Deutschlernen in mehrsprachigen Klassen

Deutschlernen in mehrsprachigen Klassen

Ein Interview mit Rosella Benati und Bernd Semrau • Artikel im ZMI Magazin 2010, S. 14

ZMI: Der Diplompsychologe und Publizist Mark Terkessidis kritisiert in seinem neuen Buch „Interkultur“, dass die Bildungspolitiker bei der Einschulung eine Art „Fünfziger-Jahre-Deutsches-Normkind“ in der Grundschule erwarten. Man kann beim Anblick aktueller Schulbücher tatsächlich diesen Eindruck gewinnen. Ist „Deutschlernen in mehrsprachigen Klassen“, DemeK abgekürzt, die Reaktion der Schulpraxis auf diese längst überholte angenommene Norm?
Benati: Spätestens nach PISA wurde klar, dass ein Umdenken erfolgen muss, damit alle Kinder in ihrem Sprachentwicklungsprozess angemessen gefördert werden können. Schulklassen sind immer heterogen, auch wenn sie sprachlich gesehen in den fünfziger Jahren gewiss homogener waren als heute, da die große Einwanderungswelle genau in diesen Jahren begann. DemeK ist ein Unterrichtsansatz, der allen Kindern zugute kommt – ob mit oder ohne  Zuwanderungsgeschichte, ob aus bildungsfernen oder bildungsnahen Familien. Natürlich ist ein solcher Unterricht für viele Kinder von Nutzen, auch für die Schülerinnen und Schüler, die deutscher Herkunft sind.

ZMI:
Was ist das Besondere an DemeK als Unterrichtsmethode?
Benati: Lehrerinnen und Lehrer haben gelernt, Kinder zu unterrichten, die Deutsch als Muttersprache haben. Bei der Entwicklung von DemeK haben uns Kolleginnen und Kollegen sehr geholfen, die Erfahrungen im Ausland bei der Vermittlung von Deutsch als Fremdsprache gesammelt hatten. Es ist oft schwer für Muttersprachlerinnen und Muttersprachler, die Schwierigkeiten nachzuvollziehen, die Schülerinnen und Schüler mit dem Spracherwerb haben. Der erste Schritt in der Weiterqualifizierung ist deshalb eine „neue Begegnung“ mit der eigenen, der deutschen Sprache. Ich setze quasi eine andere Brille auf und sehe die Lehrbücher und den eigenen Unterricht mit anderen Augen. Demek ist ein didaktisches Konzept für einen sprachsensiblen Unterricht. Es hat den Anspruch, sowohl die sprachlichen Kompetenzen als auch die noch bestehenden Lücken aller Kinder in der Klasse zu berücksichtigen. Deutschkenntnisse, die im Unterricht erst noch erworben werden müssen, werden nicht vorausgesetzt. Das gilt vor allem für die gehobene Sprache, die für das Lernen von entscheidender Bedeutung ist.

ZMI: Das klingt sehr grundsätzlich.
Benati: Das ist es auch. Es geht uns darum, die Bildungserfolge aller Schülerinnen und Schüler zu verbessern. Wir sind jetzt im dritten Jahr DemeK und haben eine große Nachfrage. υ ZMi: Wie komme ich als Lehrkraft zu solch einer Weiterqualifizierung?
Benati: Da muss man zwischen der Primarstufe und der Sekundarstufe unterscheiden. Die Weiterqualifizierung ist zuerst für die Primarstufe entstanden, hier bezieht sie das ganze Lehrerkollegium ein. Das Programm wird der Lehrerkonferenz in einem zweistündigen „Schnupperkurs“ vorgestellt. Wenn sich die Lehrerkonferenz zur Teilnahme entschließt, verpflichtet sich das gesamte Kollegium für ein ganzes Schuljahr zur DemeK-Weiterqualifizierung. Alle nehmen dann an einem ganztägigen Termin und fünf Weiterqualifizierungsterminen – in der unterrichtsfreien Zeit – zu je vier Stunden teil. Das Gelernte kann direkt am nächsten Tag in der Praxis umgesetzt werden. Im zweiten und dritten Jahr folgt eine Begleitung, die unterschiedliche thematische Angebote beinhaltet. Auch der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen in der jährlichen Netzwerkkonferenz gehört zum DemeK-Paket.
Mittlerweile gibt es ein unfangreiches Materialangebot für den täglichen Unterricht. In der Sekundarstufe I wird von 2010 an ein zweijähriger Qualifikationskurs für Kolleginnen und Kollegen verschiedener Schulen angeboten. Hier wird bei den Inhalten der Angebote zwischen denen mit dem Fach Deutsch und den anderen unterschieden.
Semrau: Wichtig ist, dass die Lehrpersonen sich auf einen längerfristigen Lernprozess einlassen. Eine Weiterqualifizierung besteht oft aus zwei Komponenten: Es wird eine Theorie vorgestellt, und dann werden dazu Praxisbeispiele gegeben. Nach einer solchen Weiterqualifizierung verändern – wie amerikanische Schulforscher herausgefunden haben – etwa zehn Prozent der teilnehmenden Lehrpersonen ihren Unterricht. Bei der DemeK-Weiterqualifizierung kommen drei weitere Komponenten dazu: Im Seminar werden Simulationen durchgeführt, in denen das Gelernte in die Tat umgesetzt werden kann. Dazu erfolgt ein Feedback. Schließlich findet ein langfristiges Coaching mit Unterrichtshospitationen statt. Das lässt hoffen, dass diese Weiterqualifizierung zu einer Veränderung bei 90 bis 95 % der Teilnehmenden führt. Das Ziel der Weiterqualifizierung ist eine Verknüpfung der beiden Lernorte Seminar und Unterrichtspraxis.

