Jeder Mensch ist eine Welt – jede Sprache ein Schatz

Jeder Mensch ist eine Welt – jede Sprache ein Schatz

Von Andreas Fischer & Elizaveta Khan (Integrationshaus e.V.) • Artikel im ZMI Magazin 2020, S. 32

Sprachvielfalt statt Herkunftsfrage: „Ich wusste nicht, dass diese Frage rassistisch ist, was kann ich denn sonst fragen, wenn ich das wissen möchte?“, fragte uns eine Teilnehmerin gleich zu Beginn eines Workshops. Gemeint war die sogenannte Herkunftsfrage „Woher kommen Sie?“. Es gibt Personen, die diese Frage gerne beantworten und ihre Geschichte teilen möchten. Es gibt aber auch Menschen, die hier geboren und aufgewachsen sind und sich ohne jeglichen Migrations-, Flucht-, oder sonstigen Hintergrund für die deutsche Identität entschieden haben und sich von dieser Frage vor den Kopf gestoßen fühlen. Um Menschen nicht zu verletzen, könnte mensch daher auf die Befriedigung der eigenen Neugierde verzichten und stattdessen fragen: „Welche Sprachen sprechen Sie?“ Denn Sprachkenntnisse richten sich nicht nach nationalen Grenzen. Die Mehrsprachigkeit ist auch aus diesem Grund eines der wichtigsten Merkmale in den Interkulturellen Zentren der Stadt Köln. In einer kleinen Umfrage in den Interkulturellen Zentren zu diesem Beitrag, an der 14 Organisationen teilnahmen, konnten wir folgende Sprachvielfalt feststellen:

Die Interkulturellen Zentren der Stadt Köln
Die Interkulturellen Zentren engagieren sich seit bald über 50 Jahren, seit 1979 auch mit finanzieller Förderung durch die Stadt Köln, für das interkulturelle Zusammenleben in der Stadt und fördern in Zusammenarbeit mit Menschen mit Migrationsgeschichte das gleichberechtigte und friedliche Miteinander aller in Köln. Sie sind wichtige Orte der Begegnung für Menschen verschiedener Lebenswirklichkeiten und vielfältiger kultureller und sozialer Herkunft.
Die Zentren haben unterschiedliche Organisationsstrukturen und Kompetenzen, Arbeitsweisen und Ansätze, mit denen sie einen wesentlichen Beitrag zur fachlichen Qualität der Sozialarbeit, der Jugendarbeit, der Bildungsarbeit und der Integrationsarbeit in der Stadt leisten.

Sprachförderung im Übergang von der Schule ins Arbeitsleben
Neben Nachhilfeangeboten und muttersprachlichen Förderangeboten bieten die Zentren vielseitige Formen der Sprachförderung an. Manche Zentren fungieren auch als Integrationskursträger.
Die Frage „Welche Sprachen sprechen Sie?“ ist gerade im beruflichen Kontext relevant. Doch nicht alle Sprachen werden als „wertvolle“ Sprachkenntnisse anerkannt: viele in Deutschland lebende mehrsprachige Personen erfahren eine Nicht-Anerkennung ihrer mitgebrachten Sprachen bis hin zur Ablehnung der Muttersprachen. So wie “Deutsch“ gleichermaßen aus dem Standard-Deutsch wie auch zum Beispiel aus Kölsch besteht, ist jede Sprache vielschichtig. Diese Diversität wird in den Zentren, die Sprachkurse anbieten, besonders berücksichtigt. Die Sprachvielfalt findet in diesen Angeboten besondere Anerkennung, und Mehrsprachigkeit wird als mehr gesehen als das Sprechen mehrerer verschiedener Sprachen.

Die Frage nach den Sprachen, die jemand spricht, kann auch andere Gründe als reine Neugier oder die Vorbereitung auf das Berufsleben haben. Nicht selten taucht diese Frage im Sprachenunterricht auf, zum Beispiel um – etwa im Rahmen eines Einstufungstests – die Sprachlernbiographien der Teilnehmer*innen nachzuvollziehen oder um mögliche Überschneidungen zwischen den Sprachen, die die Teilnehmer*innen sprechen, und der Sprache, die unterrichtet werden soll, festzustellen. Auf diese Weise können beispielsweise mögliche falsche Rückschlüsse von einer zur anderen Sprache, die sogenannten „falschen Freunde“, abgeleitet und im Unterricht besonders berücksichtigt werden. Zudem lassen sich Brücken zwischen verschiedenen Sprachen bauen, indem Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten deutlich gemacht werden. Nicht zuletzt spielt die Frage nach den gesprochenen Sprachen auch in der Prüfungsvorbereitung und in den Prüfungen selbst eine Rolle. Von der A1-Prüfung bis zur B1-Prüfung begegnet den Lerner*innen diese Frage im ersten Teil der mündlichen Prüfung, in dem sie sich selbst vorstellen sollen.

