Das Positionspapier für Mehrsprachigkeit des Ministeriums für Schule und Weiterbildung Nordrhein-Westfalen Interview mit Christiane Bainski, Leiterin der Landeskoordinierungsstelle Kommunale Integrationszentren (LaKi)
Die Fragen stellte Ariane Schmid, ZMI – Zentrum für Mehrsprachigkeit und Integration. • Artikel im ZMI Magazin 2016, S. 26
„Viele Kinder und Jugendliche wachsen mit mehr als einer Sprache auf.
Das ist eine Tatsache, die man als Ressource und als Potenzial für das Lernen dieser jungen Menschen begreifen muss“.
Frau Bainski, Sie haben an der Erarbeitung des Positionspapiers für Mehrsprachigkeit mitgewirkt. Können Sie erstmal erklären, worum es darin geht?
Gerne! Das Positionspapier für Mehrsprachigkeit gibt zunächst einmal einen Überblick zum aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstand zu Mehrsprachigkeit und Spracherwerb. Darüber hinaus beinhaltet es eine Zusammenstellung von didaktischen Hinweisen dazu, wie die Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler in Schule und Unterricht gezielt aufgegriffen und gefördert werden kann. Dabei wird auch Bezug auf erfolgreiche Beispiele der Umsetzung aus der Praxis genommen.
Grundsätzlich geht es bei dem Papier darum, nochmal eine andere Sichtweise auf die Thematik der Mehrsprachigkeit aufzuzeigen, d.h. Mehrsprachigkeit als etwas Positives zu begreifen, als eine Ressource für Lernprozesse und nicht als ein Problem. Zu dieser Sichtweise werden Ergebnisse aus verschiedenen Studien aufgeführt. Gleichzeitig sollen praxisorientierte Empfehlungen den Erzieherinnen und Erziehern und Lehrerinnen und Lehrern eine Vorstellung davon vermitteln, wie sie mit der Mehrsprachigkeit in ihren Bildungseinrichtungen arbeiten können, z.B. mit welchen Unterrichtsstrategien sie die Mehrsprachigkeit beachten und auch stärken können.
Was ist Ihnen in diesem Positionspapier besonders wichtig, Frau Bainski?
Grundsätzlich finde ich das Papier in seiner Gesamtheit wichtig. Doch ein Aspekt, den ich als besonders wichtig erachte ist, dass mit diesem Alltagsmythos oder Vorurteil aufgeräumt wird, dass Mehrsprachigkeit ein Problem wäre. Die Mehrheit der Menschheit, mehr als zwei Drittel, lebt in mehrsprachigen Lebenswelten und das ist eben jetzt auch bei uns in Deutschland der Fall. Durch die Zuwanderung sind sehr viele Sprachen nach Deutschland, auch nach Nordrhein-Westfalen, gekommen. Viele Kinder und Jugendliche wachsen mit mehr als einer Sprache auf. Das ist eine Tatsache, die man als Ressource und als Potenzial für das Lernen dieser jungen Menschen begreifen muss und deswegen auch produktiv damit umgehen sollte. Anstatt Mehrsprachigkeit zu diskriminieren, z.B. indem die Familiensprachen nicht als würdig genug dafür empfunden werden, dass sie in der Schule aufgegriffen werden oder dass sie zu sprechen sogar verboten wird, wie es in manchen Bildungseinrichtungen immer noch der Fall ist. Für die mehrsprachigen Kinder und Jugendlichen entstehen dadurch unangenehme Drucksituationen, die vor allem hinsichtlich der Entwicklung ihres Selbstwertgefühls und ihrer Selbstkonzeption als kritisch anzusehen sind. Ich finde es deswegen sehr wichtig, mit diesem Vorurteil aufzuräumen und nochmal eine Debatte zum Thema der Mehrsprachigkeit in Gang zu bringen – nicht nur im Bildungssystem, sondern auch in der gesamten Gesellschaft – und dabei eben aufzuzeigen, dass Mehrsprachigkeit etwas Positives, etwas Wertvolles und für die überwiegende Menschheit sogar Normales ist, was konstruktiv für alle Lernprozesse genutzt werden kann.
