Digitalisierung in HSU-Klassen: Corona-Notstand oder eine nachhaltige Lösung?
von Dr. Nicola Brocca • Artikel im ZMI Magazin 2020, S. 38
Home-Schooling als Chance für den HSU-Unterricht
Binnen weniger Tage hat sich unser Alltag im letzten Frühling radikal verändert. Erstmalig haben die Schulen ihre Türe geschlossen und flächendeckend Online-Unterricht eingeführt. Eine große Herausforderung für Schüler*innen, Familien und Lehrkräfte – für ein Fach wie den herkunftssprachlichen Unterricht (HSU), in dem der Lehrplan freier gestaltbar ist als in anderen Schulfächern, aber auch eine Chance, neue Lehr-Lern-Settings auszuprobieren: Plötzlich war der HSU online verfügbar und es konnte von zu Hause gelernt werden. Vor allem für Familien, die ihre Schulkinder sonst zum Unterricht außerhalb ihrer Stammschule gefahren haben, bedeutete dies eine große Entlastung. „Türkischunterricht oder Fußball?“ Plötzlich stand Türkisch ohne Konkurrenz zur Wahl. „Und wenn ich den Farsi-Unterricht verpasst habe?“ Dann war es durch den digitalen Unterricht mit Lernplänen, digitale Online-Tools zum kooperativen Arbeiten (z. B. Padlet) oder Videoaufnahmen möglich, auch zu einem späteren Zeitpunkt zu lernen. Auch den Lehrkräften boten sich Chancen: Sie verloren keine Zeit mehr auf den Wegen zwischen den teilweise voneinander entfernten Schulen. Online ergab sich für die Lehrkräfte zudem die Möglichkeit, ihre Schüler*innen nach Leistung zu differenzieren, anstatt an einem festen Ort heterogene Gruppen mit unterschiedlichen Materialien zu bedienen. Unterrichtseinheiten, die nur bestimmte Schüler*innen benötigten – beispielsweise zur Alphabetisierung in arabischer Schrift – konnten speziell auch nur diesen Schüler*innen zur Verfügung gestellt werden. Zugleich wurde eine gemeinsame allgemeine Prüfungsvorbereitung auf die Sprachprüfung im 9. oder 10. Schuljahr für Kandidat*innen aus verschiedenen Schulen und Stadtteilen online möglich.
Eine Umfrage zeigt…
Die beschriebenen Chancen für den HSU sind groß, doch die Praxis zeigt, dass auch große Herausforderungen damit verbunden sind. Ein Online-Fragebogen, den 69 von insgesamt 320 Lehrkräften des Regierungsbezirkes Köln Anfang Juli 2020 im Rahmen einer freiwilligen Befragung ausgefüllt haben, belegt, dass die Zahl der Schüler*innen, die sich in den zwei Monaten des Home-Schooling regelmäßig am HSU beteiligt haben, um ca. 40 % gesunken ist. Fast die Hälfte der befragten Lehrkräfte gab an, dass die Schüler*innen und ihre Familien schlechter für sie erreichbar waren als zuvor, obwohl für die Mehrheit der Befragten das Unterrichten gleich viel oder mehr Aufwand gekostet hat.
Die Belastung für die Familien der HSU-Lehrkräfte stieg zudem deutlich an: Für 12 % der Befragten stellte die Vereinbarung von Lehrtätigkeit und Kindererziehung schon im Präsenzunterricht eine Herausforderung dar, im Lock-Down waren es 20 %.
Und während fast 80 % der Befragten angaben, im Präsenzunterricht die Interaktion in der Herkunftssprache zwischen den Schüler*innen zu fördern, sank diese Quote im Home-Schooling-Setting auf 36 % (Grafik 1).
