Migrantische Mehrsprachigkeit und die Präsenz von Herkunftssprachen im Bildungssystem

Migrantische Mehrsprachigkeit und die Präsenz von Herkunftssprachen im Bildungssystem

Prof. Dr. Havva Engin • Artikel im ZMI Magazin 2019 S. 18

„Wenn Sie so wollen, ist meine ‚Muttersprache‘ Bairisch. Meine erste ‚Fremdsprache‘ war Deutsch, meine zweite Latein. Die erste lebende Fremdsprache, Englisch, habe ich mit Dreizehn richtig gelernt. Viel zu spät, wie ich finde. Das war eigentlich eine völlige Verschwendung von Ressourcen. Als Erwachsene habe ich Italienisch studiert, Französisch, Spanisch, Russisch und in Prag auch noch Tschechisch gelernt. Jetzt habe ich mit Türkisch angefangen. Ich empfinde es als schade, dass ich nicht schon als Kind die Möglichkeit hatte, mehrere Sprachen zu lernen.“ (Claudia Maria Riehl, in: taz nrw vom 27.5.2006)

So wie die Sprachwissenschaftlerin Claudia Riehl, von der das Eingangszitat stammt, wächst über ein Drittel der Schülerschaft in Deutschland mit mehreren Sprachen auf. Im Vorschulalter ist der Anteil doppelt so hoch (vgl. Bildungsbericht 2016). Konkret handelt sich um Kinder und Jugendliche aus Zuwandererfamilien und um Nachkommen alteingesessener Minderheiten, die mit mehreren Sprachen aufwachsen und diese im Alltag benutzen, weshalb diese Praxis als „lebensweltliche (bzw. migrantische) Mehrsprachigkeit“ bezeichnet wird (vgl. Gogolin 1994). Dem steht die „fremdsprachliche bzw. schulische Mehrsprachigkeit“ (vgl. de Cillia 2010) gegenüber. Diese charakterisiert die Sprachpraxis von Kindern und Jugendlichen, die im Alltag nur eine Sprache gebrauchen, aber in Bildungsinstitutionen eine oder mehrere Sprachen als Fremdsprachen lernen.
Studien zeigen, dass für lebensweltlich mehrsprachige Kinder und Jugendliche die abwechselnde Nutzung von Sprachen im Alltag und in Bildungsinstitutionen die Normalität darstellt. Sie verwenden bewusst verschiedene Sprachen in unterschiedlichen Lebens- und Bildungskontexten und können differenziert über ihr wechselndes Sprachverhalten gegenüber privaten und institutionellen Bezugspersonen reflektieren (vgl. Engin 2018).
Während „fremdsprachliche Mehrsprachigkeit“ gesellschaftliche und bildungspolitische Anerkennung besitzt, findet „lebensweltliche Mehrsprachigkeit“ in schulischen Lehr-/Lernkontexten wenig Beachtung. Dementsprechend sind Migrationssprachen als Unterrichtsfach in den Bildungsinstitutionen der Bundesländer kaum präsent. Der Hauptgrund liegt in der fehlenden politischen Anerkennung ihres Bildungspotenzials und damit einhergehend in ihrem geringen gesellschaftlichen Ansehen.
Angesicht der Zunahme migrantischer Mehrsprachigkeit durch neue Zuwanderungsbewegungen (vgl. Massumi et al. 2015), ist der Ruf nach Berücksichtigung von Migrationssprachen in schulischen Kontexten im Sinne einer „integrativen Mehrsprachigkeit“ (vgl. Kurtz 2011) berechtigt und überfällig. Aus rechtlicher Perspektive steht es jedem Gesellschaftsmitglied zu, seine Familiensprache zu sprechen und in institutionellen Kontexten zu lernen. Dies wird in internationaler Perspektive durch die UN-Menschenrechts- bzw. UN-Kinderrechtskonvention (vgl. Vereinte Nationen 1948; Vereinte Nationen 1989) und auf europäischer Ebene durch den Beschluss der Europäischen Kommission abgesichert (vgl. Europäische Kommission 2003).
Notwendig ist gegenwärtig ein bildungspolitisches Signal, das migrationsbedingte Mehrsprachigkeit als Bildungsressource aufwertet und deren Erlernen allen Interessierten ermöglicht. Bereits existierende Modelle können helfen, erste Ideen für die Umsetzung zu geben.
Zu den bisher in Deutschland auf Projektebene erprobten Konzepten zählt der „Language Awareness Ansatz“. Er verfolgt das Ziel, Migrationssprachen in das schulische Lernen einzubinden und durch den Vergleich von Schriftsystemen, der Einübung von Ausspracheregeln oder der Betrachtung unterschiedlicher sprachlicher Metaphern, die Sprachaufmerksamkeit der Lernenden zu fördern (vgl. Oomen-Welke 2010).
„Translanguaging“ ist ein weiteres Modell, bei dem migrantische Mehrsprachigkeit in unterrichtlichen Lehr- und Lernkontexten aktiv eingebunden wird. Der Ansatz stammt aus den USA und wird dort erfolgreich an Schulen realisiert (vgl. Gantefort & Sánchez Oroquieta 2015). In Europa wird Translanguaging bisher insbesondere in Luxemburger Bildungsinstitutionen umgesetzt (vgl. Kinsch 2016).
Für die stärkere Berücksichtigung lebensweltlicher Mehrsprachigkeit in schulischen Kontexten bedarf es eines Umdenkens auf gesellschaftlich-politischer Ebene. Migrationssprachen sollten als Bildungsressour-ce anerkannt werden. Außerdem sind Bil-dungspläne auszuarbeiten, mit denen Migrationssprachen analog zu schulischen Fremdsprachen gelehrt und gelernt werden können. Daran schließt sich die Konzeption einer „Didaktik migrantischer Mehrsprachigkeit“ als Basis für die Entwicklung geeigneter Lehr- und Lernmaterialien an.
Unabdingbar für ein flächendeckendes Mi-
grationssprachenangebot ist letztendlich auch die Qualifizierung von Lehrkräften. In veränderten Lehramtsstudiengängen soll-
ten Migrationssprachen als Haupt- bzw. Ergänzungsfach belegt werden können. In der Übergangszeit wäre die Unterrichtspraxis durch berufsbegleitende Qualifizierungsangebote für Lehrkräfte sicherzustellen.

