachbiographie jedes einzelnen Kindes und Aufwertung seiner bisher erworbenen sprachlichen Identität, und zwar auf jeder Ebene, ob im Vorschulalter oder in der weiteren schulischen Entwicklung. Erkennen und unterscheiden, ob das Kind von Geburt an mit zwei (oder mehr) Sprachen aufgewachsen ist oder die Zweisprachigkeit im höheren Lebensalter erworben wird, wenn z. B. die Zuwanderung im Schulalter erfolgt. Ist im deutschen System jedoch die Ausbildung der Betreuer im Kindergarten, im Grundschulbereich und auf weiterführenden Schulen auf solch eine komplexe Realität ausgerichtet?
Mit freundlicher Genehmigung des Infodienstes der LAGA NRW „Migration“, Heft 25. Die Fragen stellte die LAGA – Landesarbeitsgemeinschaft der kommunalen Migrantenvertretungen