In der Tat verwendeten die Lehrkräfte während des Home-Schooling überwiegend Medien, die die frontale Kommunikation bevorzugen: Am häufigsten erreichten die HSU-Lehrkräfte die Schüler*innen und Ihre Familie per Telefon (72 %) oder per Mail (59 %), also über Medien, die nur einen Kommunikationskanal gleichzeitig ermöglichen. Sie nutzten aber auch häufig Instant-Messaging-Dienstleistungen wie WhatsApp (62 %), in der die Partizipation mehrerer Teilnehmer*innen möglich ist. Auch wenn solche Medien sich für die Erreichbarkeit der Schüler*innen im Home-Schooling als nützlich erwiesen haben, ist ihre Anwendung für die komplette Unterrichtsgestaltung in Bezug auf den Datenschutz bedenklich. Die dafür entwickelten Lernplattformen wie Logineo, die sowohl Interaktion als auch ein sicheres Umfeld nach der Datenschutzgrundverordnung anbieten, sind weniger verbreitet. 16 % der Befragten geben an, sie jemals im Home-Schooling benutzt zu haben. Kaum angewandt wurden Aufgaben-Verwaltungs-Onlinedienste, wie zum Beispiel EtherPad, Simple Groupware, Trello oder Google Docs (4 %). Eine optische Darstellung kann Grafik 2 entnommen werden:
…aber es ist auch sehr gut gelaufen
Für eine bedeutende Minderheit (ca. 20 %) ist der Unterricht besser gelaufen als zuvor. Warum? Diese Lehrkräfte stellten fest, dass ihre technischen Bedingungen zu Hause optimal sind: Sie waren bereits zuvor medienaffin und konnten so rasch auf den digitalen Unterricht umsteigen. Solche Lehrkräfte haben gut mit den Familien der Schüler*innen zusammengearbeitet. Vor allem im Grundschulbereich waren die Eltern wichtige Mediator*innen sowohl für die Sprache als auch für die Bedienung des digitalen Mediums. Auf diese hilfreiche Ressource kann in regulären Unterrichtssituationen nicht zugegriffen werden. So berichten einige Lehrkräfte:
Beispiel 1) „Mit den älteren Schüler*innen konnte ich gut arbeiten. Viele von ihnen haben sogar besser als im Unterricht gearbeitet. Die Grundschüler*innen haben dank der Eltern arbeiten können.“
Beispiel 2) „Man konnte durch Fern-Beschulung neue Perspektiven gewinnen: […] sehr effektive Kooperationen zwischen Lehrer*in, Kindern und Elternteil. Intensive und effiziente Planung, damit man unter einer ganz besonderen Situation das Unterrichtsziel für das 2. Halbjahr erreichen konnte, mit geringster Frustration der Kinder und der Familie […] Lockere und bequemere Atmosphäre ohne zeitlichen und räumlichen Stress für die Kinder. Eine sehr flexible und gezielte Unterrichtsform durch verschiedene Maßnahmen, wie z. B. Sprach- und/oder Video Aufnahme; Bild-Darstellung, schriftliches Feedback, Online-Unterricht in der kleineren Gruppe oder Einzelunterricht für die Kinder, die mehr Unterstützung brauchten. […]“
Wohlbemerkt können die enge Kooperation mit der Familie sowie das Lernen von zuhause Leistungsunterschiede der Schüler*innen auch verstärken, da die Eltern ihre Kinder unterschiedlich gut unterstützenkönnen. Viele Lehrkräfte merkten dies in der Befragung an, wie im folgenden Beispiel 3:
Beispiel 3) „Rückmeldung bzw. bearbeitete Arbeitsblätter kamen immer von den gleichen Kindern. Ich denke, es liegt auch daran, dass zuhause nicht für alle Kinder ein angenehmer Lernort gewesen ist.“
Lehrkräfte, die das Home-Schooling als Chance gesehen haben, sind sich zugleich auch der Herausforderung bewusst und wünschen sich mehr Förderung seitens der Schule in Form von digitaler Beratung oder Fortbildungen und durch die Verbesserung der medialen Ausstattung: „Wir benötigen dringend eine Empfehlung seitens der Schulbehörde (white List), welche Lernplattformen benutzt werden können (Schulvertrag mit den Lernplattformenanbieter), sodass die Datensicherheit […] gewährleistet ist“, schreibt eine der befragten Lehrkräfte.
Ausblick
Lehre und Lernen auf Distanz mit digitalen Medien können im Moment nicht als langfristige Alternative für den Präsenzunterricht gesehen werden, vor allem, weil nicht alle Lehrkräfte gleichermaßen darauf vorbereitet sind. Trotzdem hat das Home-Schooling deutlich gemacht, welche Kompetenzen die Bürger*innen von morgen brauchen und wie wichtig es ist, diese bereits in der Schule fächerübergreifend zu aktivieren. Die Nutzung digitaler Medien sollte nicht nur für einen Methodenwechsel sorgen, sondern der Förderung neuer Lernkompetenzen dienen, die die Gesellschaft 2.0 fordert. Jede Einführung neuer Technologien benötigt eine Trainingsphase, in der die Schüler*innen und die Lehrkraft lernen, damit umzugehen. Das notgedrungene Home-Schooling hat jedoch keine Zeit für eine solche Eingewöhnungsphase gelassen. Es hat aber gezeigt, dass vieles möglich ist, wenn die richtigen Voraussetzungen vorhanden sind: Nur mit strukturierten Lehrkräfteaus- und -fortbildungen und mit der entsprechenden technischen Ausstattung kann ein digitaler HSU flächendeckend gelingen.
Zur Vertiefung:
Brocca, N. (2020) Impact of media in vocabulary learning and teaching-learning settings: an experiment in Italian as heritage language classes. In: Italiano LinguaDue, 2/2020.
Brocca, N. (im Druck) Insegnare italiano secondo l’approccio per task attraverso media digitali. In: Hirzinger-Unterrainer Eva M. Aufgabenorientierung im Italienischunterricht. Ein theoretischer Einblick mit praktischen Beispielen. Narr Francke Attempto Verlag: Tübingen.
Brocca, N. (2017). Learning by Teaching with Videos. Increasing media and language didactical competences along the teacher training chain. Repositorio FOCO, Best Practices in foreign Language Teaching. https://foco.usal.es/fichas/learning-be-teaching-with-videos