ZMI:
Sie sind für die Beratung der Trainerinnen und Trainer zuständig, die den beschriebenen Prozess bei den Lehrkräften anstoßen und begleiten. Können Sie das Vorurteil bestätigen, dass Lehrkräfte besonders schwierige Schüler sind?
Semrau:Die Lehrpersonen unterscheiden sich weder in ihrem Lernverhalten noch in ihrer Motivation von anderen Fortbildungsteilnehmenden. Bei der DemeK-Weiterqualifizierung geht es um einen Veränderungsprozess in Verbindung mit einer unterrichtlichen Innovation. Gene Hall spricht von „stages of concern“, von „Stufen der Betroffenheit“ im Umgang mit einer Innovation. Jede Innovation bedeutet das Zurückstellen von bisher erworbenen Routinen, bedeutet Unsicherheit. Dies äußert sich in Phänomenen des Widerstands, die sich auf den verschiedenen „Stufen der Betroffenheit“ äußern.
Die erste Stufe beim Erfahren von etwas Neuem wird oft von einer sorgenlosen Neugier begleitet. In der zweiten Phase fragt sich die Lehrperson: „Was bedeutet das für mich in meiner konkreten Situation?“ Dann kommt der entscheidende Schritt, und die Lehrkraft beschließt, mit ersten Erprobungen zu beginnen. Diese Stufe erster Erprobungen ist meistens mit Krisen behaftet. Die bisherigen Routinen greifen nicht mehr. Danach fängt man an, neue, eigene Routinen zu entwickeln. Erst dann wird die Frage „Was nützt es den Schülerinnen und Schülern?“ aufgrund eigener Erfahrungen beantwortet.

ZMI: Die Trainerinnen und Trainer fungieren also als eine Art Begleitung der Lehrkräfte im Prozess der Veränderung?
Semrau: Sie werden auf eine Begleitung der Lernprozesse der Lehrpersonen in diesem Stufengang vorbereitet. Widerstände sind durch die Kenntnis der eben erwähnten Stufen besser zu verstehen. Der Unterrichtsalltag ist schwierig, weil er sehr komplex ist. Häufig hört man bei den Fortbildungsveranstaltungen die Frage: „Wie geht das im Unterricht mit 30 Kindern, angesichts von Lehrplänen und Lernstandserhebungen, Zeitdruck und diesen Rahmenbedingungen?“. Das sind seriöse und ernstzunehmende Auseinandersetzungen mit der Umsetzbarkeit des Konzepts.

ZMI:
Welche Module machen das Konzept aus? Was wird konkret vermittelt?
Benati: Es gibt insgesamt sechs Module. Das generative Schreiben von Gerlind Belke steht im Mittelpunkt eines Moduls. Es geht aber auch um Sprachspiele und Lieder, die Bedeutung von „Chunks“ beim Sprachenlernen und allgemeine Sprachsensibilität. Gerade entwickeln wir ein Modul über die Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit im Unterricht. Im ersten Jahr findet die seminaristische Ausbildung statt, im zweiten Jahr werden die Lehrerinnen und Lehrer von den Trainern begleitet. Dann werden spezielle Themen vertieft und von den Lehrkräften in die Tat umgesetzt. Das findet nach Bedarf statt, z. B. weil eine Gruppe sich von einem Thema besonders angesprochen gefühlt hat. In der dritten Phase gehen die Trainerinnen und Trainer in die Klasse der Lehrkraft und initiieren eine Unterrichtseinheit, die sie der Kollegin oder dem Kollegen überlassen. So kann man sehen, ob das Konzept verinnerlicht ist.

ZMI:
Wer sind die Trainerinnen und Trainer?
Benati: Die Trainerinnen und Trainer kommen alle aus der Schule. Es sind Lehrkräfte, die für die Trainertätigkeit in dem Umfang freigestellt werden, wie es auch beim Einsatz im Kompetenzteam üblich ist. Wir würden uns freuen, wenn Kolleginnen und Kollegen Interesse an einer Trainertätigkeit hätten. Die Nachfrage nach DemeK ist groß, nicht nur in Köln, sondern in ganz NordrheinWestfalen und auch in anderen Bundesländern, zunehmend auch aus Studienseminaren.

ZMI: Das klingt so, als hätte dieser Ansatz der Weiterqualifizierung einen echten Bedarf getroffen. Weiterhin viel Erfolg!

Das Gespräch führte Dr. Beate Blüggel.