Die vier Jahreszeiten in drei Sprachen – mehrsprachige Schulen in den italienischen Alpen
von Prof. Dr. Ildikò Erika Stephanie Risse • Artikel im ZMI Magazin 2020, S. 9
Deutsch ist rot, Italienisch ist gelb und Ladinisch ist grün – so einfach ist das in der Welt der drei Sprachen Ladiniens. Schon ab der ersten Klasse der Grundschule lernen die Kinder hier, gleichzeitig in drei Sprachen zu lesen und zu schreiben. Ganz selbstverständlich greift also der achtjährige Janpaul zum roten Buntstift und schreibt „die 4 Jahreszeiten“, darunter in Gelb „le 4 stagioni“ und schließlich in grüner Farbe „les 4 sajuns“. Ladinisch ist die Sprache, die hauptsächlich in der Familie gesprochen wird, in seinem Heimatort Wengen. Die knapp 4000 Einwohnerinnen und Einwohner zählende Gemeinde – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Skiort in der Schweiz – gehört zum Gadertal, das mit dem benachbarten Gröden zu den Regionen gehört, wo die ladinische Sprache fest verankert ist und gepflegt wird. Es handelt sich hier um bildungspolitische Sonderfälle – zumindest in Europa –, denn hier werden Kinder von der ersten Klasse an parallel in drei Sprachen alphabetisiert.
Das Gadertal und Gröden gehören politisch-administrativ zur Autonomen Provinz Bozen, besser bekannt als „Südtirol“, jener einst konfliktreichen Region an der Grenze zu Österreich, aber bereits auf italienischem Staatsgebiet gelegen. Während an den übrigen Schulen Südtirols die großen Nationalsprachen Italienisch und Deutsch als ausschließliche Unterrichtssprachen dominieren, wird in den ladinischen Tälern Südtirols der Unterricht in Ladinisch, Deutsch und Italienisch ab der ersten Klasse bis zum Abitur „paritätisch“ angeboten. Obgleich die Bezeichnung eine andere ist, wird in Ladinien seit Jahrzehnten der Ansatz verfolgt, den man in Deutschland mit „Förderung von Herkunftssprachen“ bezeichnet. Insbesondere das Ladinische als eine echte Minderheitensprache ist auf diese Weise seit vielen Jahren fest im Bildungssystem verankert und behauptet sich seit Jahrzehnten gegenüber den „großen“ Nationalsprachen Italienisch und Deutsch.
Dreisprachige Schulmodelle wie das hier beschriebene ladinische sind weltweit auf dem Vormarsch oder werden stärker wahrgenommen als früher. Man kann dabei grob zwei Typen dreisprachiger Schulen ausmachen: Beim ersten handelt es sich um den Typ private „Eliteschule“, die sich an exklusive Elterngruppen richtet oder von ihnen selbst getragen wird. Im zweiten Falle (wie unserem ladinischen Beispiel) handelt es sich um Schulen, die autochthone Sprachminderheiten oder zumindest solche, die eine längere Migrationsgeschichte aufweisen, einbeziehen.
Das „paritätische Schulmodell“
Als Ladinisch, auch Dolomitenladinisch genannt, wird eine Reihe romanischer Dialekte bezeichnet, die in mehreren Alpentälern Oberitaliens gesprochen werden. Trotz der sprachlichen Verwandtschaft zum Italienischen können tatsächlich alle der über 20.000 Ladinerinnen und Ladiner in Südtirol gleichermaßen auch sehr gut Deutsch. Grund dafür sind die dreisprachigen Schulen, aber auch die Lebenswelt, in der die Kinder aufwachsen. So sind die malerisch gelegenen ladinischen Dörfer am Fuße der Dolomiten gleichzeitig Tourismushochburgen, die jährlich Tausende insbesondere italienisch- und deutschsprachiger Touristen anziehen. Daher ist das tägliche „Switchen“, also Hin- und Herwechseln, zwischen mehreren Sprachen für diese Alpenbewohnerinnen und -bewohner der Normalfall.
