Die Schulen der „tulipanobeete“: Bilinguales Lernen an Kölner Grundschulen

Die Schulen der „tulipanobeete“: Bilinguales Lernen an Kölner Grundschulen

Marco Triulzi • Artikel im ZMI Magazin 2018 S. 14

GGS Westerwaldstraße, KGS Vincenz-Statz, KGS Zugweg: Diese drei Grundschulen der Stadt Köln fördern die natürliche Mehrsprachigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler mit Bildungsangeboten in Deutsch und Italienisch. Durch seine besondere Familiengeschichte bringt jedes Kind seine besondere Mehrsprachigkeit mit; manchmal ist neben Italienisch und Deutsch noch Englisch oder Rumänisch oder Türkisch usw. dabei. An den drei Schulen wird diese Mehrsprachigkeit anerkannt, gewürdigt und ausgebaut, um die Kinder zu befähigen, mit der sprachlichen und kulturellen Komplexität der globalisierten Welt kompetenter umzugehen.
Aber diese Förderung darf, nach der Grundschule, nicht einfach abbrechen, vielmehr muss sie nach dem zehnten Lebensjahr der Kinder, also in der Sekundarstufe, unbedingt weitergehen. Die aus der natürlichen Mehrsprachigkeit und dem bilingualen Grundschulunterricht gewonnen Fähigkeiten und Vorteile müssen weiter gepflegt werden, damit sie auch noch später, im Studium und Beruf, ihre Wirkung entfalten können.

Mehrsprachigkeit als Realität
Aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichte oder der ihrer Familien wachsen viele Kinder in einer mehrsprachigen Realität auf. Um diesen Kindern gerecht zu werden, muss das Bildungssystem jene Realität auch widerspiegeln.
Dementsprechend verläuft der Schulalltag, nicht für alle, aber für jeweils einige Klassen der genannten Kölner Grundschulen durchgängig auf Deutsch und Italienisch. Der Buongiorno geht mit dem Guten Morgen Arm in Arm, und das fachliche und sachliche Lernen in den zwei Sprachsystemen Italienisch und Deutsch ist hier ganz normale Praxis. Die Kinder hören und sprechen, lesen und schreiben Italienisch und Deutsch, immer nebeneinander und gleichberechtigt. So erweitern sie fortlaufend ihr Repertoire für die Alltagskommunikation und auch ihre Fähigkeit, Schulaufgaben und -aktivitäten sprachlich effektiv zu bewältigen. Die Lehrkräfte vermitteln die italienische und die deutsche Bildungssprache und die Kinder üben sie ein, mündlich und schriftlich. Beides ist notwendig, um kognitiv-akademische Sprachkompetenzen in einem mehrsprachigen Umfeld auszubauen.
Nicht nur die Eltern der italienischsprachigen Kinder, sondern auch diese selbst wünschen ausdrücklich eine fortgesetzte Förderung ihrer  herkunftssprachlichen Kompetenzen, der mündlichen wie der schriftlichen.
Mariagrazia Clari-Seffen, Italienischlehrerin an der GGS Westerwaldstraße, betont außerdem, dass „die Wertschätzung aller sprachlichen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler“ sowie die Unterstützung bei der Entwicklung ihrer mehrsprachigen und -kulturellen Persönlichkeiten „das höchste Ziel unserer Arbeit“ ist. Tina Minrath, Klassenlehrerin der Pferde-Klasse an derselben Schule, teilt diese Vision und fördert die Begeisterung der Kinder für die eigenen Sprachressourcen. Sie spricht z.B. mit den Schülerinnen und Schülern ihrer Klasse gelegentlich Italienisch und lässt sich, wenn nötig, ihre Sätze von ihnen verbessern. So können Kinder als Experten für ihre Herkunftssprache agieren.
Auch jene Kinder, die Italienisch nicht als Herkunftssprache haben, freuen sich, ihre kommunikativen Horizonte erweitern zu können. Von Seiten der Familien, sagt Frau Minrath, existiere „ein Wunsch nach Mehrsprachigkeit, da solche Kompetenzen auch in der weiterführenden Schule behilflich sein können“.

