Sprachsensibler Fachunterricht in der Lehrerausbildung
von Sabine Stephany • Artikel im ZMI Magazin 2010, S. 20
Eine Zweitsprache lernen im Fachunterricht? Geht das? Ja – eigentlich geht es gar nicht anders! Und so lernen See-Eun, Sonam, Salman, Marlon, David, Dilara, Zichong und Desiree, Schülerinnen und Schüler verschiedener Kölner Schulen, während der Sommerferien von Michael und Katharina, Lehramtsstudierenden der Universität zu Köln, Mathematik – und gleichzeitig Deutsch. Es handelt sich dabei nicht um einen Nachhilfekurs in Mathematik. Es ist auch kein Deutsch als Zweitsprache-Intensivkurs. Es geht weit darüber hinaus und nennt sich „sprachsensibler Mathematikunterricht“.
Warum ist es so wichtig, sich auch im Fachunterricht mit Sprache auseinanderzusetzen? Die Antwort liegt eigentlich auf der Hand. Aus dem Schulalltag wissen wir – bestätigt durch eine Reihe von Studien der letzten Jahre – dass Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund Bildungsbenachteiligungen erfahren und oftmals keinen oder keinen höherwertigen Schulabschluss erreichen. Dabei verfügen viele Schülerinnen und Schüler, zumindest die in Deutschland geborenen Schüler mit Migrationsgeschichte, häufig über hinreichende kommunikative Fähigkeiten in ihrer Zweitsprache Deutsch. Im Alltag kommen sie meist ohne Schwierigkeiten klar. Betrachtet Kennen und Nutzen von Fachwörtern. Die beiden Studierenden Michael und Katharina haben sich ein Semester lang im Rahmen eines Seminars mit Fachsprache und ihrer Vermittlung bei Schülerinnen und Schülern, die Deutsch als Zweitsprache sprechen, beschäftigt. Sie haben Mathematiklehrbücher und mathematische Aufgabenstellungen auf Komposita, Substantivierungen, Ableitungen, Fremdwörter aus man jedoch die sprachlichen Anforderungen, denen Schülerinnen und Schüler in der Schule gegenüberstehen, wird schnell deutlich, dass hier vor allem konzeptionell-schriftliche Fähigkeiten gefordert werden, die sich deutlich von der mündlichen Alltagssprache unterscheiden. Erfolg in der Schule setzt aber das Beherrschen der konzeptionell-schriftlichen Bildungssprache und damit auch das Beherrschen schulischer Fachsprachen voraus. Die Folge dieser Diskrepanz zwischen vorhandenen alltagssprachlichen Kompetenzen und der geforderten Bildungs-/Fachsprache der Schule sind häufig Lernrückstände in allen Fächern, da Inhalte nicht oder nur teilweise rezipiert werden und geforderte Texte nicht angemessen produziert werden können.
Das Beherrschen von Bildungs- und Fachsprache meint dabei deutlich mehr als nur das dem Lateinischen oder Griechischen, inhaltliche und sprachliche Dichte, wie komplexe Nominalphrasen, Passiv oder Passiversatzkonstruktionen, logische Beziehungen, Satzverknüpfungen, Formeln und nicht-lineare Texte hin untersucht, um nur einige zu nennen. Schülerinnen und Schüler müssen schließlich mit all dem umgehen können. Erschwerend kommt für sie hinzu, dass jedes Fach seine eigene charakteristische Fachsprache hat: Die mathematische Fachsprache ist beispielsweise anders als die Fachsprache der Biologie.
Wie wir aus der Zweitspracherwerbsforschung wissen, wird Bildungssprache nicht wie die Alltagssprache ungesteuert erworben, sondern ihr Erwerb bedarf der unterrichtlichen Steuerung, d. h., sie muss bewusst vermittelt und schrittweise aufgebaut werden. Die Studierenden Michael und Katharina machen genau das während der zweiwöchigen Kurse „Sprachsensibler Mathematikunterricht“, die im Rahmen der vom Institut für Deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln (in Zusammenarbeit mit der RAA und dem ZMI) durchgeführten Ferienschule in diesem Sommer zum zweiten Mal stattfanden. Sie haben jede Unterrichtseinheit auf sprachliche Anforderungen und Schwierigkeiten hin analysiert. Darauf basierend haben sie den Unterricht nicht nur aus fachlicher sondern auch aus sprachlicher Sicht geplant, wobei sie die sprachlichen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler einbezogen haben. Statt die Sprache zu vereinfachen, haben sie sie angereichert, sind dabei vom Konkreten zum Abstrakten fortgeschritten. Sie haben mit See-Eun und den anderen Schülerinnen und Schülern über Sprache gesprochen, um deren Sprachbewusstheit zu fördern. Auch ihre Unterrichtsinteraktion haben sie verändert: Sie lassen Sonam und Salman und den anderen mehr Zeit zum Planen ihrer Äußerungen, sie warten auch mal 20 Sekunden auf eine Antwort. Auch der Redeanteil ihrer Schülerinnen und Schüler ist deutlich höher, als man es sonst aus den Klassenzimmern kennt.