In den Grund- und Mittelschulen der Ladinerinnen und Ladiner findet der gesamte Unterricht je zur Hälfte in deutscher und italienischer Sprache statt, nur einige wenige Stunden sind der ladinischen Sprache vorbehalten. Das mag auf den ersten Blick überraschen, denn gerade das Ladinische als „Herkunftssprache“ könnte hier doch einen höheren Anteil im Unterricht einnehmen. Die jahrzehntelange Erfahrung und Praxis zeigt aber, dass diese wenigen Stunden ausreichen, um diese Sprache lebendig als Muttersprache zu erhalten. Zudem nutzen die Lehrkräfte sehr bewusst das Ladinische auch als sogenannte Brückensprache: Vor allem für die ganz Kleinen ist es wichtig, dass sie selbstverständlich jederzeit, auch im Unterricht, ihre Herkunftssprache benutzen dürfen. Und ebenso selbstverständlich ist es auch, dass die Lehrpersonen selbst dreisprachig sein müssen. Bis zum Ende der Schulzeit sinkt der Anteil an Ladinischstunden, viele Schülerinnen und Schüler wechseln dann auch in die jeweils einsprachigen deutschen oder italienischen Schulen des Landes, ihre Dreisprachigkeit haben sie aber auch dann noch immer im Gepäck.
Dennoch sahen und sehen sich die Ladinerinnen und Ladiner immer wieder dem Vorurteil ausgesetzt, sie könnten zwar drei Sprachen, aber keine von denen so richtig gut. Dieses Argument wird gerne von ihren deutsch- und italienischsprachigen Nachbarinnen und Nachbarn Südtirols immer wieder dann auf den Tisch gelegt, wenn es gilt, die einsprachig ausgerichteten Schulen zu verteidigen. Daher war und ist es dem ladinischen Schulamt wichtig, dieses besondere Schulsystem wissenschaftlich untersuchen und begleiten zu lassen. So hat man zwischen 2008 und 2013 die dreisprachigen Schreibkompetenzen der Schülerinnen und Schüler in allen Schulstufen auf einer breiten, statistisch validen Basis untersucht.
Die Fragestellungen lauteten:
Kann sich Ladinisch in diesem paritätischen Schulsystem behaupten oder nehmen die Schreibkompetenzen im Verlauf der Schulzeit ab?
Sind am Ende der Schulzeit die Schreibkompetenzen in Deutsch und Italienisch gleich, so wie es das paritätische Schulsystem anstrebt?
Wie sehen diese Kompetenzen im Vergleich zu denjenigen aus, die im Rest der Provinz Bozen im deutsch- und italienischsprachigen Schulsystem erreicht werden?
Die erste Fragestellung trifft das Herz jeder Sprachminderheit, die gewillt ist, die tradierte, als eigen empfundene Sprache zu erhalten. Eine dauerhafte Beobachtung der Sprachkompetenzen, vor allem wenn es sich vorwiegend um mündlich tradierte Sprachen handelt, ist für eine Sprachminderheit von höchster Bedeutung, hier und anderswo.
Und genau diese Fragstellung ist auch relevant für die einsprachig auf das Deutsche ausgerichteten Schulmodelle in Deutschland, bei denen die Förderung von Herkunftssprachen vor vergleichbaren Herausforderungen steht.
Positive Ergebnisse der dreisprachigen Schulen
Die Ergebnisse und die laufenden Beobachtungen vor Ort sind eindeutig: Die Sprachkompetenzen der ladinischen Schülerinnen und Schüler sind in allen drei Sprachen gleichermaßen hoch, auch im Vergleich zu Kindern und Jugendlichen der einsprachig deutsch- und italienisch ausgerichteten Schulen. Diese wurden als Kontrollgruppen bei der Studie herangezogen. Es gibt allerdings Unterschiede: So verläuft der Spracherwerb der dreisprachigen Ladinerinnen und Ladiner zeitlich teilweise deutlich verschoben. Zum Schulende hin gleichen sich diese Unterschiede aber aus.
Positiv auffallend ist durchgehend das hohe Maß an Sprachbewusstheit, so fragen ladinische Schülerinnen und Schüler eher nach, sind zu Korrekturen beim Schreiben und Sprechen bereit und verfallen nicht in ein Verhalten, das man als „Vermeidungsstrategie“ bezeichnen kann. Die Dreisprachigen probieren aus, sie schreiben und formulieren nach Herzenslust, da sie von klein auf gewohnt sind, dass man in einer Sprache nicht „perfekt“ sein kann und dies auch nicht sein muss. Andererseits nehmen sie auch bereitwilliger Korrekturen zur Kenntnis und orientieren sich ihrerseits stärker an grammatischer Korrektheit als deutschsprachige Schülerinnen und Schüler der Kontrollgruppen. Und für den Erhalt der Herkunftssprache die beste Nachricht: Die Kompetenz in der Familiensprache Ladinisch ist beim Abitur auf demselben Niveau wie in den anderen beiden Sprachen, Deutsch und Italienisch. Die paritätische Schule der Ladinerinnen und Ladiner in Südtirol: ein mehrsprachiges Erfolgsmodell für Europa.