Einzelsprachen – Mehrsprachigkeit
Fragt mensch jemanden nach der Muttersprache oder den Sprachen, die die Person spricht, meint mensch fast immer „Einzelsprachen“ – das heißt Deutsch, Arabisch, Französisch, etc. – Mehrsprachigkeit wird hier also gemeinhin als Vielfalt verschiedener Sprachen nebeneinander verstanden. Ein solches Verständnis ist nicht grundlegend falsch, können doch – wie oben gezeigt – aus einer vergleichenden Gegenüberstellung wertvolle Rückschlüsse für den Unterricht und den Spracherwerb gezogen werden. Doch es kann und sollte bei dem Thema Mehrsprachigkeit genauer hingesehen werden, um Verallgemeinerungen und daraus hervorgehende Stereotype zu vermeiden.
Dies gilt vor allen Dingen für die Frage nach der „Muttersprache“ der Teilnehmer*innen. Gerade in Anfangslektionen im Deutschsprachunterricht finden sich Aufgabenstellungen, in denen es darum geht, dass sich die Teilnehmer*innen vorstellen und gegenseitig besser kennenlernen. Nicht selten werden mit einem Fokus auf Wortbildung Land, Sprache (und nicht Sprachen!) sowie in manchen Fällen auch die entsprechende Nationalität abgefragt. Auf diese Weise werden allerdings problematische Homogenisierungen wie „Türkei – Türkisch – Türke – Türkin“ nahegelegt und eingeübt.
Language Diversity – Jeder Mensch spricht eine Welt
Sprachliche Grenzen decken sich nicht mit Landesgrenzen, die oft willkürlich gezogenen Trennungen unterliegen. Dies wird deutlich, wenn mensch einen Blick auf die Karte mit dem Titel „Language Diversity“ wirft, die der Geograph Benjamin Hennig 2017 veröffentlichte. Die Karte veranschaulicht die Vielfalt der gesprochenen Sprachen und spiegelt die Dichte der sprachlichen Vielfalt durch Vergrößerungen sowie durch farbliche Markierung wider.

Analog zu dieser sprachlichen Vielfalt, die sich gerade durch Grenzüberschreitungen auszeichnet, sollte auch in Bezug auf individuelle Mehrsprachigkeit der Blick für Übergänge und Überschneidungen geschärft werden. Ofelia García und Li Wei (2014) betrachten diesen Aspekt insbesondere vor dem Hintergrund des Sprachhandelns. Sprachen werden hierbei als soziale Praxis verstanden und das Erlernen neuer Sprachen bedeutet an erster Stelle nicht, grammatische Strukturen und neue Wörter zu lernen, sondern neue Praxen zu entwickeln. Die Autor*innen betonen, dass es gerade für den Unterricht sehr gewinnbringend ist, davon auszugehen, dass die Teilnehmer*innen nicht unabhängig voneinander existierende Einzelsprachen sprechen, sondern dass diese eng miteinander verwoben sind (Translanguaging-Ansatz). Und sie beeinflussen sich fortwährend und verändern sich entsprechend. Dies ist vor allen Dingen darauf zurückzuführen, dass es sich bei diesen Sprachen nicht um voneinander abgegrenzte Sprachsysteme oder Grammatiken handelt, sondern dass diese – wie die Sprecher*innen auch – von ständigen Wechselwirkungen und Veränderungen geprägt sind. Sprecher*innen handeln mit Sprachen, positionieren sich mit ihnen in der Welt bzw. sprechen Welten.
Mehrsprachigkeit fängt jedoch nicht bei Sprecher*innen von mehr als einer „Einzelsprache“ an. Bereits innerhalb einer „Einzelsprache“ ist der Sprachgebrauch von unterschiedlichen Faktoren geprägt. Je nach Ort, Gruppenzugehörigkeit oder Kommunikationssituation unterscheidet sich der Sprachgebrauch selbst einer Person. So vielfältig ein Mensch, so vielfältig seine*ihre Sprachen.

Panta rhei – alles fließt!
Diese Perspektive ermutigt dazu, Sprachen – und hier vor allen Dingen das Deutsche als Zielsprache des Unterrichts – durch die Aktivitäten der Sprecher*innen als lebendig und wandelbar wahrzunehmen. Kursteilnehmer*innen sollten demnach nicht als Empfänger*innen einer ‚neuen‘ Sprache als abgeschlossenes System, sondern als Gestalter*innen einer sich stets verändernden Sprache wahrgenommen werden. Das Sprachwissen, das sie bereits mitbringen, ist also nicht nur als Negativfolie für kontrastive Studien nutzbar, sondern bildet die dynamische Ausgangslage für sprachliche Veränderungen, an der alle teilhaben.
Somit gilt: Jeder Mensch ist eine Welt – jede Sprache ein Schatz – und Sprachen sind Praktiken, die uns unterstützen, in der Welt zu sein.
Im kommenden Jahr werden verschiedene Interkulturelle Zentren den Fokus auf die Sprachförderung legen und aus ihrer praktischen Arbeit berichten.

Literatur:
Krumm, Hans Jürgen et. al. (Hrsg.) (2010): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch. Band 1. Berlin u.a.: De Gruyter.
García, Ofelia / Wie, Li (2014): Translanguaging. Language, Bilingualism and Education. London: Palgrave Macmillan UK.