Für Marlon, David und die anderen Schülerinnen und Schüler können die Kurse in der Ferienschule nur ein Anfang sein, denn zwei, vier oder maximal sechs Wochen sind kurz. Der Erwerb von Bildungssprache ist jedoch ein langwieriger Prozess. Sie zu vermitteln, kann nicht (nur) Aufgabe des Deutschunterrichts oder gar des DaZ-Unterrichts sein. Im Gegenteil: Alle Fächer haben, festgeschrieben in den Bildungsstandards, den Auftrag zur Vermittlung der jeweiligen Fachsprache. Zudem werden Fachinhalte nur durch Fachsprache adäquat wiedergegeben. Daher muss auch und vor allem der Fachunterricht dazu genutzt werden, den Erwerb der Fach- und Bildungssprache in der Zweitsprache zu unterstützen. Das Ziel muss es sein, Fachkompetenz und fachsprachliche Kompetenz gemeinsam im jeweiligen Fachunterricht zu vermitteln, so dass allen Schülerinnen und Schülern – nicht nur den monolingual deutschen – ein Zugang zur Bildungssprache ermöglicht wird.
Studierenden, Lehrerinnen und Lehrern des Faches Deutsch ist noch am ehesten bewusst, dass sie konzeptionell-schriftsprachliche Kompetenzen von Zweitsprachlernern fördern müssen. Während der universitären Ausbildung wird dies in Vorlesungen und Seminaren vermittelt. Doch auch Studierende anderer Fachrichtungen und Fachlehrerinnen und Fachlehrer, die kein Deutsch unterrichten, müssen dafür qualifiziert werden, sprachliche Anforderungen und Schwierigkeiten in ihren eigenen Fachgebieten zu erkennen und eine Sensibilität dafür entwickeln, dass Lernschwierigkeiten von Schülerinnen und Schülern häufig auf sprachliche Schwierigkeiten zurückzuführen sind. Für sie ist es wichtig, ein Instrument an die Hand zu bekommen, das hilft, die vorhandenen sprachlichen Hürden abzubauen, ohne dabei Sprache und Fachinhalte zu vereinfachen. Wie könnte aber ein solches Modell, das eine Verbindung von sprachlichem und fachlichem Lernen herstellt, aussehen? Was ist es, das den Unterricht von Michael und Katharina von einem traditionellen Mathematikoder Deutschunterricht unterscheidet?
Hier lohnt sich ein Blick in den englischen Sprachraum. In den USA und Australien, die sich ähnlichen Herausforderungen gegenüber sehen, wurden Modelle entwickelt, die es ermöglichen Fachunterricht „sprachsensibel“ zu gestalten.
In den USA entwickelten MaryEllen Vogt, Jana Echevarria und Deborah J. Short das „Sheltered Instruction Observation Protocol“, das SIOPModell. Dieses Modell zur Unterrichtsplanung besteht aus 30 Merkmalen, die zu acht Komponenten zusammengefasst sind, beispielsweise Unterrichtsplanung, Aktivierung von Vorwissen oder Interaktion. Es wird genutzt, um Lehrerinnen und Lehrern ein wissenschaftlich fundiertes, durchstrukturiertes und praktikables Modell an die Hand zu geben, mit dem sie Zweitsprachlernern des Englischen helfen können im Fachunterricht zu partizipieren und ihre Fachsprachkompetenz zu erweitern.
In Australien entwickelte Pauline Gibbons den Ansatz des Scaffolding (engl. „Baugerüst“), bei dem die Sprachkompetenz von Schülerinnen und Schülern systematisch aufund ausgebaut wird. Ein zentraler Punkt auch hier ist, dass dies nicht isoliert geschieht sondern innerhalb des Fachunterrichts durch die Fachlehrerinnen und -lehrer. Die Schülerinnen und Schüler nähern sich dem Unterrichtsgegenstand über ihre Alltagssprache und über konkrete Anschauung an, die ihre eigenen Erfahrungen und Vorkenntnisse einbezieht. Erst im Verlauf der Unterrichtseinheit erfolgt dann eine Konzentration auf neue sprachliche Mittel, Fachbegriffe und Wendungen, mit deren Hilfe die Schülerinnen und Schüler eigene schriftliche Produkte herstellen und Fachtexte verstehen lernen.
Michael und Katharina haben sich mit dem Ansatz des Scaffolding auseinandergesetzt und diese Prinzipien erprobt, auch wenn man im Unterrichtsgeschehen nicht auf Anhieb auf alles achten kann. Aber nicht nur Dilara, Desiree und die anderen haben viel gelernt – Mathematik und Deutsch. Michael und Katharina sind durch diese unterrichtliche Erfahrung dafür sensibilisiert, welche sprachlichen Anforderungen in Mathematikaufgaben stecken und wie man die daraus entstehenden Schwierigkeiten und Probleme überwinden kann: nicht durch Vereinfachung von Sprache, sondern durch systematischen Aufbau von Sprachkompetenzen.