Ausblick
Vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen ist festzuhalten, dass auch zukünftig eine bedeutende Zahl von Kindern und Jugendlichen lebensweltlich mehrsprachig aufwachsen wird. Studien weisen nach, dass Migrationssprachen ein großes gesellschaftliches Potenzial darstellen. Sie spielen in vielen Berufsfeldern eine wichtige Rolle und werden bei Auszubildenden und Berufstätigen nachgefragt (vgl. Riehl 2017: 4). Ihre fortwährende Ausblendung in Bildungskontexten kommt einer Vergeudung gesellschaftlicher Ressourcen gleich.

Literatur:

Bildung in Deutschland 2016. Ein indikatorengestützter Bericht … Hrsg. KMK. Bonn. [http://www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2016/pdf-bildungsbericht-2016/bildungsbericht-2016]

de Cillia, R. (2010): Mehrsprachigkeit statt Zweisprachigkeit – Argumente und Konzepte für eine Neuorientierung der Sprachenpolitik an den Schulen. In: de Cillia, R., Gruber, H., Krzyzanowski, M. & Menz, F. (Hrsg.): Diskurs – Politik – Identität. Festschrift für Ruth Wodak. Tübingen, 245-255.

Engin, H. (2018): Mehrsprachigkeit und Schule. In: Kalkavan-Aydin, Z. (Hrsg.): Fachdidaktik: DaZ/DaF Didaktik: Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin, 12-19.

Europäische Kommission (2003): Förderung des Sprachenlernens und der Sprachenvielfalt: Aktionsplan 2004-2006. [https://arbeitsplattform.bildung.hessen.de/fach/bilingual/bildungspolitik/material_bipo/Sprachenvielfalt-EU-2004ff.pdf]

Gantefort, C. & Sánchez Oroquieta, M. (2015): Translanguaging-Strategien im Sachunterricht der Primarstufe: Förderung des Leseverstehens auf Basis der Gesamtsprachigkeit. In: transfer Forschung-Schule 1, 24-37.

Gogolin, I. (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster.

Kirsch, Claudine; Mortini Simone (2016): Translanguaging: Eine innovative Lehr- und Lernstrategie. In: Forum (August 2016). [https://wwwfr.uni.lu/content/…/6.%20Translanguaging_Mortini.Degano.pdf] 

Kurtz, J. (2011): Mehrsprachigkeit als Rahmenbedingung und übergeordnete Bildungsaufgabe: Englisch lehren und lernen an Ganztagsschulen. In: Appel, S. & Rother, U. (Hrsg.): Mehr Schule oder doch: Mehr als Schule? Schwalbach, Taunus, 70-83.

Massumi, M. & v. Dewitz, N. (2015): Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche im deutschen Schulsystem. [https://

www.mercator-institut-sprachfoerderung.de/fileadmin/Redaktion/PDF/Publikationen/MI_ZfL_Studie_Zugewanderte_im_deutschen_Schulsystem_final_screen.pdf]

Oomen-Welke, I. (2010): Didaktik der Sprachenvielfalt. In: Ahrenholz, B. & Oomen-Welke, I. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache. Freiburg im Breisgau, 479-492.

Riehl, C. M. (2017): Sprache und Kommunikation in der Berufsbildung: Mehrsprachigkeit als Potential. In: berufsbildung 167, 3-5.

Vereinte Nationen (1948): Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. 10.12.1948. [http://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf]

Vereinte Nationen (1989): Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Convention on the Rights of the Child, CRC) vom 20.11.1989. [https://www.kinderrechtskonvention.