Transsprachige Kompetenzen
Natürlich wird das gesamtsprachliche Repertoire der Kinder auch in klassischen mündlichen und schriftlichen Unterrichtsaktivitäten eingesetzt. Beide Sprachen werden in unterschiedlichen Lernmomenten getrennt, sind aber immer gleichzeitig in der Klasse präsent. „Wenn die Kinder einen Begriff nicht kennen, versuchen sie diesen mit dem Sprachmaterial zu umschreiben, das sie haben. Manchmal benutzen sie auch die Ressourcen der anderen Sprache und insgesamt unterstützen sich alle Kinder gegenseitig in den zwei Sprachen“, erläutert Frau Minrath. Die explizite Anwendung von Transferstrategien wurde auch im Rahmen einer Diagnostikerhebung zu den Erzählkompetenzen in den Sprachen Italienisch und Deutsch bestätigt, die der Autor dieses Artikels an den drei bilingualen Schulen durchführte. Solche Übertragungen sind kreative linguistische Lösungen, die auf ein gewisses Maß an Sprachbewusstheit hinweisen. Kinder verwenden sie, um neue Bedeutungen auszudrücken. So verwendet eine Schülerin die Partizip-I-Form „lachend“, um das italienische „Gerundium ridendo“ wiederzugeben, weil im Deutschen eine eigene Verbalform Gerundium nicht existiert. Andere benutzen transsprachige Kreationen, um Begriffe zu erklären, wie z.B. „recinto dei fiori“ („Blumenzaun“) oder ingeniöse Mischungen wie „tulipanobeet“ („Tulpenbeet“). Die sprachvergleichende Arbeit ist auch den vielen mehrsprachigen Plakaten zu entnehmen, die die bilingualen Klassenzimmer an den drei Grundschulen schmücken.
Hinzu kommen bei einigen Kindern auch mündliche Kompetenzen in unterschiedlichen Dialekten. Einige Familien sprechen zu Hause z.B. Sizilianisch (meistens in den Varietäten „licatese“ und „barrese“): das ist ihre Herkunftssprache, die sie im Alltag sprechen, und für die Kinder ein zusätzlicher Reichtum in der Entwicklung ihrer mehrkulturellen Identität. „Den Eltern ist aber wichtig, dass sie in der Schule die hochitalienische Bildungssprache lernen“, fügt Frau Clari-Seffen hinzu, denn die Bildungssprache stellt den Schlüssel zum Lernen dar.

Weiter fördern, auch nach der Grundschulzeit

Eine umfassende mehrsprachigkeitsdidaktische Arbeit an den Schulen braucht das Zusammenwirken mit außerschulischen Akteuren. Für Frau Minrath und Frau Clari-Seffen ist allseitige Kooperation wichtig; zuallererst mit den Eltern, aber auch mit Institutionen wie dem ZMI, der Bezirksregierung und der Universität. Beide Frauen wünschen sich außerdem, dass die in den vergangenen Jahren fruchtbare Zusammenarbeit mit dem italienischen Konsulat, nach einer etwas ruhigeren Phase, wieder Fahrt aufnimmt.
Und was ist zu tun, damit die in den bilingualen Grundschulen angebahnten Kompetenzen nicht wieder verkümmern? Die Schulen der Sekundarstufe müssen das Begonnene einfach fortsetzen. Sie müssen die in den Schulen der Primarstufe entwickelten Fähigkeiten gut kennen und sie in ihrer eigenen Schularbeit aktiv weiterentwickeln. „Mehrsprachigkeit soll mehr in die weiterführenden Schulen mitaufgenommen werden. Es gibt zu wenig Schulen, die diese Früchte weitertragen und die auch nur den Herkunftssprachunterricht anbieten“, bemängeln die Lehrerinnen der Westerwaldstraße. Nach der endgültigen Schließung des Liceo Italo Svevo (Italienisches Gymnasium) im August 2018 ist das Angebot an zweisprachigem Unterricht in Italienisch und Deutsch in der Sekundarstufe noch weiter zurückgegangen.
Was passiert jetzt mit der wertvollen Arbeit, die die Grundschulen geleistet haben? „Die italienischsprachigen Kinder werden in der Familie weiterhin Italienisch sprechen, aber sie benutzen es nicht für bildungssprachliche Zwecke. Die Sprache wird eher im Alltag benutzt und nicht zum Lernen“, erklärt Frau Clari-Seffen. „Die nicht-italienischsprachigen Kinder haben dann noch weniger Möglichkeiten, ihre Mehrsprachigkeit weiter auszubauen“, fügt Frau Minrath hinzu. Ohne ausreichende strukturierte und institutionalisierte Bildungsmaßnahmen ist es den Kindern, ihren Familien und externen Akteuren überlassen, die Sprachkompetenzen im Italienischen zu erweitern.
Die Kinder selbst wollen das: „Italienisch gibt’s nicht in der nächsten Schule, es ist schade, ich werde es zu Hause lernen“, „Hausaufgaben werde ich mit meinen Eltern auf Italienisch machen“, „Ich will mit Italienisch weitermachen, ich spreche diese Sprache, ich möchte noch mehr Italienisch lernen“, so die Kinder der drei Grundschulen. Obwohl das Risiko besteht, dass viele der in der Primarstufe angeeigneten Kompetenzen verloren gehen, bleiben doch solide Grundlagen erhalten, z. B. was die Sprachbewusstheit der Schülerinnen und Schüler angeht: „Die Englischlehrkräfte sagen, mit den zweisprachigen Kindern sei der Unterricht anders, weil sie ein höheres Sprachwissen haben“, berichtet Frau Minrath.
Der Gewinn durch die bilinguale Grundschulzeit ist also eindeutig: Wenn er am Leben bleiben und nachhaltig werden soll, müssen die weiterführenden Schulen die Bilingualität auf irgendeinem Weg fortsetzen.