Gab es einen konkreten Anlass, der zur Erstellung des Positionspapiers geführt hat?
Ja! Ausgangspunkt war in erster Linie das 2012 in Kraft getretene Teilhabe- und Integrationsgesetz Nordrhein-Westfalens. In den Grundsätzen unter Paragraph zwei steht nämlich, dass die Wertschätzung der Mehrsprachigkeit von hoher Bedeutung ist. Daran anknüpfend haben sich die Ressorts, die in Nordrhein-Westfalen für Integration durch Bildung verantwortlich sind, das Ministerium für Schule und Weiterbildung und das Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales, dafür ausgesprochen, ein Papier zum Umgang mit Mehrsprachigkeit im Bildungsbereich auf den Weg zu bringen. Letztlich wurde dieser Impuls durch das Ministerium für Schule und Weiterbildung an uns – die Landeweite Koordinierungsstelle Kommunale Integrationszentren – herangetragen. So haben wir eine Arbeitsgruppe zusammengestellt, deren Mitglieder das Positionspapier gemeinsam erstellt haben.
Und wer war an dieser Arbeitsgruppe beteiligt?
Es waren Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftlicher der Universität zu Köln, der Universität Münster und der Universität Duisburg-Essen, weiterhin Fachberaterinnen und Fachberater aus der Schulaufsicht der Bezirksregierungen – insbesondere der Bezirksregierung Köln – und eben einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Landesweiten Koordinierungsstelle Kommunale Integrationszentren beteiligt. Außerdem haben noch die zuständige Referatsleiterin des Schulministeriums und die zuständige Referatsleiterin des Integrationsressorts, also des Ministeriums für Arbeit, Integration und Soziales, intensiv mitgewirkt.
Welche Ziele verfolgen Sie denn mit dem Papier?
Das Positionspapier soll als Diskussionsgrundlage dienen, um eine Debatte zu diesem Thema innerhalb des Schulsystems anzustoßen. Ziel ist, dass die positive Wirkung einer gesteuerten Förderung von Mehrsprachigkeit für die Lern- und Bildungsprozesse der Kinder und Jugendlichen anerkannt wird. Letztlich soll auch der Unterricht aller Schülerinnen und Schüler in Nordrhein-Westfalen verbessert werden, indem die Mehrsprachigkeit der Kinder und Jugendlichen im Schulsystem angemessen berücksichtig wird. Mehrsprachige Schülerinnen und Schüler bilden ja bald die Mehrheit unter unseren Schülerinnen und Schülern. Entsprechende Handlungsstrategien der einzelnen Schulen als auch der einzelnen Lehrkräfte sollen unterstützt werden. Generell ist aber auch das Ziel, ein gesellschaftliches Umdenken zum Thema Mehrsprachigkeit zu befördern.
Wann wird das Papier veröffentlicht?
Aktuell liegt das Papier noch als Entwurf vor. Derzeit wird es intern vom Ministerium für Schule und Weiterbildung und oberer Schulaufsicht überarbeitet. Wann und in welcher Form es veröffentlicht wird, lässt sich jetzt noch nicht definitiv sagen. Auf jeden Fall steht das Thema Mehrsprachigkeit in der Bildungsdiskussion mit ganz oben auf der Agenda.
Noch eine letzte Frage, Frau Bainski: Was wünschen Sie sich für die Zukunft Nordrhein-Westfalens bezüglich des Themas Mehrsprachigkeit?
Ich wünsche mir, dass sich alle Schulen in Nordrhein-Westfalen des Themas Mehrsprachigkeit recht bald und gezielt annehmen. Sie sollen Wege des konstruktiven Umgangs mit Mehrsprachigkeit erproben, sowohl im Schulalltag als auch in der Unterrichtsgestaltung. Sie sollen sich den Herausforderungen ihrer heterogenen Schülerschaft – an dieser Stelle insbesondere in sprachlicher Hinsicht – sehr bewusst stellen und durch die Anerkennung und Förderung der Mehrsprachigkeit die individuellen Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler positiv beeinflussen.